Was vor dem Rennen wirklich passiert ist

Wir rekonstruieren, was vor dem gestrigen Grand Prix hinter den Kulissen passiert ist und wer das Rennen letztendlich verhindert hat

(Motorsport-Total.com) - Als Michelin am Samstagabend in einen Schriftverkehr mit der FIA eintrat und um ein Entgegenkommen bat, um doch am Rennen in Indianapolis teilnehmen zu können, glaubte noch kaum ein Formel-1-Insider daran, dass das Undenkbare tatsächlich passieren würde: ein Grand Prix mit nur sechs Autos am Start. Obwohl hinter den Kulissen bis zum letzten Augenblick verbissen verhandelt wurde, konnten sich die Verantwortlichen nicht auf eine Lösung einigen. Wir rekonstruieren, wie es überhaupt zur Farce von Indianapolis kommen konnte.

Titel-Bild zur News: Meeting vor dem Rennen

Bis wenige Minuten vor dem Start wurde hinter den Kulissen eifrig verhandelt

Michelin legte am Sonntagmorgen nach eingehenden Untersuchungen einiger im Training verwendeter Reifen, die über Nacht in der Fabrik im französischen Clermont-Ferrand und in einer weiteren Forschungseinrichtung und South Carolina durchgeführt worden waren, den sieben Partnerteams nahe, mit den für das Wochenende vorliegenden Reifen den Grand Prix der USA nicht zu bestreiten. Da es auch um rechtliche Fragen wie beispielsweise der Produkthaftung ging, war damit klar, dass sich niemand Michelin widersetzen und unter normalen Bedingungen an den Start gehen würde.#w1#

Schikane als Tempobremse vor der Steilkurve

Also setzten sich die Michelin-Teams an einen Tisch und tüftelten folgenden Vorschlag aus: Unmittelbar vor der Steilkurve sollte eine improvisierte Schikane errichtet werden - was in der Formel 1 in Barcelona 1994 übrigens schon einmal passiert ist -, um die Geschwindigkeiten und damit auch die Belastungen für den linken Hinterreifen zu drosseln. Naturgemäß sperrten sich aber Bridgestone und Ferrari dieser Idee - nach dem Motto: Warum sollen wir für etwas büßen, was unser schärfster Konkurrent zu verantworten hat?

Folglich waren die Michelin-Teams gezwungen, mit ihrem Kompromiss einen Schritt weiter zu gehen. Noch vor Mittag lag das Angebot auf dem Tisch, ein Rennen mit einer Schikane zu bestreiten, aber ohne WM-Punkte für Michelin-Autos. Das hätte bedeutet, dass die Zuschauer immerhin ein Rennen gesehen hätten, wenngleich die Bridgestone-Fahrzeuge automatisch auf den ersten sechs Plätzen gewertet worden wären. Im Interesse des Sports willigten auch Jordan-Toyota und Minardi-Cosworth ein, nicht aber Ferrari.

Angesichts der Krisensituation, dass es zu Übertragungsbeginn der meisten TV-Stationen 90 Minuten vor dem Start noch immer keine definitive Entscheidung gab, wurde ein Meeting mit Bernie Ecclestone, Vertretern der Reifenhersteller und allen Teamchefs einberufen, dem nur Ferrari fern blieb. Die Italiener vertraten die Einstellung, dass sie mit der Angelegenheit nichts zu tun hätten, und verwiesen auf die FIA, die für die Formel 1 zuständige Sportbehörde.

Mosley und die Michelin-Teams wurden sich nicht einig

Weil die Situation einer Änderung der Streckenführung im Reglement nicht verankert ist, ließ FIA-Präsident Max Mosley einen Start mit einer improvisierten Schikane nicht zu. Stattdessen forderte er die Michelin-Teams auf, entweder jede Runde durch die Boxengasse zu fahren oder in der Steilkurve aus Sicherheitsgründen das Tempo entsprechend anzupassen, was das Rennen freilich noch mehr zu einer Farce hätte werden lassen, als es schlussendlich ohnehin der Fall gewesen ist. Naturgemäß blieb den Michelin-Teams daraufhin keine andere Wahl, als ihre Autos zurückzuziehen.

Hinter verschlossenen Türen unterhielt sich Mosley via Telefon zu dem Zeitpunkt offenbar mit mehreren Teamchefs - laut Überlieferungen versuchte vor allem Renault-Boss Flavio Briatore, den FIA-Präsidenten von der Schikanen-Lösung zu überzeugen. Auch Mercedes nahm laut Sportchef Norbert Haug in den Diskussionen eine führende Position ein, doch schlussendlich scheiterte alles daran, dass die FIA kein Machtwort aussprach und nicht darauf bestand, eine Schikane einzubauen. Dadurch sahen sich die Michelin-Teams gezwungen, auf Empfehlung Michelins hin nicht am Rennen teilzunehmen.

Hoffnung wurde bis zuletzt nicht aufgegeben

Wenige Minuten nach dem Start wollte noch immer niemand wirklich an die Katastrophe glauben, weshalb die 14 betroffenen Autos zumindest auf den Grid geschickt wurden. Als die Aufwärmrunde begann, herrschte aber bereits Klarheit: "Komm an die Box", funkte beispielsweise der Renault-Kommandostand Alonso und Fisichella an. Einige Piloten meldeten noch am Funk, dass sie gerne starten würden, fügten sich aber den Weisungen ihrer Teams und bogen geschlossen an die Boxengasse ab. Nach zwei gefahrenen Runden im Rennen war dann der Spuk endgültig vorbei, als die ersten Michelin-Piloten in den Garagen kopfschüttelnd aus ihren Cockpits kletterten.

Interessantes Detail am Rande: Ursprünglich hatten sich Jordan-Toyota und Minardi-Cosworth mit den Michelin-Teams solidarisch erklärt und angekündigt, im Falle eines Verzichts auf die Schikane ebenfalls nicht am Rennen teilnehmen zu wollen. Bei Jordan-Toyota witterte man dann jedoch die Chance auf eine Vorentscheidung in der Konstrukteurs-WM, was den Kampf um Platz neun angeht, und zog den Boykott doch wieder zurück. Dadurch musste schließlich auch Minardi-Cosworth klein beigeben, um ebenfalls billige Punkte sammeln zu können, und an den Start gehen...

Dass die Schuld von vielen Zuschauern vor Ort Ferrari in die Schuhe geschoben wurde, ist freilich nicht korrekt, denn die Italiener haben gegen kein Reglement verstoßen. Vielmehr hat es sich Michelin selbst zuzuschreiben, denn wenn man sich in Clermont-Ferrand ordentlich vorbereitet hätte, wäre es nie zum gestrigen Eklat gekommen. Allerdings vertreten auch viele Insider die Ansicht, dass die FIA im Interesse des Sports ungeachtet aller politischen Hintergründe in Form der Schikane das Rennen hätte retten müssen.