• 27.02.2016 14:00

  • von Dieter Rencken & Dominik Sharaf

Formel 1 2016 durchleuchtet: Der Schnellste im ganzen Land?

Die Hackordnung in Australien prognostiziert: Mercedes vor Ferrari, viel Trubel im Mittelfeld und McLaren schwimmt gegen einen Hinterbänkler an

(Motorsport-Total.com) - Nach den ersten Testfahrten der Saisonvorbereitung stellt sich die Formel 1 jedes Jahr die gleiche Frage: Wer ist der Schnellste im ganzen Land? (Was unser Experte Marc Surer meint!) Im Nachgang des Auftakts 2016 - mit vier Tagen Fahrbetrieb in Barcelona - scheint die Antwort schnell gefunden: Mercedes in einer anderen Galaxie, Ferrari mit Chancen auf sporadische Siege und der Rest weit von Grand-Prix-Erfolgen entfernt, aber in einen engen Mittelfeldkampf verwickelt. Wir fragen uns: Wirklich?

Titel-Bild zur News: Nico Rosberg

Mercedes: In der Formel 1 der alte und der neue Platzhirsch? Zoom

Die Leistung der Silberpfeile ist nur bedingt einzuschätzen. Lewis Hamilton sowie Nico Rosberg rückten nur auf Pirellis Medium-Mischung aus, während die Konkurrenz weichere Pneus zückte. Besorgniserregend aus Sicht von Sebastian Vettel und Co.: Der W07 hatte keinen schwerwiegenden technischen Defekt zu verzeichnen (die technischen Kniffe des W07 analysiert!). "Die Robustheit dieses Autos ist beeindruckend", staunte selbst der Champion, "es fährt und fährt und fährt". Die neue Zuverlässigkeit bei Silber kommt nicht von ungefähr.

In der Mercedes-Fabrik in Brackley und allen voran in der Motorenabteilung in Brixworth wurde mit Nachdruck daran gearbeitet, die Defekthexe zu vertreiben. Es bestand in Sachen Leistung weit weniger Luft nach oben als in Sachen Zuverlässigkeit. Gepaart mit der S-Schacht-Nase "Bruce" (hier genau unter die Lupe genommen!) könnte das Werksteam ein unschlagbares Paket haben. Rosberg ist dennoch vorsichtig: "Ich sage jetzt nicht, dass wir die Schnellsten sind", so der Deutsche, "aber wir haben beeindruckende Sachen am Auto."

Zeiten auf Medium zeigen: Ferrari nicht so weit zurück

Die Kontrahenten der Toto-Wolff-Truppe lehnen sich deutlich weiter aus dem Fenster: McLaren-Pilot Fernando Alonso ist der Meinung, dass sie ein weiteres Jahr dominieren würde. Felipe Massa sagt: "Der Mercedes ist schnell, rutscht weder vorne noch hinten, die Räder blockieren nicht beim Bremsen. Ich sehe keine Schwächen." Dem ist entgegenzuhalten, dass der Circuit de Catalunya eine Strecke ist, die den Silberpfeilen in den vergangenen Jahren entgegenkam. Schwächen offenbarten sie auf langsameren Bahnen.

Im Lager des mutmaßlichen Hauptkonkurrenten zeigen sich die Protagonisten unbeeindruckt. Zwar räumt Sebastian Vettel nach mehreren technischen Defekten, die allen voran Kimi Räikkönen Zeit auf der Strecke kosteten, ein, noch nicht auf Mercedes-Niveau zu fahren. Er meint aber auch über den Ferrari-Start: "Da sind wir noch nicht, aber das ist jetzt kein Grund zur Panik. Im Gegenteil." Ähnlich schätzt der Stallgefährte die Lage ein: "Warum sollte ich mir Sorgen machen?", fragt sich Räikkönen und fügt trotzig an: "Andere machen ihr Ding und wir ziehen unseren eigenen Stiefel durch."


Fotostrecke: Formel-1-Autos 2016 im Vorgänger-Check

Der Knackpunkt bei der Einschätzung des Ferrari-Rückstandes ist der Unterschied, den die Reifen machen. Ein Blick auf die Bestzeiten mit den unterschiedlichen Mischungen zeigt: Rosberg war auf Medium nur rund eine Zehntelsekunde schneller als Vettel, Hamilton sogar fast eine halbe Sekunde langsamer (weitere Statistiken in unserem Testcenter!). Ohne Kenntnis der Spritmenge, der freigegebenen Drehzahl und weiterer Faktoren hinkt der Vergleich, ist aber derzeit der einzige Anhaltspunkt im Vergleich der Topfavoriten Silber und Rot.

"Warum sollte ich mir Sorgen machen?" Kimi Räikkönen

Silber und Rot dominant: Konkurrenz schreibt Siege schon ab

Er ermöglicht nur die Schlussfolgerung, dass Mercedes im Rennen mit Ferrari auf Augenhöhe sein könnte, sagt aber wenig über das Qualifying aus. "Allzu viel lässt sich nicht schlussfolgern. Die Teams haben an ihren Autos ganz verschiedene Sachen probiert", warnt Pirelli-Sportchef Paul Hembery.

Das Tempo auf einer schnellen Runde war 2015 ein Ferrari-Schwachpunkt - erst in der zweiten und letzten Testwoche in Barcelona, die die Formel 1 ab dem kommenden Dienstag unter die Räder nimmt, könnte sich zeigen, was sich in dieser Hinsicht getan hat - wenn auch Mercedes Ultrasoft zückt. Nico Rosberg warnt schon mal den gesamten Zirkus: "Wir haben noch ein Ass im Ärmel."

Trotz mutiger Ansagen im Winter (etwa von Technikchef Pat Symonds) scheint das Verfolgerfeld nicht an die beiden großen Werksteams heranzukommen. Bei Williams - bisher dritte Kraft - ist die Euphorie nach durchschnittlichen Resultaten in Spanien verflogen: "Nimmt man Mercedes und Ferrari raus, dann wird es ein großer Kampf", beschränkt sich Massa im Interview mit 'Globo' auf die Komparsenrolle und will gegen die übrige zweite Garde antreten. Er orakelt: "Ich sehe uns im Duell mit Red Bull und im Duell mit Force India."


Fotos: Test in Barcelona


Hat Force India plötzlich Williams und Red Bull überholt?

Da Ähnliches Ende 2015 zu beobachten war, würde Williams auf der Stelle traben - was das konservative Design des FW38 nahelegt (bei uns in der ausführlichen Analyse!). Daniil Kwjat, der sich mit Red Bull weiter mit Problemen plagt, die der in TAG Heuer umbenannte Renault-Antrieb verursacht, sieht die Sache ähnlich: "Ich habe den Eindruck, dass sich über den Winter nicht viel an der Hackordnung verändert hat", so der Russe. "Wenn, hat Mercedes den Vorsprung weiter ausgebaut", fügt Williams-Technikchef Pat Symonds an.

Williams und Red Bull sollten vor Force India gewarnt sein: Zwar relativiert Nico Hülkenberg den Wert seiner Tagesbestzeit am Mittwoch selbst ("Ich muss zugeben, mehr an die Leistungsgrenze gegangen zu sein als die Konkurrenz"), jedoch könnte die Vijay-Mallya-Truppe mit innovativem Nasendesign einen Schritt nach vorne unternommen haben. Dem Deutschen gelang die schnellste Runde auf Supersoft, obwohl auch Ferrari und Red Bull mit diesem Pneu auf die Bahn gingen. Der Teamboss ist zuversichtlich: Er will "die großen Namen herausfordern", Hülkenberg das erste Podium.

Mercedes, Ferrari, Force India, Williams und Red Bull: Die Punkteränge scheinen bezogen, doch im Dunstkreis der Top 10 befinden sich noch drei "Dark Horses". Die Überraschungskandidaten heißen Toro Rosso, Renault und Haas. Das Red-Bull-Juniorteam hat dank eines Wechsel von Renault- zu Ferrari-Triebwerken in Sachen Zuverlässigkeit enorm profitiert, weitere Teile kommen noch an den STR11. Dass Christian Horners Befürchtung sich bewahrheitet und das Schwesterteam die A-Mannschaft überholt, steht indes aber nicht zur Debatte - es sei denn, der RB12 raucht ab wie sein Vorgänger.


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Was gegen Toro Rosso spricht: Haas und Sauber starten mit einer aktuellen Version des Ferrari-Antriebs, was laut Max Verstappen "ein Vorteil" ist. Die US-Amerikaner beeindruckten: "Ich muss sagen, dass Haas eine Überraschung ist", stellt Valtteri Bottas im Gespräch mit 'MTV' fest und stimmt mit Sauber-Pilot Felipe Nasr überein: "Niemand hat geschlafen. Eines weiß ich über die Formel 1: Dinge können sich schnell ändern - in sehr kurzer Zeit. Wenn du die richtigen Leute und das Geld hast, kannst du das Auto von einem Wochenende auf das andere schneller machen."

Der Brasilianer selbst will mit den Schweizern im Mittelfeld mitmischen, muss jedoch befürchten, dass seinem eine weitere neue Kraft in Suppe spuckt: Ihrer Integrationsprobleme bei dem Antrieb scheint die neue Renault-Werkstruppe ledig zu sein. An Tempo mangelt es laut Kevin Magnussen trotzdem: "Wir haben sogar versucht, das Auto kaputtzumachen, aber es ging nicht kaputt", sagt der Däne, "aber wir wissen, dass wir hinten sind." Wie groß der Rückstand genau ist, muss sich zeigen.


Fotostrecke: Alle Formel-1-Autos 2016: erste Streckenbilder

Sauber und Renault im Nirgendwo - McLaren schon verschollen?

McLaren scheint hingegen nicht in der Position, über Rundenzeiten diskutieren zu können. Das ehemalige Vorzeigeteam hat mit dem Honda-Hybriden im Heck zu kämpfen und fuhr weniger Kilometer als Neuling Haas - nur Dauerschlusslicht Manor kam in den vier Tagen von Barcelona auf noch weniger Laufleistung (die Kilometerzahlen ausführlich analysiert!). "Wenn wir nach Australien aufbrechen, haben wir hohe Ziele. Ich bin nicht dafür da, durch die Welt zu fliegen, ins Auto zu springen und ein bisschen Spaß zu haben", raunt Fernando Alonso.

Fernando Alonso

Schon wieder eine Gurke aus Woking? McLaren droht die nächste Pleite Zoom

"Ich bin hier, weil ich gewinnen will", zeigt sich der Spanier kämpferisch, weiß aber auch: "Für uns werden Siege nicht einfach." McLaren erklärt den Saisonstart zum Probelauf, will ab dem Spanien-Grand-Prix im März das bestmögliche Auto zur Verfügung haben - wie gut der MP4-31 dann aber ist, steht in den Sternen. Bis dahin droht Konkurrenz von Manor, wo Pascal Wehrlein mehr als der designierte Bruchpilot Rio Haryanto für Aufsehen sorgte. Das Team hat den Rückstand auf den Rest des Feldes dank Mercedes-Power offenbar verkürzt und könnte McLaren bis auf die Knochen blamieren.