Adventskalender 2010: Ferrari

Die Analyse mit Experte Marc Surer: Welcher Neuzugang Ferrari wieder Leben einhauchte und warum das WM-Finale in Abu Dhabi verloren ging

(Motorsport-Total.com) - Die Saison 2010 geht als eine der spannendsten in die Formel-1-Geschichte ein. Vier Fahrer kämpften beim letzten Rennen in Abu Dhabi noch um den Gewinn der Weltmeisterschaft; den Sieg sicherte sich letztendlich einer, der die Fahrerwertung zuvor noch nie angeführt hatte. Auf dem Weg nach Abu Dhabi kam es zu zahlreichen Sternstunden und Dramen. Grund genug für 'Motorsport-Total.com', das Jahr noch einmal Revue passieren zu lassen. Thema heute: Ferrari.

Titel-Bild zur News: Felipe Massa und Fernando Alonso

Felipe Massa musste mehrere Male zurückstecken, etwa hier in Italien

Nachdem der in den vergangenen Jahren zunehmend lustlose Kimi Räikkönen dank des spanischen Großsponsors Santander aus seinem Vertrag ausgekauft werden konnte, begann in Maranello mit Fernando Alonso eine neue Zeitrechnung. "Fernando hat in zwei Tagen mehr von der Fabrik gesehen als Kimi in zwei Jahren", lobte ein Ingenieur der Scuderia den Neuzugang schon vor dem ersten Renneinsatz, der dann tatsächlich erfolgreich verlaufen sollte.

Doppelsieg gleich zum Auftakt

Denn Alonso fuhr beim Saisonauftakt in Bahrain zwar zunächst Sebastian Vettel im Red Bull hinterher, konnte dem späteren Weltmeister aber stets folgen und phasenweise sogar die Schlagzahl erhöhen. Als Vettel wegen eines technischen Defekts langsamer wurde, profitierte Ferrari und feierte mit dem Spanier und dem nach dem bizarren Stahlfeder-Unfall in Ungarn 2009 wieder genesenen Felipe Massa einen souveränen Doppelsieg. Doch es sollte eine viermonatige Durststrecke folgen.

"Ich glaube, dass Ferrari Anfang des Jahres besser vorbereitet war als alle anderen", analysiert 'Motorsport-Total.com'-Experte Marc Surer. "Sie hatten ein zuverlässiges Auto und waren abgesehen von kleinen Motorenproblemen extrem gut gerüstet. Sie fuhren bei den Tests sehr viele Longruns, länger als alle anderen. Das konnten sie in den ersten Rennen nutzen, aber dann haben sie gemerkt, dass sie nicht schnell genug sind. Da mussten sie nachrüsten, auch mit dem angeblasenen Diffusor, den sie anfangs nicht verstanden haben."

Fernando Alonso vor Felipe Massa und Sebastian Vettel

Doppelsieg: Ferrari profitierte in Bahrain von Sebastian Vettels Motorproblem Zoom

Es dauerte bis zum geschenkten Sieg in Hockenheim, um wieder auf WM-Kurs zu kommen - und das auf äußerst fragwürdige Art und Weise: Massas Renningenieur Rob Smedley wies seinen Schützling indirekt an, Alonso durchzulassen ("Fernando ist schneller als du, hast du verstanden?"), wofür Ferrari mit einer 100.000-Dollar-Geldstrafe belegt wurde. Folge dieses Zwischenfalls: eine gewaltige Medienschelte für Teamchef Stefano Domenicali und seine Mannen sowie nach Saisonende die Abschaffung des Stallorder-Verbots durch die FIA.

McLaren-Ingenieur als Schlüsselfigur?

Der Doppelsieg in Hockenheim gelang wenige Wochen nach der Verpflichtung eines neuen Technischen Direktors: "Die ganze Wende kam eigentlich mit Pat Fry, der ihnen die Infos gegeben hat, wie das laufen muss. Von da an ging es aufwärts", glaubt Surer. Fry arbeitete zwischen 1993 und 2010 ununterbrochen für McLaren und galt in Woking als einer der wichtigsten Geheimnisträger. Doch im Mai kündigte er seinen Vertrag und per 1. Juli dockte er bei Ferrari an.

Alonso hielt sich mit fahrerischen Glanztaten wie in Italien oder Singapur im WM-Rennen, leistete sich im Laufe der Saison aber auch viele Fehler - ein Fehlstart in China, ein folgenschwerer Trainingsunfall in Monaco oder auch der verkorkste Auftritt in Belgien fallen einem da spontan ein. Noch schlechter erging es Teamkollege Massa, der nach drei von 19 Rennen noch sensationell die Fahrer-WM anführte, dann aber sukzessive zurückfiel und nur selten mit Alonso mithalten konnte. "Massa war ein Schatten seiner selbst", kritisiert Surer.

¿pbvin|512|3286||0|1pb¿"Er hatte Fahrer wie Schumacher und Räikkönen zumindest ab und zu im Griff, aber er hat keinen Stich gemacht gegen Alonso", sagt der Schweizer und spielt auf den Stahlfeder-Unfall an: "Massa ist nicht mehr der Alte. Er hat die gleiche Ausrede geliefert wie Michael Schumacher, nämlich dass ihm die Reifen nicht passen, aber sorry, das kann nicht sein. Einer mit so viel Erfahrung muss sich ganz einfach auf die Gegebenheiten einstellen. Für mich ist Massa nicht mehr der Alte. Ich denke schon, dass sich da was verändert hat, dass er nicht mehr diesen Biss hat."

So war Massa im WM-Finale dann auch keine Hilfe für Alonso oder das Team, denn abgesehen vom dritten Platz in Südkorea blieb der Brasilianer farblos. Viele vermuten, dass ihm die Stallregie in Deutschland das Genick gebrochen hat, weil Alonso damit als unumstrittene Nummer eins positioniert wurde. Schon in China hatte Massa zähneknirschend hinnehmen müssen, in der Boxeneinfahrt (!) von Alonso überholt zu werden. Das war der erste Indikator dafür, wie es bei Ferrari künftig laufen wird.

Kopf statt Entwicklung

Die Scuderia setzte im WM-Finish nicht auf ein verkrampftes Entwicklungsprogramm, sondern eher auf Alonsos Abgeklärtheit: "Natürlich ist das Auto weiterhin entscheidend, Zuverlässigkeit und Performance, aber wir wissen: Wenn es so eng ist und es entscheidende Momente wie hier im Qualifying und im Rennen gibt, dann macht der Kopf den Unterschied aus", meinte Teamchef Domenicali nach dem triumphalen Heimsieg beim Grand Prix von Italien.

Aber beim entscheidenden Saisonfinale in Abu Dhabi war Ferraris Kommandostand offensichtlich nicht abgeklärt genug, denn Alonso wurde als Reaktion auf Mark Webbers Boxenstopp früher als geplant zum Service gerufen - eine fatale Fehlentscheidung, weil er dadurch hinter Nico Rosberg und vor allem Vitaly Petrov zurückfiel, die ihren Boxenstopp bereits während der Safety-Car-Phase zu Beginn absolviert hatten. Der Ferrari-Star biss sich hinter Petrov wegen des überragenden Renault-Topspeeds die Zähne aus und musste zusehen, wie sich vorne Vettel den WM-Titel abholte.

Vitaly Petrov vor Fernando Alonso

Vitaly Petrov kostete Fernando Alonso letztendlich die Chance auf den Titel Zoom

Im Nachhinein wurde Ferrari speziell in Italien scharf kritisiert, doch unser Experte nimmt Domenicali und Co. in Schutz: "Ich habe verstanden, was sie gemacht haben, denn ich bin auch davon ausgegangen, dass der Ferrari so schnell ist, dass Vettel nie zum Problem werden kann. Der Ferrari war in diesem Rennen aber nicht schnell", erklärt Surer. "Massa ist völlig unter ferner liefen hinten rumgefahren und auch die Rundenzeiten von Alonso waren nicht gut genug. Das Auto war zu langsam."

Petrov nicht als Gegner eingeschätzt

"Dass man Petrov nicht als Gegner einschätzt, ist eine Geschichte - das verstehe ich, dass sie damit gerechnet haben, dass sie an ihm vorbeikommen werden. Dann wäre auch das Problem Kubica gar nicht erst aufgekommen. Nur weil ihn Petrov aufgehalten hat, wurde Kubica überhaupt zum Problem. Also blieb nur noch Rosberg. Bei ihm haben sie wohl gedacht, dass er am Ende des Rennens mit abgefahrenen Reifen unterwegs ist und ihn schon kriegen werden", gibt der ehemalige Grand-Prix-Pilot zu Protokoll.

Und weiter: "Man hat es falsch eingeschätzt, aber zu 50 Prozent habe ich es verstanden. Gefühlsmäßig wäre ich aber weitergefahren, denn kurz vor dem Stopp fuhr Alonso mit den weichen Reifen die schnellsten Zeiten - und dann fährt er an die Box! Ich dachte, ich sehe nicht richtig! Das heißt, sie haben das Potenzial des Ferrari, der mit weichen Reifen besser umgehen kann als alle anderen, nicht genutzt. Das ist mein Vorwurf und nicht, dass sie sich auf Webber ausgerichtet haben, denn sie konnten ja nicht damit rechnen, dass sie nicht an Petrov vorbeikommen würden."

Fernando Alonso

Fernando Alonso hat Fehler gemacht, zum Beispiel im Training in Monaco Zoom

Dass Ferrari Petrov einfach übersehen hat, glaubt er nicht: "Sie haben Computerprogramme, wissen, wo er rauskommt, haben das alles vor sich. Da mussten sie entscheiden", wischt Surer diese Theorie vom Tisch. "Rosberg war so oder so ein Problem, ob sie weitergefahren wären oder nicht. Also haben sie sich gedacht: 'Wenn auch noch Webber vor uns kommt, haben wir verloren!' Also musste man sich vor allem auf Webber ausrichten, weil er das schnellere Auto hatte. Ich verstehe diese Entscheidung."

Negativer Beigeschmack wäre geblieben

Allerdings ist der Schweizer froh, dass sich schlussendlich Vettel und nicht Alonso durchgesetzt hat, denn der Deutsche ist seiner Meinung nach der verdiente Weltmeister: "In Hockenheim sind sie mit einer illegalen Strategie beziehungsweise Teamorder in die Position gekommen, um die WM mitzufahren - und durch eine falsche Strategie haben sie die WM letztendlich verloren. Also ist es ausgleichende Gerechtigkeit, denn Alonso wäre sowieso ein illegaler Weltmeister gewesen", so Surer.

Entscheidend war letztendlich Petrov: "Ich hätte von Alonso erwartet, dass er es versucht, aber irgendwann waren natürlich seine Reifen kaputt, weil er da ständig am Diffusor hing. Man hat gesehen, dass er sehr viel gerutscht ist, sodass seine Reifen hinüber waren", erinnert sich Surer. "Aber ich hätte schon erwartet, dass er mal einen Gewaltakt probiert. Dann hätte man einen 'Schwarzen Peter' gehabt und fertig. Der eine Versuch war ja ziemlich halbherzig, da war er nicht mal halb daneben. Das konnte gar nicht gehen."

Felipe Massa vor Fernando Alonso

Die Stallorder in Deutschland hat Felipe Massa möglicherweise gebrochen Zoom

Doch obwohl Ferrari unterm Strich beide WM-Titel verpasst hat, darf man in Maranello mit der Saison 2010 zufrieden sein. Nach dem vierten Platz bei den Konstrukteuren im Jahr 2009 gelang der Scuderia eine Steigerung um mehr als 120 Prozent, was die (nach Wertungssystem bereinigte) Punkteausbeute angeht. Dass es letztendlich doch nicht ganz gereicht hat, lag unterm Strich wahrscheinlich an etwas zu vielen Fehlern und dem im Vergleich zum Red Bull doch geringeren Speed.

Saisonstatistik:

Team:

Konstrukteurswertung: 3. (396 Punkte)
Siege: 5
Pole-Positions: 2
Schnellste Rennrunden: 5
Podestplätze: 15
Ausfallsrate: 5,3 Prozent (1.)
Durchschnittlicher Startplatz: 6,8 (3.)

Qualifyingduelle:

Massa vs. Alonso: 4:15

Felipe Massa (Startnummer 7):

Fahrerwertung: 6. (144 Punkte)
Gefahrene Rennen: 19/19
Siege: 0
Podestplätze: 5
Pole-Positions: 0
Schnellste Rennrunden: 0
Durchschnittlicher Startplatz: 7,7 (8.)
Bester Startplatz: 2.
Bestes Rennergebnis: 2.
Ausfallsrate: 5,3 Prozent (1.)

Fernando Alonso (Startnummer 8):

Fahrerwertung: 2. (252 Punkte)
Gefahrene Rennen: 19/19
Siege: 5
Podestplätze: 10
Pole-Positions: 2
Schnellste Rennrunden: 5
Durchschnittlicher Startplatz: 5,8 (4.)
Bester Startplatz: 1.
Bestes Rennergebnis: 1.
Ausfallsrate: 5,3 Prozent (1.)


Fotos: Highlights 2010: Ferrari


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18. Nico Hülkenberg
19. Adrian Sutil
20. Michael Schumacher
21. Nico Rosberg
22. Mark Webber
23. Fernando Alonso
24. Sebastian Vettel

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