Marc Surer analysiert das Debakel von Indianapolis

'F1Total.com'-Experte Marc Surer glaubt, dass es die FIA in der Hand gehabt hätte, den Fans in Indianapolis ein echtes Rennen zu zeigen

(Motorsport-Total.com) - Auch vier Tage nach dem Skandalrennen von Indianapolis schlägt die US-Farce noch hohe Wellen. Während die Michelin-Teams ihren Schuldigen in der FIA sehen und die FIA wiederum die Michelin-Teams zu einer Anhörung eingeladen und Konsequenzen hat, ist für die 'F1Total.com'-Leser klar, dass eigentlich Michelin selbst das Nichtantreten beim Grand Prix der USA zu verantworten hat.

Titel-Bild zur News: Start in den USA 2005

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Eine von 'F1Total.com' durchgeführte Umfrage mit mehr als 12.000 abgegebenen Stimmen hat ergeben, dass 60,36 Prozent der deutschen Formel-1-Fans der Meinung sind, dass Michelin den größten Imageschaden aus der Affäre davongetragen hat. 29,25 Prozent gaben an, dass die FIA nach außen hin am schlechtesten ausgesehen habe, während immerhin 10,39 Prozent die Verantwortung dafür bei Ferrari sehen.#w1#

Surer: "Muss den 'F1Total.com'-Lesern zustimmen"

'F1Total.com'-Experte Marc Surer, der den Grand Prix für den Münchner Abo-TV-Sender 'Premiere' live vor Ort kommentiert hat, ist vom Umfrageergebnis nicht überrascht: "Ich muss den 'F1Total.com'-Lesern zustimmen. Der Auslöser war Michelin. Jeder Reifenhersteller hat die Möglichkeit, zwei verschiedene Reifen mitzubringen. Wenn man nur noch an Geschwindigkeit denkt, aber nicht mehr an Sicherheit, passiert so etwas", so der Schweizer.

"Michelin hatte gerade auf dieser Strecke schon relativ viele Reifenschäden", analysiert er. "Ich denke zum Beispiel an Alonso im Vorjahr, der einen Reifenschaden hatte, noch bevor die Trümmer von Ralf Schumachers Auto herumgelegen sind, die ja dann verantwortlich gemacht wurden für weitere Reifenschäden. Offensichtlich ist Indianapolis also eine Strecke, wo die Reifen schon immer am Limit waren. Mir scheint daher, die haben nur noch an Geschwindigkeit gedacht, nicht mehr an Sicherheit."

Doch wenngleich für den 53-Jährigen der Stein durch Michelin ins Rollen gekommen ist, hätte er sich von den Verantwortlichen ein anderes Verhalten erhofft: "Es hätte einfach ein Machtwort von der FIA gebraucht, auch wenn Ferrari nicht einverstanden ist. Über der FIA gibt es schließlich niemanden mehr. Die oberste Sportbehörde muss in dem Moment einfach sagen: 'Hallo, wir haben ein Problem, wir brauchen das Rennen und wir müssen einen Kompromiss finden.' Man kann nicht einfach sagen, dass es keine Punkte gibt. Das fand ich schwach", kritisiert der Ex-Formel-1-Pilot.

Barcelona-Reifentyp entpuppte sich als nicht geeignet

"Das Einfliegen der neuen Reifen war eine Sofortreaktion von Michelin, denn sie dachten, dass sie mit den Reifen, die da waren, ein Problem hätten", so Surer weiter. "Bei der Analyse sind sie nicht weitergekommen, also haben sie neue Reifen eingeflogen, von denen man wusste, dass sie halten würden. Als die Tests der Reifen, die vor Ort waren, aber keinen klaren Fehler aufgezeigt haben, hat Michelin gesagt, dass es jetzt auch nichts bringt, auf die Barcelona-Reifen zu wechseln."

"Mit einem anderen Satz Reifen ließ sich das Problem anscheinend nicht lösen, sondern es war ein grundsätzliches Problem zusammenhängend mit dem aufgerauten Belag auf der Strecke. Das hielt die Schulter der Reifen nicht aus", unterstrich der 82-fache Grand-Prix-Teilnehmer. "Der erhöhte Reifendruck, der die Schulter entlasten sollte, war dann die zweite Reaktion, aber sie hatten trotzdem das Gefühl und die Information, dass die Reifen das nicht durchstehen würden. Sie haben ja alle Reifen, die im Einsatz waren, sogar auf Probleme hin geröntgt."

Damit war klar, dass das Rennen unter normalen Umständen nicht stattfinden würde. Am Samstagabend begannen daher intensive Diskussionen und ein reger Schriftverkehr zwischen Michelin und FIA. Es wurden verschiedene Szenarien durchgespielt, um den Grand Prix der USA retten zu können, doch nur die Idee einer zusätzlichen Schikane in der Steilkurve, die die Belastungen auf die Reifen reduziert hätte, war ein wirklich konkreter Lösungsansatz.

Hat die FIA über den Schikanen-Plan doch nachgedacht?

Surer glaubt, dass die FIA den Schikanen-Plan zunächst sehr wohl in Betracht gezogen hat: "Ich habe Charlie Whiting vor dem Streckenplan stehen sehen, daher denke ich, dass man sich das schon überlegt hat. Aber dann kam Sofort das Nein der FIA", erklärt er. "Das hat mich sehr, sehr gewundert." Der Rest ist bekannt: Trotz Verhandlungen bis zur letzten Minute fand man keinen Konsens, weshalb 14 der 20 Autos nach der Aufwärmrunde wieder an die Box kommen mussten.

"Man kann eine Strecke aus Sicherheitsgründen umbauen, zum Beispiel eine Umleitung machen, wenn der Streckenbelag bricht", weiß Surer. "Am Nürburgring werden manchmal Poller ersetzt oder weggemacht, was ja auch eine Veränderung der Strecke ist, weil man entweder drüberfahren kann oder nicht. Man kann eine Strecke unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit verändern. Zum Beispiel hatten wir auch diese Deckel in Bahrain, die im ersten Training 2004 die Reifen aufgeschlitzt haben. Das hat einige Reifenschäden verursacht, also haben die diese Deckel zubetoniert."

Zusätzliche Schikane wäre kein Novum gewesen

"Korrekturen an einer Rennstrecke hat es schon öfters gegeben. Ich erinnere auch an die Schikane vor Eau-Rouge in Spa 1994 oder in Barcelona nach dem Senna-Unfall. Es hat in der Historie solche Änderungen geben", sagt er. "So eine Änderung erst am Sonntag anzubringen, wäre natürlich ungewöhnlich, aber die FIA kann es unter dem Gummiparagrafen der Sicherheit machen. Aber zu sagen, es gibt keine Punkte, nur weil Ferrari nicht einverstanden ist, ist falsch. Dann muss die FIA ein Machtwort sprechen und sagen: 'So wird es gemacht!' Neun Teams waren schließlich dafür."

Dass sich die Teams der Empfehlung von Michelin nicht widersetzt haben, versteht der 'F1Total.com'-Experte allerdings: "Wenn man in Amerika mit Reifen fährt, die vom Hersteller als unsicher erklärt werden, dann geht man ins Gefängnis. Man kennt die Amerikaner: In dem Moment, wo einer gegen die Empfehlung von Michelin gefahren wäre, wäre das grobe Fahrlässigkeit - und dafür gehst du ins Gefängnis", ist er sich sicher. "Ich habe mit einem Teammanager gesprochen. Der hat mir gesagt: 'Wenn uns etwas passiert, dann werde ich meinen Chef wohl hier lassen müssen!'"

Dennoch wollten einige Fahrer unbedingt ins Rennen gehen - David Coulthard funkte beispielsweise noch während der Aufwärmrunde sein Team an und betonte, dass er gerne starten möchte, wenn er selbst entscheiden darf. Vom Kommandostand kam aber ein Veto. Hättest du an seiner Stelle einfach den Funk abgedreht, Marc? "Wenn einer wirklich auf diese Idee gekommen wäre, hätte ihm das Team beim ersten Boxenstopp einfach kein Benzin mehr gegeben", so Surer abschließend zur Möglichkeit eines Rebellen.