Formel-1-Countdown 2009: Brawn

Analyse: Warum Ross Brawn zum Märchen des Jahres werden könnte und wie das ehemalige Honda-Team den Winter überstanden hat

(Motorsport-Total.com) - Neue Aerodynamik, Comeback der Slicks, Einführung der Hybridtechnologie KERS, neue Fahrer, ein neues Team: Nie zuvor hat sich in der jüngeren Vergangenheit von einer Formel-1-Saison auf die nächste so viel geändert wie im Winter 2008/09. 'Motorsport-Total.com' nimmt daher bis zum Eintreffen der Grand-Prix-Community im Albert Park am nächsten Donnerstag der Reihe nach alle zehn Teams genau unter die Lupe. Heute: Brawn.

Titel-Bild zur News: Jenson Button, Barcelona, Circuit de Catalunya

Jenson Button stellte am 17. März in Jerez noch einen neuen 2009er-Rekord auf

Aus "Honda Racing F1 Team" mach "Brawn GP Formula One Team": Nach dem werksseitigen Rückzug von Honda aus der Königsklasse, der am 5. Dezember buchstäblich über Nacht und völlig überraschend bekannt gegeben wurde, dauerte es bis zum 6. März, ehe die Zukunft des Rennstalls mit Sitz in Brackley geklärt werden konnte. 91 Tage Ungewissheit also - in einem schnelllebigen Business wie der Formel 1 eine halbe Ewigkeit...#w1#

Zahlreiche Interessenten

Dabei mangelte es nicht an Gerüchten und Spekulationen: Noch im Dezember wurde der mexikanische Kommunikationsmilliardär Carlos Slim schon als neuer Honda-Eigentümer gehandelt, dann tauchte irgendwann der Name von Dauerbrenner David Richards auf und zu guter Letzt träumten die britischen Medien von einer Allianz mit der Virgin-Gruppe des charismatischen Geschäftsmannes Richard Branson. Aber all diese Diskussionen liefen ins Leere.

Ross Brawn und Nick Fry

Haben in Brackley weiterhin die Zügel in der Hand: Ross Brawn und Nick Fry Zoom

Stattdessen bastelte Teamchef Ross Brawn im Hintergrund heimlich, still und leise an seinem eigenen Angebot an Honda. Zunächst war man davon ausgegangen, dass auch Geschäftsführer Nick Fry als Teilhaber mit an Bord sein würde, doch dem war nicht so. Also wechselte das 700 Mann starke Team mit Sitz in Brackley Anfang März den Besitzer - übrigens für gerade mal ein symbolisches Pfund, also wahrlich zum Schnäppchenpreis.

Bei genauerem Hinsehen trägt Brawn dennoch ein hohes Risiko: Der Weltmeistermacher von Michael Schumacher bei Ferrari wird zwar die Belegschaft reduzieren, haftet aber finanziell - noch dazu vorerst ohne Sponsoren, weil Honda 2007 und 2008 ganz auf die hauseigene Umweltschutzkampagne gesetzt hat. Das heißt, dass im Laufe der Saison unbedingt Sponsoren gewonnen werden müssen, am besten natürlich mit Erfolgen auf der Rennstrecke.

Konkurrenz staunt

Das könnte eine Erklärung für die überragenden Zeiten des BGP 001 sein, der an sieben Testtagen viermal ganz vorne stand und bei der Konkurrenz für entsetztes Achselzucken sorgt: "Deren Zeiten können wir nicht einmal ohne Benzin im Tank fahren", muss beispielsweise Vizeweltmeister Felipe Massa von Ferrari eingestehen. Und auch BMW Motorsport Direktor Mario Theissen ist baff: "Die sind nicht vorne dabei, die sind vorne!"

Jenson Button, Barcelona, Circuit de Catalunya

Bei den Wintertestfahrten war das Brawn-Team die ganz große Sensation Zoom

Dabei gibt es möglicherweise sogar eine Erklärung für das Brawn-Winterwunder: "2008 haben sie auf Drängen von Ross Brawn hin die Entwicklung sehr früh eingestellt, um auf 2009 hinarbeiten zu können. Das haben sie zumindest gesagt - und offensichtlich war das kein Bluff, denn die ersten Testzeiten waren wirklich beeindruckend", analysiert 'Motorsport-Total.com'-Experte Marc Surer, bei den Testfahrten in Barcelona als Boxengassenspion zugegen.

Der ehemalige Formel-1-Pilot sieht Brawn in Melbourne "sehr weit vorne", schränkt aber ein: "Sie haben wegen der langen Wartezeit auf eine Lösung im Winter viel von ihrem Vorsprung wieder verloren." Zum Beispiel ist das Team um das von Honda in Japan entwickelte KER-System gestorben, das nicht im Kaufpreis inkludiert war. Umso mehr stöhnt die Konkurrenz: "Stellt euch vor, die hätten auch noch ein funktionierendes KERS..."

Kein KERS von McLaren-Mercedes

Da können wir Entwarnung geben: Der Motorendeal mit Mercedes beinhaltet das gleiche V8-Triebwerk wie für McLaren und Force India, nicht inkludiert sind jedoch Getriebe, Hydraulik und eben KERS. Für die Integration des Mercedes-Motors ins Chassis hatten die Designer in Brackley nur wenige Wochen Zeit, doch dieser Nachteil wird von der erstklassigen Fahrbarkeit wieder wettgemacht. Honda war hier offenbar nicht auf dem Stand der Stuttgarter.

Ross Brawn, Barcelona, Circuit de Catalunya

Clever eingefädelt: Ross Brawns Team zählt in Melbourne zu den Favoriten Zoom

In Summe ergeben all diese Faktoren ein Auto, das im Moment siegfähig zu sein scheint. "Ich glaube ganz ehrlich, dass die richtig schnell sind", meint Ex-Formel-1-Designer Gary Anderson. "Dass sie untergewichtig gefahren sind, um ein paar Schlagzeilen zu schreiben, das kann ich mir nicht vorstellen. Dafür ist Ross Brawn zu clever." Clever ist auch, Honda ein fertiges Siegerauto um ein Pfund abzukaufen und dann unter eigenem Namen damit zu gewinnen.

War das etwa der Grund dafür, dass Brawn bis zum Schluss gekämpft hat, das Team doch am Leben zu erhalten? Experte Surer glaubt an diese Theorie: "Ich denke, dass Ross Brawn das Team deswegen retten wollte, weil er gesehen hat, dass das Auto richtig gut ist und es schade wäre, nicht damit an den Start zu gehen." Man stelle sich vor: Honda baut auf Kosten der Saison 2008 ein Siegerauto - und das verstaubt dann in irgendeiner Garage in Brackley, ohne je gefahren zu sein...

Honda hält sich ein Hintertürchen offen

Doch auch wenn Honda nun nicht mehr die Lorbeeren für etwaige Brawn-Erfolge ernten darf, so sieht Surer bei den Japanern trotz allem keine groben Fehlentscheidungen: "Für Honda hätte es meiner Meinung nach auch keine bessere Lösung gegeben. Das haben sie klug eingefädelt", findet der Schweizer und bezieht sich damit auf das geheime Arrangement, das Honda im Zuge der Übernahme mit Brawn getroffen hat.

Honda-Fabrik in Brackley

Die 700 Arbeitsplätze in Brackley konnten mittelfristig gesichert werden Zoom

Denn Brawn bekam auf der Suche nach einem gesicherten Budget Unterstützung von Bernie Ecclestone, der ihm einen Vorschuss auf offene FOM-Gelder gewährte, und auch von Honda. Der Automobilhersteller hätte tief in die Tasche greifen müssen, um die 700 Mitarbeiter in Brackley abzufinden, also sagte man stattdessen Brawn finanzielle Hilfe zu, damit der die Arbeitsplätze mittelfristig sichern kann.

Und das Beste kommt zum Schluss: Mit dieser Konstellation hält sich Honda das Hintertürchen offen, nach überstandener Weltwirtschaftskrise doch wieder in die Formel 1 einzusteigen und das Brawn-Team zurückzukaufen. Großer Gewinner wäre dann Brawn selbst: Rennstall um ein Pfund gekauft, mit einem fertigen Auto Erfolge eingefahren, anschließend durch den Rückverkauf zu einem Vermögen gekommen. Aber das ist noch Zukunftsmusik...

Aerodynamisch das Maß aller Dinge

Gegenwart ist die Weiterentwicklung des BGP 001, der optisch ungemein elegant daherkommt: Die relativ breite Nase erinnert an die dominanten Ferraris zu Beginn des Jahrzehnts, die Lufteinlässe der Seitenkästen sind so schmal geschlitzt wie bei keinem anderen aktuellen Fahrzeug und der Diffusor lotet das Reglement zumindest bis an die Grenze aus. Aerodynamisch gesehen, da sind sich alle einig, ist Brawn ein großer Wurf gelungen.

Rubens Barrichello, Jerez, Circuit de Jerez

Die Lufteinlässe des BGP 001 sind so klein wie bei keinem anderen Auto Zoom

"Dass sie das Auto spät vorgestellt haben, bedeutet auch, dass sie mehr Zeit hatten, um die aerodynamischen Komponenten feinzutunen und im Windkanal zu optimieren", weiß Anderson und relativiert die Nachteile des ungewissen Winters. "Auch die späte Motoreninstallation ist kein Drama - das haben sie gut hinbekommen. In Summe hatten sie durch die Verspätung also sogar eher einen Vorteil, was die Arbeit an der Performance angeht."

Und auch hinsichtlich der Zuverlässigkeit muss man sich keine Sorgen machen - bis auf einen Getriebeschaden am Wagen von Jenson Button beim letzten Test in Jerez lief das Brawn-Mercedes-Paket präzise wie ein Schweizer Uhrwerk. So kamen an sieben Streckentagen immerhin noch 3.300 Kilometer zusammen - mehr schaffte im gleichen Zeitraum kein anderes Team! Zum Vergleich: Die Silberpfeile spulten zwischen 9. März und heute gerade mal 2.500 Kilometer ab.

Barrichello statt Senna

Fahrerseitig schickt Brawn neben dem fix gesetzten UK-Star Button auch noch Oldie Rubens Barrichello ins Rennen, mit 270 Grands Prix der längstdienende Formel-1-Fahrer aller Zeiten. Barrichello vertrieb sich im Winter mit Golfen in Kalifornien die Zeit und stach quasi kampflos seinen jüngeren Landsmann Bruno Senna aus, der lange als Favorit gehandelt wurde. Alter geht vor Jugend - eine fragwürdige Entscheidung?

Diffusor des Brawn-Mercedes BGP 001, Rubens Barrichello, Barcelona, Circuit de Catalunya

Erfolgsgeheimnis: Der Diffusor ist ähnlich konstruiert wie bei Toyota und Williams Zoom

"Ich muss sagen, dass ich die Entscheidung richtig finde", widerspricht Surer. "Sie konnten aufgrund der wackeligen Situation nicht viel testen. Da braucht es einen Mann, der ins Auto steigt und sofort sagen kann, was Sache ist. Barrichello ist sehr erfahren und kann genau das." Außerdem vergessen viele: "Rubinho", wie er von seinen Fans liebevoll genannt wird, gewann 2008 das Stallduell gegen Button sowohl im Qualifying wie auch im Rennen.

Nun geht Brawn zumindest als sentimentaler Favorit in die neue Formel-1-Saison - viele Fans wünschen sich das Wunder von Melbourne. Totgesagte leben eben doch länger, auch in der Königsklasse. Die große Frage bleibt allerdings, wie realistisch die sensationellen Testzeiten waren oder ob das Team doch geblufft hat, um Moral zu tanken und Sponsoren anzulocken. Die Antwort darauf gibt es am 28. März im ersten Qualifying 2009.


Fotos: Brawn, Testfahrten in Barcelona


Saisonstatistik 2008:

Team:

Konstrukteurswertung: 9. (14 Punkte)
Siege: 0
Pole-Positions: 0
Schnellste Rennrunden: 0
Podestplätze: 1
Ausfallsrate: 22,2 Prozent (6.)
Durchschnittlicher Startplatz: 14,8 (9.)
Bisherige Testkilometer 2009 mit dem neuen Auto: 3.300 (8.)

Jenson Button (Startnummer 18):

Fahrerwertung: 18. (3 Punkte)
Siege: 0
Pole-Positions: 0
Schnellste Rennrunden: 0
Durchschnittlicher Startplatz: 14,7
Bestes Ergebnis Qualifying: 9.
Bestes Ergebnis Rennen: 6.
Ausfallsrate: 22,2 Prozent (12.)
Bisherige Testkilometer 2009: 1.545 (19.)

Rubens Barrichello (Startnummer 19):

Fahrerwertung: 14. (11 Punkte)
Siege: 0
Pole-Positions: 0
Schnellste Rennrunden: 0
Durchschnittlicher Startplatz: 14,8
Bestes Ergebnis Qualifying: 9.
Bestes Ergebnis Rennen: 3.
Ausfallsrate: 22,2 Prozent (12.)
Bisherige Testkilometer 2009: 1.755 (16.)