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Senna-Doku: Portrait eines widersprüchlichen Helden

Ayrton Sennas Leben und Tod waren gezeichnet von Widersprüchen - Am 12. Mai kommt die preisgekrönte Doku über ihn in unsere Kinos

(Motorsport-Total.com) - 41 Siege, 65 Pole-Positions, 19 schnellste Rennrunden und 3 WM-Titel. Ein Blick in die Rekordbücher der Formel 1 lässt unweigerlich die Frage aufkommen, wie viel Ayrton Senna noch gewonnen hätte, wäre er nicht am 1. Mai 1994 mit 34 beim Grand Prix von Imola nach 161 Rennen auf tragische Weise ums Leben gekommen. Dabei offenbaren die Erfolge kaum etwas über das Faszinierendste an Senna - den Menschen unter dem legendären gelben Helm.

Titel-Bild zur News: Ayrton Senna

Vollgastier mit Tiefgang: Ayrton Senna spaltete schon zu Lebzeiten die Massen

Damit beschäftigt sich nun eine preisgekrönte Dokumentation mit dem schlichten Titel 'Senna', die ab dem 12. Mai auch in die deutschen Kinos kommt . Der indisch-stämmige britische Regisseur Asif Kapadia scheint die außergewöhnliche, umstrittene Persönlichkeit des brasilianischen Nationalhelden, der so intensiv lebte wie kaum ein anderer, in seinem Film auf den Punkt gebracht zu haben.

Das beweisen die Reaktionen aus den USA - einem Land, in der die Formel 1 großteils unter der Wahrnehmungsgrenze stattfindet. "Manchmal packt dich eine Dokumentation direkt an der Gurgel und lässt dich keine Sekunde atmen. So war es bei Senna... das ist die Kraft dieses Mannes und dieses Films", so die euphorische Lobeshymne vom Chefkritiker der 'Los Angeles Times', Kenneth Turan. Beim renommierten Sundance-Festival von Hollywood-Legende Robert Redford in Utah wurde der Streifen sogar mit dem Publikumspreis ausgezeichnet.

15.000 Stunden Archivmaterial - 104 Minuten Spielzeit

Es ist tatsächlich verwunderlich, warum bisher niemand auf die Idee gekommen war, einen Film über Senna in die Kinos zu bringen. Kaum ein Fahrer besaß eine so widersprüchliche Persönlichkeit: knallhart und teilweise unfair auf der Rennstrecke, aber gleichzeitig tief religiös, moralisch und mit einem enormen Gerechtigkeitssinn ausgestattet. Sein Leben und sein tragisches Ende liefern den Stoff, aus dem die Hollywood-Träume sind.

Doch Regisseur Kapadia hat es sich keinesfalls einfach gemacht: Zunächst musste er das Vertrauen von Formel-1-Boss Bernie Ecclestone und der Senna-Familie gewinnen, um an unglaubliche 15.000 Stunden teils unveröffentlichtes Archivmaterial heranzukommen. "Weder die Familie noch Ecclestone haben einem Projekt bislang solch tolle Möglichkeiten geboten", meint Manish Pandey, Produzent des Films. Glaubt man den durchwegs begeisterten Kritikern und Zuschauern, dann hat Regisseur Kapadia die richtigen 104 Minuten ausgewählt, um Senna wahrhaftig zu beschreiben.

In Monaco machte Senna teilweise übersinnliche Erfahrungen Zoom

Der Mann aus Sao Paulo war das Gegenteil des klischeehaften, eindimensionalen Vollgastiers hinterm Lenkrad, das sich ausschließlich über Autos, Frauen und Geld Gedanken machte. Senna hatte nicht nur die Fähigkeit, außergewöhnliche Dinge zu erleben - er konnte sie auch in Worte fassen. Wie damals in Monaco 1988, als der McLaren-Star nach seiner Qualifying-Runde verstört Einblicke in seine Seele gab: "Ich fuhr in einer anderen Dimension. Die ganze Strecke war wie ein Tunnel. Doch plötzlich bekam ich große Angst, weil ich erkannte, dass ich weit über meinem bewussten Verständnis fuhr."

Zwischen Gott und Tod

Doch Senna - der Getriebene - gab seiner Angst nicht nach und verfiel der Verlockung, die irdischen Limits zu verlassen. Das Resultat war ein auf den ersten Blick leichtsinniger Crash, als er den Klassiker im Fürstentum überlegen 50 Sekunden vor Teamkollegen Alain Prost angeführt hatte. Doch Senna erklärte Jahre später: "Dieser Fehler hat mich näher zu Gott gebracht als alles andere davor und mein Leben komplett verändert. Es war ein Signal, dass Gott da ist und mir die Hand reicht. Ich musste ihm nur sagen, was ich wollte."

Die Diskrepanz zwischen dem unerschütterlichen Glauben des Brasilianers und seinen Manövern auf der Rennstrecke sorgte bei Sennas Rivalen immer wieder für große Entrüstung. 1990 schreckte Senna beim Titelfinale in Suzuka nicht davor zurück, seinen Ferrari-Rivalen Prost nach dem Start von der Strecke zu boxen und so Weltmeister zu werden. "Er glaubt, dass er unsterblich ist. Das ist wirklich gefährlich", schimpfte der Franzose damals aufgebracht.

Alain Prost, Ayrton Senna

Die Überreste nach Sennas absichtlichem Rammstoß gegen Erzfeind Prost Zoom

Ron Dennis zu Tränen gerührt

"Er war extrem religiös, sprach ständig über seine Werte, seine Erziehung und über seine Einstellung. Und dann tat er Sachen, die damit überhaupt nicht übereinstimmten", erinnert sich der Franzose, der die damaligen Ereignisse inzwischen aus einem differenzierteren Blickwinkel betrachtet: "Heute glaube ich, dass er wirklich dachte, im Recht zu sein, und die Wahrheit sagte. Er hatte seine eigenen Regeln - und nur die beachtete er."

Beim Horror-Wochenende in Imola zeigte sich Sennas widersprüchliche Persönlichkeit ein letztes Mal. Als am Freitag sein junger Landsmann Rubens Barrichello schwer crashte und am Samstag Roland Ratzenberger ums Leben kam, konfrontierte sich der Williams-Pilot wie kein anderer mit den Schattenseiten der Formel 1. Er war es, der den verletzten Barrichello sofort nach dem Unfall im Medical Center sehen wollte und der sich über alle Widerstände hinwegsetzte, um die Unglücksstelle Ratzenbergers aufzusuchen. Sogar über einen Startverzicht bei dem Rennen, das ihm später zum Verhängnis werden sollte, dachte er nach. Doch er musste fahren.

Ron Dennis

Senna und Dennis waren bei McLaren jahrelang eine unschlagbare Kombination Zoom

Mit den Szenen aus Imola endet auch die Dokumentation. Wie sehr die Bilder bewegen, beweist die Reaktion eines Mannes, der nicht gerade für Gefühlsregungen bekannt ist: Ron Dennis, Ex-McLaren-Teamchef und Sennas langjähriger Weggefährte. "Nach Ende des Films hat Dennis zehn Minuten lang geweint", verrät Produzent Pandey. "Dann blieb er sitzen und sprach zwei Stunden lang nur über Senna."