Das war 2008: Toro Rosso

Analyse: Was die Grundlage für das Wunder von Monza war und warum auch Gerhard Berger das Projekt Bourdais als gescheitert betrachtet

(Motorsport-Total.com) - Viele trauern den "goldenen Jahren" der Formel 1 nach, dabei war die Saison 2008 so spannend wie kaum eine andere zuvor. Speziell das packende Herzschlagfinale in Brasilien ging in die Grand-Prix-Geschichte ein. 'Motorsport-Total.com' rollt die zurückliegenden Ereignisse in Form einer Artikelserie noch einmal auf. Den Anfang machen die elf Teams, dann folgen die fünf Deutschen und zum Abschluss am 1. Januar Weltmeister Lewis Hamilton. Heute: Toro Rosso.

Titel-Bild zur News: Sebastian Vettel

Sieg in Monza: Sebastian Vettel ist für unsere Leser der Fahrer des Jahres 2008

Die Formel 1 ist ein schnelllebiges Business, in dem oftmals nur der letzte Eindruck hängen bleibt und weiter Zurückliegendes vergessen wird. Toro Rosso wurde in Anbetracht des sensationellen letzten Saisondrittels von den 'Motorsport-Total.com'-Lesern zum Team des Jahres 2008 gewählt, Sebastian Vettel zum Fahrer des Jahres. Dabei hatte das Grand-Prix-Jahr für die Kombination mit einer mittleren Katastrophe begonnen.#w1#

Schon fast vergessen: Miserabler Saisonstart

Im Gegensatz zum Red-Bull-A-Team startete Toro Rosso mit dem alten STR-02 in die Saison, mit einer für die Ferrari-Motoren adaptierten Version des RB3 von 2007. Vettel und sein aus den USA nach Europa zurückgeholter Teamkollege Sébastien Bourdais hatten damit keine realistische Chance auf Spitzenplätze, auch wenn Bourdais beim Auftaktrennen in Australien dank des Safety-Cars an vierter Stelle lag, ehe er kurz vor Schluss ausschied und nur als Siebenter gewertet wurde.

Ansonsten waren die Auftritte bis zur Premiere des neuen STR-03 in Monaco mau; Vettel schied viermal hintereinander aus: Kollision mit Jenson Button am Start in Australien, Hydraulikdefekt in Malaysia, Kollision auch in der ersten Runde in Bahrain, Kollision mit Adrian Sutil drei Wochen später in Spanien, auf die ein verbaler Schlagabtausch zwischen den beiden Landsleuten folgte. Das ergab in Summe nur 39 Runden in den ersten vier Rennen.

Sebastian Vettel

K.O. in Bahrain: Am Saisonbeginn schied Sebastian Vettel viermal en suite aus Zoom

Erst in der Türkei sah der junge Deutsche trotz eines Reifenschadens und eines Problems beim Nachtanken erstmals die Zielflagge - als 17. und Letzter im letzten Rennen mit dem STR-02. Das gesamte Team war heilfroh, als das Auto endlich ins Museum geschoben werden konnte, nachdem sich seine Ablöse aufgrund eines Engpasses an Ersatzteilen und wegen eines Testunfalls von Bourdais in Barcelona mehrfach verzögert hatte.

Wende mit der Einführung des STR-03

"Das alte Auto war wohl wirklich sehr schwierig. Entsprechend schlecht waren sie und entsprechend mit dem Messer zwischen den Zähnen wollten sie dieses Handicap gutmachen", analysiert unser Experte Marc Surer den verpatzten Saisonstart des gemeinsamen Teams von Red Bull und Gerhard Berger. Mit dem STR-02 wurden in fünf Rennen nur zwei Punkte geholt. Der STR-03 schaffte gleich bei seiner Premiere in Monaco deren vier.

"In den ersten Rennen sind die Punkte am einfachsten zu holen. Wenn sie da schon das neue Auto gehabt hätten, hätten sie sicher mehr Punkte geholt", so Surer. "Ich glaube aber nicht, dass sie weiter nach vorne gekommen wären, denn irgendwann stehst du als kleines Team an. Dann brauchst du Ingenieure, dann brauchst du Know-how und du musst weiterentwickeln, aber das könnten sie nicht. Sie haben das optimal umgesetzt, was sie bekommen haben."

Sébastien Bourdais

Sébastien Bourdais feierte in Australien einen gelungenen Formel-1-Einstand Zoom

Was in Zahlen so aussah: 37 Punkte aus den nächsten 13 Rennen, nach der Sommerpause immer mit zumindest einem Auto in den Top 10 der Startaufstellung, am Saisonende sogar dreimal hintereinander mit beiden. Je länger das Jahr dauerte, desto mehr mischte Toro Rosso neben BMW und Renault im Kampf um die dritte Kraft mit. Vettel landete in der Punktetabelle der zweiten Saisonhälfte auf Platz vier - vor Heikki Kovalainen, Robert Kubica, Kimi Räikkönen und Nick Heidfeld!

Lob für die Performance des Teams

"Sie haben aus ihren Mitteln das Optimum rausgeholt", schlussfolgert unser zweiter Formel-1-Experte Sven Heidfeld aus diesen beeindruckenden Zahlenspielen. "Man muss aber auch ehrlich sagen, dass sich nicht einmal ein Sebastian Vettel in Szene setzen hätte können, wenn sie mit dem alten Auto vom Saisonbeginn weitergefahren wären. Das neue Auto haben sie spät bekommen, aber dann hat es funktioniert."

Ab dem Grand Prix von Europa in Valencia waren Vettel und Toro Rosso feste Größen im vorderen Drittel des Feldes. Dann kam das Wunder von Monza: Vettel und Bourdais nutzten bei wechselhaftem Wetter im Qualifying die Gunst der Stunde und sicherten sich die Startpositionen eins und vier - und am Sonntag feierte der Polesetter mit dem Speed und der Coolness eines Champions den ersten deutschen Grand-Prix-Sieg seit Michael Schumacher in China 2006!

Sebastian Vettel

Das Wunder von Monza: Sebastian Vettel deklassiert im Regen die Weltspitze Zoom

Gänsehautatmosphäre im Königlichen Park an der Traditionsrennstrecke: Vettel schenkte nicht nur sich selbst den ersten Sieg in der Formel 1, sondern auch seinem Boss Berger den ersten als Teameigentümer - fast auf den Tag genau 20 Jahre nach Bergers unvergessenem Sieg für Ferrari auf der gleichen Strecke. Ebenfalls interessant: Bergers Renningenieur war damals ein gewisser Giorgio Ascanelli, inzwischen Technischer Direktor bei Toro Rosso.

Der Junge von nebenan

Nach Monza sammelte Vettel mit einer spielerischen Selbstverständlichkeit einen Punkt um den anderen und verbesserte sich damit in der WM-Wertung noch auf den sensationellen achten Platz. Dabei eroberte er die Herzen der deutschen Formel-1-Fans im Sturm, denn im Gegensatz zu vielen anderen Supertalenten tritt der Heppenheimer in der Öffentlichkeit nicht als polarisierender Egoist auf, sondern als der nette Junge von nebenan.

Im Hype um den 21-jährigen "Baby-Schumi" (Copyright: 'Bild'-Zeitung) ging Teamkollege Bourdais sang- und klanglos unter: Nach Australien holte er nur noch einmal Punkte - als Siebenter nach einem sehr starken Wochenende in Belgien. Doch spätestens Monza gab ihm psychologisch den Rest: Während Vettel von der ersten Runde an führte und das Rennen gewann, würgte Bourdais in der zweiten Startreihe stehend den Motor ab - ein Ereignis mit Symbolcharakter.

Gerhard Berger und Franz Tost

Siegertypen: Gerhard Berger mit dem Teamchef des Jahres 2008, Franz Tost Zoom

4:35 Punkte, 5:13 gewonnene Qualifyings gegen Vettel - Bergers Projekt Bourdais damit gescheitert? "Gescheitert finde ich zu hart - immerhin ist er vierfacher ChampCar-Meister", meint Heidfeld. "Der Umstieg in die Formel 1 ist sehr schwierig, gerade mit so wenigen Möglichkeiten zum Testen. Entweder liegt einem das Reglement oder nicht. Es kann sein, dass er nächstes Jahr richtig schnell sein wird, so er denn dann noch fahren sollte."

Berger: Projekt Bourdais gescheitert

Frage an Berger selbst: Bist du mit dem Projekt Bourdais zufrieden, Gerhard? "Nein. Ich habe mir mehr von ihm erhofft", gibt der Österreicher im Interview mit 'Motorsport-Total.com', das nächste Woche in voller Länge veröffentlicht wird, zu. Und auch Surer schätzt die Bilanz des Franzosen ähnlich ein: "Wenn einer viermal die ChampCar-Meisterschaft gewinnt, dann erwartet man Überdurchschnittliches von ihm. Überdurchschnittlich ist er nicht, aber ein guter Rennfahrer."

Was viele vergessen: "Bourdais war am Anfang besser als Vettel. Mit dem schlechten Auto kam er recht gut klar", erinnert Surer. Die Wende kam mit der Einführung des STR-03, der von einigen Toro-Rosso-Mitgliedern schon "Anti-Bourdais" genannt wurde: Erst verzögerte der 29-Jährige mit einem schweren Testunfall in Barcelona die Premiere, dann kam er mit den Fahreigenschaften des Boliden nie mehr richtig zurecht.

Sébastien Bourdais

Erster Kontakt mit dem "Anti-Bourdais" STR-03: Unfall bei den Barcelona-Tests Zoom

Am Rande der Testfahrten in Hockenheim klagte uns Bourdais im kleinen Rahmen sein Leid: Ganz egal, was er auch mache, das Auto sei für seinen Fahrstil nicht geeignet. Die anderen Red-Bull-Piloten hätten diese Probleme nicht, sagte er. Das Gesicht sprach Bände - ein bis in die Haarspitzen motivierter Rennfahrer sieht anders aus. Heute wissen wir: Der Sommer war für ihn besonders schwierig, weil Toro Rosso die Vertragsoption angesichts des Durchhängers verstreichen ließ.

Kritik an Bourdais' Einstellung

Das schlug sich auf die Chemie zwischen Fahrer und Team nieder: "Er hat am Funk immer furchtbar gejammert. Das spricht gegen ihn, denn wenn der Fahrer immer nur sagt, dass das Auto Mist ist, dann würde ich ihm als Mechaniker das Werkzeug hinschmeißen und ihm sagen, dass er wiederkommen soll, wenn er weiß, was er geändert haben will", kritisiert Surer, früher selbst Formel-1-Pilot, die Arbeitseinstellung des ChampCar-Serienmeisters.

Gleichzeitig sagt der Schweizer aber auch: "Zum Schluss war er fast auf Vettel-Niveau." Tatsächlich war Bourdais auf der fahrerisch anspruchsvollen Strecke in Spa-Franorchamps der schnellere Toro-Rosso-Mann und auch an manchen anderen Rennwochenenden konnte er dem jungen Deutschen an seiner Seite gut Paroli bieten. Doch daran, dass Bourdais im Stallduell gegen Vettel klar geschlagen wurde, führt kein Weg vorbei.

Sebastian Vettel und Lewis Hamilton

Fast die WM-Entscheidung: Sebastian Vettel passiert Lewis Hamilton in Brasilien Zoom

23 Tage nach dem Saisonfinale in Brasilien, bei dem Vettel mit seinem rotzfrechen Überholmanöver gegen Hamilton in der drittletzten Runde beinahe die Weltmeisterschaft entschieden hätte und als Vierter in seinem letzten Rennen für das Team noch einmal ein Topresultat einfuhr, platzte dann noch eine Toro-Rosso-Bombe: Berger gab überraschend seinen Ausstieg bekannt und verkaufte seine 50 Prozent Anteile an Red Bull zurück.

Folgt nun der Totalabsturz?

Damit ist der Weg geebnet für den Verkauf des Teams an einen neuen Eigentümer, denn Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz will aufgrund des Verbots von Kundenautos künftig nur noch sein A-Team, das dieses Jahr eigentlich zum B-Team degradiert wurde, finanzieren. Berger fühlt sich trotz seines Ausstiegs nicht so, als würde er seine Freunde Franz Tost und Co. mit seiner Entscheidung im Stich lassen: "Toro Rosso ist in guten Händen."

Nach der Traumsaison 2008 droht nun also der Zerfall: Überflieger Vettel wechselt auf Anweisung von Mateschitz zu Red Bull, Berger konzentriert sich vorerst wieder auf seine Geschäfte außerhalb der Formel 1 und nach aktuellem Stand der Dinge muss Toro Rosso in Zukunft ein eigenes Chassis bauen und darf nicht mehr auf Red-Bull-Designs zurückgreifen. Damit ist ein Absturz in der Konstrukteurs-WM eigentlich vorprogrammiert.

Sebastian Vettel

Abschied mit Wehmut: Sebastian Vettel verlässt Toro Rosso in Richtung Red Bull Zoom

Doch selbst wenn es so kommen sollte - und wir lassen uns diesbezüglich aufgrund des sympathischen Auftretens des Rennstalls gerne eines Besseren belehren -, darf man eines nicht vergessen: Es ist gerade mal drei Jahre her, dass Toro Rosso als damaliges Minardi-Team nicht mehr als ein zahlenmäßiger Aufputz für die Formel 1 war, praktisch abonniert auf die letzte Startreihe. Anno 2008 steht in der Fabrik in Faenza ein Siegerpokal...

Saisonstatistik:

Team:

Konstrukteurswertung: 6. (39 Punkte)
Siege: 1
Pole-Positions: 1
Schnellste Rennrunden: 0
Podestplätze: 1
Ausfallsrate: 27,8 Prozent (8.)
Durchschnittlicher Startplatz: 12,4 (7.)

Sébastien Bourdais (Startnummer 14):

Fahrerwertung: 17. (4 Punkte)
Siege: 0
Pole-Positions: 0
Schnellste Rennrunden: 0
Durchschnittlicher Startplatz: 13,7
Bestes Ergebnis Qualifying: 4.
Bestes Ergebnis Rennen: 7.
Ausfallsrate: 22,2 Prozent (12.)

Sebastian Vettel (Startnummer 15):

Fahrerwertung: 8. (35 Punkte)
Siege: 1
Pole-Positions: 1
Schnellste Rennrunden: 0
Durchschnittlicher Startplatz: 11,1
Bestes Ergebnis Qualifying: 1.
Bestes Ergebnis Rennen: 1.
Ausfallsrate: 33,3 Prozent (18.)