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Marko: "Vettel wird unfair kritisiert"

Interview mit Red Bulls "grauer Eminenz": Warum sein Team WM-reif ist, aber mehr Pech hat als McLaren, was ihn an Mercedes stört und wie er über Kimi Räikkönen denkt

(Motorsport-Total.com) - Dass Red Bull im Durchschnitt das schnellste Auto des Formel-1-Jahrgangs 2010 hat, steht außer Frage. Dass Sebastian Vettel ohne diverse Probleme die Fahrer-WM haushoch anführen müsste ebenfalls. Und auch, dass Mark Webber fünf Rennen vor Schluss die Position des Gesamtleaders innehat. Trotzdem: Angesichts der vielen Pleiten, Pech und Pannen könnte man fast schon vermuten, dass Red Bull gar nicht Weltmeister werden will.

Titel-Bild zur News: Helmut Marko

Offen und direkt: Red Bulls Helmut Marko nimmt sich kein Blatt vor den Mund

"Wir wollen die WM gewinnen", widerspricht Helmut Marko, "aber es ist halt schwierig." Der Red-Bull-Motorsportkonsulent, quasi die Schnittstelle zwischen der Fabrik in Milton Keynes (Großbritannien) und Dietrich Mateschitz' Hauqtquartier in Fuschl am See (Österreich), spricht im Interview mit 'Motorsport-Total.com' natürlich vor allem über die aktuelle Situation im Titelkampf. Allerdings schneidet er auch die Themen Mercedes, Kimi Räikkönen und Lewis Hamiltons für ihn unfassbares Glück an - und nimmt sich dabei kein Blatt vor den Mund...#w1#

Auch auf schnellen Strecken konkurrenzfähig

Frage: "Herr Marko, wenn man bedenkt, wie unterlegen Red Bull 2009 in Monza war, dann können Sie mit der Performance diesmal doch recht zufrieden sein, oder?"
Helmut Marko: "Der Zeitabstand war schon beunruhigend, vor allem im Qualifying. Nach den Freitagssessions hätten wir gedacht, dass wir näher dran sind. Das war aber nicht der Fall, weil es immer ein Kompromiss ist - je mehr Downforce, desto langsamer auf den Geraden. Monza war so gesehen Schadensbegrenzung für uns."

Frage: "Red Bull war dieses Jahr auch auf Strecken wie Montréal, Valencia und eben Monza konkurrenzfähiger als 2009, das Team ist insgesamt konstanter geworden. Sind Sie jetzt reif für den WM-Titel?"
Marko: "Wir haben in diesem Jahr einfach ein Auto, das auf allen Strecken wettbewerbsfähig ist. Im vorigen Jahr waren wir auf gewissen Strecken sehr schnell, aber in Valencia, Monza und Spa hatten wir damals mehr Probleme. In Monza waren wir 2009 zum Beispiel Achter und im Qualifying sogar nur Neunter und Zehnter. So gesehen ist ein deutlicher Fortschritt da."

Frage: "Gehen wir doch mal das Restprogramm Strecke für Strecke durch und fangen wir mit Singapur an..."
Marko: "Singapur müsste eine Strecke für uns sein. Man weiß nicht, wie schnell der Ferrari dort sein wird, aber von den Bodenwellen und der Charakteristik her sollten wir McLaren überlegen sein. Das Gleiche gilt für Suzuka."

Frage: "Suzuka ist Ihre Paradestrecke, nicht wahr?"
Marko: "Die schnellen Kurven nach Start und Ziel sollten uns in der Tat sehr gut liegen. Südkorea ist für alle ein unbekanntes Blatt - dazu lässt sich noch nicht viel sagen. Wenn es aber stimmt, dass es dort die längste Gerade gibt, dann ist das nicht so positiv für uns. Brasilien sollte auch eine Strecke sein, wo wir sehr wettbewerbsfähig sind, und Abu Dhabi ist ziemlich ausgeglichen zwischen McLaren und uns, würde ich sagen."

Sebastian Vettel

In Monza war Red Bull konkurrenzfähiger als von einigen Experten erwartet Zoom

Frage: "Würden Sie Red Bull angesichts des Restprogramms als WM-Favoriten bezeichnen?"
Marko: "Favorit würde ich nicht sagen, aber wir kämpfen mit sehr guten Erfolgsaussichten um den WM-Titel. Dafür müssen wir zumindest in Singapur und Suzuka entsprechende Topergebnisse einfahren."

Frage: "Das heißt, in den nächsten zwei Rennen wird sich der Kreis von derzeit fünf Titelkandidaten wahrscheinlich reduzieren, nicht wahr?"
Marko: "Es sind noch immer 125 Punkte zu holen, aber das, was jetzt immer mehr schmerzen würde, sind Streichresultate."

Kein Fahrer wird bevorzugt

Frage: "Angenommen, es sollte ein Red-Bull-Fahrer Weltmeister werden, ist es Ihnen dann völlig egal, ob es Mark Webber oder Sebastian Vettel schafft?"
Marko: "Das haben wir immer gesagt. Wir sind da offen - Hauptsache, einer von uns schafft es. Wer es dann wird, ist uns egal."

Frage: "Zu Sebastian haben sie seit seiner Zeit im Red-Bull-Juniorteam, das Sie leiten, eine besondere Beziehung. Hängt da nicht vielleicht doch ein klein bisschen mehr Herzblut dran?"
Marko: "Nein, das muss man professionell sehen. Momentan hat Mark die deutlich bessere Ausgangsposition. Er hat sehr gute Rennen abgeliefert, war auch von technischen Defekten weit weniger betroffen als Vettel. Das sind Tatsachen. Da muss man auf das Team schauen. Red Bull ist eine Firma, die in mehr als 170 Ländern der Welt verkauft, also brauchen wir nicht auf irgendeine Nationalität eingehen."

Frage: "Mark hat in Spa-Francorchamps angedeutet, dass er das Team gerne voll hinter sich wüsste. Es wurde bereits klargestellt, dass das noch nicht passieren wird, aber wann wäre denn ein Punkt erreicht, wo man darüber nachdenken muss?"
Marko: "Sicher noch nicht jetzt. Außerdem haben wir bei der FIA-Stallorder-Verhandlung ein anderes Ergebnis erwartet. Das war nicht der Fall und das nehmen wir zur Kenntnis. Aber ich glaube, es ist noch zu früh."

¿pbvin|512|3131||0|1pb¿Frage: "Sie sprechen das FIA-Urteil an. Gehen Sie davon aus, dass man sich jetzt für 100.000 US-Dollar freikaufen kann, wenn man eine Stallorder anwenden möchte?"
Marko: "Das ist der Umkehrschluss, ja. Was in Hockenheim passiert ist, ist ja offensichtlich, aber ich möchte mich dazu nicht näher äußern. Aber der Zeitpunkt für eine Stallorder ist bei uns noch nicht da."

Frage: "Wo liegt denn der Unterschied zwischen dem, was bei Red Bull in Istanbul passiert ist, und dem, was Ferrari in Hockenheim gemacht hat?"
Marko: "Bei Ferrari haben die Fahrer einen Platztausch gemacht. Bei uns haben die Fahrer um die Spitze gekämpft und es ist schiefgegangen, weil sie kollidiert sind."

Frage: "Aber es ist doch nach außen durchgesickert, dass eigentlich ein Platztausch vorgesehen war, den Marks Renningenieur Ciaran Pilbeam nicht durchgefunkt hat..."
Marko: "Nein, es sind nicht alle Details nach außen gesickert. Es gab Kommunikationsprobleme, die aber rein technischer Natur waren. Bei uns ist die Situation anders: Wir haben als einziges Team zwei Topfahrer, die wir auf der Strecke absolut fighten lassen. Button kann bei McLaren im Normalfall das Tempo von Hamilton nicht gehen und bei Ferrari dominiert und bestimmt Alonso. Dort gibt es klare Hierarchien. Die haben wir nicht - auch, weil unsere Fahrer so stark sind."

Vettels Talent früh genug erkannt

Frage: "Ich könnte mir vorstellen, dass es auch ein persönliches Anliegen von Dietrich Mateschitz ist, dass die Fahrer frei fahren dürfen."
Marko: "Das passt natürlich in die Philosophie von Red Bull, wo man Individualität, Freiheit und all diese Attribute schätzt und in keiner Weise beschränken will."

Frage: "Es ist noch gar nicht so lange her, dass es zwischen Red Bull und BMW ein Tauziehen um Sebastian Vettel gegeben hat. Offenbar hat Mario Theissen sein Talent nicht so erkannt wie Sie. Sind Sie darauf stolz?"
Marko: "Wir haben die längere Verbindung mit Sebastian. Wir haben ihn in nicht nur in die Formel 1 gebracht, sondern wir haben seine ganze Karriere mitgetragen."

"Zu dem Zeitpunkt, als dieser Vertrag mit BMW entstand, hatten wir kein einziges Formel-1-Team, also wollten wir ihn nicht blockieren. Aber was BMW bewegt hat oder nicht bewegt hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist er bei uns gelandet - und er wäre sowieso bei uns gelandet, weil eine Rückkehrklausel in diesem Vertrag war."

Sebastian Vettel und Helmut Marko

Mit Vorurteilen aufgeräumt: Marko kriecht Vettel nicht nur in den Hintern... Zoom

Frage: "Das heißt, die Faktenlage war damals von Anfang an vertraglich geregelt?"
Marko: "Die war im Prinzip geregelt, nur nicht schon für diesen Zeitpunkt."

Frage: "Sebastian ist 23 Jahre alt und damit noch sehr jung. Die Hoffnung ist sicher, mit ihm eine Erfolgsära einzuleiten. Wäre das die Erfüllung des Red-Bull-Projekts in der Formel 1?"
Marko: "Das ist in der Tat so. Was uns dazu noch fehlt, ist der WM-Titel mit Sebastian."

Frage: "Umgekehrt ist es für Mark Webber vielleicht eine der letzten Chancen, Weltmeister zu werden. Würde man sich aus diesem Grund auch mit ihm besonders freuen?"
Marko: "Hauptsache wir werden Weltmeister. Wenn wir es pragmatisch betrachten, dann ist es für Mark vielleicht eine der letzten Chancen. Vettel hat noch eine große Zukunft vor sich. Wenn es für ihn dieses Jahr nicht klappt, ist es keine so große Tragik."

Scharfe Kritik an Mercedes

Frage: "Christian Horner schätzt den Unterschied zwischen Renault und Mercedes auf einer Motorenstrecke wie Monza auf 30 bis 35 PS. Das macht seiner Meinung nach auf eine Runde ein Handicap von einer halben Sekunde aus. Würden Sie diese Zahlen unterschreiben?"
Marko: "Unterschreiben vielleicht nicht, aber diese Zahlen sind sehr realistisch, weil wir natürlich entsprechende Simulationen gemacht haben."

"Wir rennen da Sturm, denn es kann nicht sein, dass die Homologierungsregeln bedeuten, dass wir schon das zweite Jahr mit einem PS-Manko fahren müssen. Mercedes stellt sich taub und stur und willigt einer Angleichung nicht ein. Das kann es nicht sein! Es kann auch nicht sein, dass wir 2011 und 2012 das gleiche Manko haben werden."

Frage: "Eine Angleichung kann ja nur bei Einstimmigkeit funktionieren..."
Marko: "Ja. Momentan ist es innerhalb der FOTA. Dort legt sich Mercedes quer. In Spa sind sie uns bergauf auf und davon gefahren. Ein Liuzzi fährt nicht einmal im Windschatten, sondern auf der Seite an uns vorbei..."

Helmut Marko und Mark Webber

... und kann sich auch mal mit Webber freuen, wie beim Sieg in Monaco! Zoom

Frage: "Solange sich Mercedes querlegt, wird wohl nichts passieren, also was können Sie dagegen machen?"
Marko: "Es kommt ja ab 2013 ein neues Motorenreglement. Dort braucht man auch ein Einverständnis der Motorenhersteller. Wenn da von Mercedes nur Sturheit kommt, dann könnte ich mir vorstellen, dass Renault auf gewisse Wünsche von Mercedes auch nicht eingeht."

Frage: "Red Bull wollte für 2010 Mercedes-Motoren haben, was am Veto von McLaren gescheitert ist. Für Mercedes wäre es interessant, mit Sebastian Vettel zusammenzuarbeiten. Wann hat es denn den letzten Kontakt zu Mercedes gegeben?"
Marko: "Offensichtlich ist Sebastian für Mercedes nicht interessant, sonst hätten sie uns ja längst mit Motoren beliefert! Wir nehmen das zur Kenntnis und sind mit Renault - bis auf das PS-Manko, das sich lange in der Vergangenheit entwickelt hat - zufrieden. Wir planen mit Renault."

Frage: "Das heißt, das Mercedes-Thema ist von Red-Bull-Seite..."
Marko: "Erledigt."

2013: Bedenken wegen des Motorensounds

Frage: "2013 kommt ein neues Motorenreglement, wahrscheinlich ein 1,6-Liter Turbo mit drei bar Ladedruck, vier Zylindern in Reihe, Drehzahlbegrenzer bei 10.500 Touren. Wie ist Ihre Meinung dazu?"
Marko: "Es muss ein für die Formel 1 adäquater Motor sein. Das heißt, er braucht einen fetten Sound, darf nicht wie die GP3 klingen, und die nötige PS-Zahl. Außerdem müssen die Kosten kalkulierbar und überschaubar sein."

"Das Reglement, wie es jetzt von der FIA diskutiert wird, ist zu kostenintensiv. Da sind sich alle einig. Aus dem Grund muss man noch einige Änderungen machen. Mit KERS und der Direkteinspritzung ist das eine immense technische Herausforderung - und technische Herausforderungen kosten Geld. Für die jetzige ökonomische Situation sind die Entwicklungskosten, die da auf die Formel 1 zukommen, zu hoch."

Frage: "Auf der Chassisseite wird eine Rückkehr zum Ground-Effect diskutiert, was allem widerspricht, was die Arbeitsgruppe Überholen in den vergangenen Jahren ausgetüftelt hat. Was halten Sie davon?"
Marko: "Die Formel 1 muss ganz klar die optimale Motorsportkategorie bleiben. Dafür muss man den schlauesten Köpfen und den besten Ingenieuren Freiheiten erlauben. Das Reglement soll einen Rahmen setzen, aber es soll Kreativität und Einfallsreichtum in keiner Weise einschränken."

"Ob das nun mit oder ohne Ground-Effect geschieht: So, wie der Motor seinen Sound haben muss, sollten die Autos wieder so gebaut werden, dass du überholen kannst, was momentan überhaupt nicht möglich ist. Ein Paradebeispiel: Wir waren in Budapest eineinhalb Sekunden schneller als Alonso, hatten aber keine Chance, mit Vettel an ihm vorbeizukommen."


Fotos: Red Bull, Großer Preis von Italien


Frage: "Aber der Ground-Effect ist da doch von der Theorie her kontraproduktiv, nicht wahr?"
Marko: "Da schwirren viele Ideen herum, aber sicher ist der Ground-Effect genau das Gegenteil von dem, was man eigentlich will."

Frage: "Kommen wir zum letzten Thema. In der Red-Bull-Familie gibt es mit Kimi Räikkönen einen hochinteressanten Fahrer. Mark Webber hat nur einen Einjahresvertrag unterschrieben. Gehört Kimi zu den Fahrern, die 2012 für seine Nachfolge in Frage kommen?"
Marko: "Die Frage stellt sich nicht, weil sein Interesse ganz klar im Rallyesport liegt."

Kein Formel-1-Test für Räikkönen

Frage: "Ist vorstellbar, dass er im Winter mal einen Tag testen wird, quasi just for Fun?"
Marko: "Nein, weil die Testrestriktionen so hart sind, dass wir jeden Kilometer mit den Fahrern nutzen müssen, die bei uns unter Vertrag stehen."

Frage: "Red Bull ist Hauptfinanzier seines Engagements in der Rallye-WM. Sind Sie damit zufrieden, auch von der Publicity her?"
Marko: "Wir sind sehr, sehr zufrieden mit Loeb und Ogier. An Publicity ist durch Räikkönen noch nicht so viel rübergekommen, wie wir uns erwartet haben, aber das hängt auch damit zusammen, dass er relativ oft Unfälle baut und die Resultate ausgeblieben sind. Wenn der sportliche Erfolg da ist, dann ist der Werbeeffekt genauso da. Das geht Hand in Hand."

Frage: "Wie schaut die Perspektive für Kimi in der Rallye-WM aus? Geht es mit Citroën weiter?"
Marko: "Momentan hat die Formel 1 Priorität. Von da runter werden dann die weiteren Entscheidungen getroffen."

Helmut Marko und Dietrich Mateschitz

"Oberbulle" Dietrich Mateschitz (rechts) lässt sich nur selten in der Box blicken Zoom

Frage: "Möchten Sie von Ihrer Seite noch etwas loswerden?"
Marko: "Wir wollen die WM gewinnen, aber es ist halt schwierig. Eines möchte ich dazu anmerken, weil Vettel sehr stark und wie ich finde unfair kritisiert wird. Nehmen wir Spa her: Hamilton rutscht raus und McLaren steht da und feiert sein Fahrgenie. Dass er einen Zentimeter vor der Leitplanke war und aus dem Kies wieder rauskommt, war pures Glück, nichts anderes."

"Vettel ist überrascht durch das etwas frühere Bremsen von Button, es ist auch etwas mehr Nässe und auch noch eine Bodenwelle dort. Er weiß, dass er nur dort überholen kann, weil die Mercedes-Motoren in allen anderen Passagen uneinholbar sind. Jetzt geht das schief, aber das ist eine Rennsituation. So ist für ihn die ganze Saison gelaufen, sowohl auf der technischen wie auch auf der Glücksseite."

"Nehmen wir die Flügelgeschichte in Silverstone her: Hamilton fährt ihm rein, sodass sein Flügel normalerweise in 1.000 Teile zerbrechen muss. Aber was passiert? Vettel hat einen Reifenschaden. Dieses Glückspendel, das Hamilton bisher auf seiner Seite hatte, hatte Sebastian negativ gesehen auf seiner Seite. Das müsste aber irgendwann aufhören - und ich hoffe, dass das im letzten Saisondrittel passieren wird, damit wir wirklich unsere Stärken zeigen und mit beiden Autos ganz vorne landen können."