• 18.10.2009 15:33

  • von Dieter Rencken

Brawn: Risiko und Idealszenario

Teamchef Ross Brawn über das Qualifying in São Paulo, das Risiko im Startgetümmel und sein Idealszenario der WM-Entscheidung

(Motorsport-Total.com) - Frage: "Auf der einen Seite war das Qualifying perfekt für euch - auf der anderen Seite aber gar nicht."
Ross Brawn: "Nein, es gibt gemischte Gefühle. Im zweiten Qualifying hatten wir mit Rubens Glück, denn wir haben bei den Reifen daneben gegriffen. Er kam durch, aber nicht Jenson. Das ist schon enttäuschend, weil wir ein gutes Auto hatten. Man konnte ja sehen, was Rubens im dritten Qualifying zeigen konnte. Das hat er fantastisch gemacht."

Titel-Bild zur News: Ross Brawn

Frage: "Wer hat die Reifenwahl gegen Ende des zweiten Abschnitts getroffen, der Fahrer, der Renningenieur oder gar du?"
Brawn: "Letztlich ist es meine Entscheidung, was zu tun ist. Wir konnten einige andere auf Intermediates sehen, aber ihre Zeiten waren nicht gut. Ich nahm an, dass wir auch so durch den zweiten Abschnitt kommen würden, denn es gab ein Risiko, dass etwas schiefgehen könnte."#w1#

Frage: "Das Glück, das Rubens hatte, hat er im Schlussabschnitt in eine beeindruckende Leistung verwandelt."
Brawn: "Ja, das war fantastisch. Wir wussten, dass er bei solchen Bedingungen außergewöhnlich ist. Die Reifenwahl war im letzten Qualifying auch einfacher, aber wir führten dennoch eine Debatte, ob wir noch einen zweiten Satz Intermediates einsetzen sollten. Er sagte dann selbst, dass er auf dem Satz vom Anfang bleiben wollte. Das war die absolut richtige Entscheidung und es war eine tolle Runde."

Den richtigen Zeitpunkt verpasst

Frage: "Was kann Jenson von Rang 14 aus noch erreichen? Und wie ist eure Wettervorhersage für das Rennen? Kann er es noch in die Punkte schaffen?"
Brawn: "Das kann er schaffen, ja. Das Auto ist an diesem Wochenende recht stark, das konnten wir in trockenen Bedingungen gut sehen. Auch die meiste Zeit über im Nassen waren wir gut. Leider produzierte sein Reifensatz im zweiten Qualifyingabschnitt sehr viel Untersteuern - das kam unerwartet. Ich weiß, dass unsere Reifenentscheidung nicht toll war, aber Mark Webber fuhr mit dem gleichen Reifen eine Runde in 1:20.8 Minuten am Ende, wir schafften nur 1:23er und 1:24er Zeiten. Da stimmte etwas nicht."

Frage: "Habt ihr aber in der Mitte des zweiten Abschnittes nicht schon gespürt, dass Jenson nicht die nötigen Rundenzeiten fuhr und dass ein neuer Satz Regenreifen oder Intermediates wie bei Nico Rosberg besser gewesen wären?"
Brawn: "Für uns wäre es die schnellste Möglichkeit gewesen, einen neuen Regenreifensatz zu verwenden. Aber diesen Punkt zum Wechseln haben wir verpasst und dann fielen wir nach hinten. Das schmerzte beim Zusehen. Aber es war zu spät für eine Veränderung und Jenson dachte, er bekäme die nötige Runde noch zusammen. Wir ließen die Reifen abkühlen und versuchten es neu, aber es ging nicht."

Frage: "Hast du etwas Sorgen, weil um Jenson herum in der Startaufstellung einige unerfahrene Fahrer stehen?"
Brawn: "Da gibt es ein Risiko. Aber Jenson ist erfahren und er weiß, dass er das vernünftig angehen muss. Aber wir können da ja nichts dagegen tun. Sebastian (Vettel) ist dem gleichen Risiko ausgesetzt. Er hat dasselbe Problem. Ich weiß nicht, ob es Vitantonio Liuzzi (nach seinem Unfall; Anm. d. Red.) in die Startaufstellung schaffen wird. Wenn nicht, stehen Jenson und Sebastian nebeneinander und versuchen, ihren Weg durch die weniger erfahrenen Piloten zu finden."

Teaminterner Wettbewerb

Frage: "Wenn es im Rennen trocken bleibt, droht für Barrichello dann die meiste Gefahr von Webber?"
Brawn: "Absolut. Mark fuhr am Freitag auf den harten Reifen einen sehr guten Longrun. Seine weichen Reifen gingen etwas runter, aber auf den harten war es beeindruckend. Wir waren da einige Zehntel dahinter. Wir haben aber ein paar Änderungen gemacht. Ich weiß aber nicht, wie sich sein Setup seit dem Freitag geändert hat."

Frage: "Habt ihr beim Abtrieb das Risiko gesucht oder seid ihr konservativ?"
Brawn: "Wir befinden uns noch in der Spanne für Trockenheit, aber an der Grenze."

Frage: "Was sagte Jenson nach dem zweiten Qualifyingabschnitt?"
Brawn: "Er war frustriert. Er weiß, dass er eine Chance verpasst hat, weil Sebastian so weit hinten steht. Das ist vergeben."

Frage: "Jock Clear, der Renningenieur von Barrichello, spornte im Funk den Kampf im Team an, weil eine Seite der Garage weitaus erfolgreicher war als die andere. Kommst du damit klar?"
Brawn: "Ja. Ich muss das kontrollieren. Wir wissen alle, das Jock sehr enthusiastisch ist. Aber Shov (Andrew Shovlin; Anm. d. Red.), Jensons Renningenieur, kommt auf seine eigene ruhige Weise damit klar. Er ist ebenso erfolgreich, zeigt sich aber nicht so. Es gibt aber einen gesunden Wettbewerb zwischen beiden Seiten der Box. Das beginnt bei den Fahrern und erfasst auch die Teammitglieder. Letztlich müssen wir aber in den besten Interessen des Teams agieren, das wissen alle."

Lieblings-WM-Szenario

Frage: "Wird die WM-Entscheidung angesichts der Startpositionen erst in Abu Dhabi fallen?"
Brawn: "Solange es da nur zwischen unseren beiden Fahrern entschieden wird, gern. Das ist das Entscheidende. Es wäre schön, wenn wir nach Abu Dhabi gehen und die Entscheidung wird dort zwischen Jenson und Rubens fallen. Das wäre ein toller Abschluss der Saison."

Frage: "Ist Rubens heute noch stärker als zu seiner Zeit mit dir bei Ferrari?"
Brawn: "Man übersieht leicht die Erfolge von ihm bei Ferrari, weil auch Michael Schumacher dabei war. Er fährt jetzt mindestens genauso gut, vielleicht auch etwas besser. Vielleicht hat ihn die Tatsache etwas verbessert, dass Michael nicht mehr an seiner Seite ist."

Frage: "Welche besonderen Eigenschaften bringt Barrichello mit, sodass du ihn für dieses Jahr in das Team geholt hast?"
Brawn: "Er ist schnell. Er ist eine sichere Bank, wenn es um die Materialschonung geht. Zudem gibt er sehr gute technische Rückmeldungen zum Auto. Für mich war diese Entscheidung recht einfach."

Frage: "Welche besonderen Eigenschaften bringt Button mit?"
Brawn: "Auch er ist schnell. Wir haben zwei sehr gute Fahrer, sogar zwei exzellente Fahrer. Jenson dominierte die erste Saisonhälfte, Rubens ist in der zweiten Hälfte stärker. Viel Unterschied gibt es zwischen den beiden aber nicht."

Schwingendes Leistungspendel

Frage: "War Button in der zweiten Saisonhälfte zu konservativ unterwegs?"
Brawn: "Ich weiß nicht, ob das ein konservatives Herangehen war oder das Auto nicht gut funktionierte. Das ist schwer zu sagen. Wir hoffen einfach, dass wir in das letzte Rennen gehen und beide Fahrer um die Meisterschaft kämpfen gehen."

Frage: "Warum konnte Barrichello in der zweiten Saisonhälfte so viel stärker auftrumpfen?"
Brawn: "Er lag in der ersten Hälfte ja gar nicht so weit zurück, einige Rennen liefen einfach nicht in seinem Sinne. Ich sah in der ersten Saisonhälfte Rennen, bei denen er zur Rennmitte einfach nicht die nötige Pace hatte. Was ich aber in der zweiten Saisonhälfte gesehen habe, so wie in Valencia oder Monza, ist, dass er nun die nötige Pace zu Rennmitte hat. Das scheint sich verändert zu haben."

"Ob das an einem besseren Setup liegt oder an etwas anderem, das weiß ich nicht. Es gibt nichts Einzelnes, was den Unterschied gebracht hat. Wir haben das Bremsenmaterial bei ihm geändert, das half vielleicht. Das Material, das er bis dahin verwendete, war wohl etwas zu aggressiv. Im Team gibt es ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen beiden Fahrern, derzeit schlägt das aber etwas in Richtung Rubens aus."

Frage: "Kannst du die beiden Autos des Jahres, also eures und den Red Bull, vergleichen?"
Brawn: "Auch das ist die Saison in zwei Hälften geteilt. Unser Auto war in der ersten Saisonhälfte wohl das stärkste Auto und ihr Auto war das wohl in der zweiten Hälfte. Einige ihrer Entscheidungen am Auto gaben ihnen einen Vorteil, aber das war in der ersten Hälfte des Jahres schwer umzusetzen. Und wir mussten einige Kompromisse am Auto eingehen, damit der Motor passt. Das war in der ersten Hälfte nicht offensichtlich, tat uns aber in der zweiten Hälfte weh. Das Auto ist zu schwer, der Schwerpunkt zu hoch. Aber für das kommende Jahr wird das geändert."

Bei Ferrari war alles anders

Frage: "Wie anders ist diese Erfahrung gegenüber der einseitigen Ausrichtung auf Michael Schumacher bei Ferrari?"
Brawn: "Ferrari ist eine ganz andere Erfahrung. Der Druck war anders und die Umgebung auch. Ich habe meine Zeit dort genossen, aber es war anders. Hier muss ich niemandem Rede und Antwort stehen, wir fahren die Meisterschaft so, wie wir sie fahren wollen. Bei Ferrari gibt es einen riesigen Druck, auch deswegen wählten wir bei Ferrari eben diesen Weg. Das war auch der richtige Ansatz. Wir mussten sicherstellen, dass die Meisterschaft nicht verloren geht, weil beide Fahrer darum kämpfen."

Frage: "Was fühlt sich besser an, der Gewinn der Meisterschaft als Technischer Direktor oder als Besitzer?"
Brawn: "Dieser Titel hier, wenn wir das schaffen. Der wird besonders werden, auch wegen der Begleitumstände, den Schwierigkeiten im Winter und dem Trauma, das Team am Leben zu erhalten. Vor uns stehen massive Aufgaben, um diese Position auch zu halten. Aber wegen der dunklen Tage im Winter wird das etwas ganz Besonderes sein. Das hatte ich nach den wundervollen Ferrari-Jahren nicht erwartet."

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