• 01.07.2005 20:25

Diskussion: Indy 2005 aus Sicht der Michelin-Teams

Michelin, die betroffenen Teamchefs und Bernie Ecclestone stellten sich heute bezüglich des Rennens in Indianapolis ausführlich den Medien

(Motorsport-Total.com) - Um die Geschehnisse von Indianapolis restlos aufzuklären, stellten sich die Michelin-Teamchefs, Formel-1-Verantwortlicher Nick Shorrock von Michelin und Bernie Ecclestone heute Nachmittag einem improvisierten Briefing mit den in Magny-Cours anwesenden Medienvertretern. Tenor der Diskussionsrunde: Es bestand schlicht und einfach keine Möglichkeit für die Michelin-Teams, am Rennen teilzunehmen.

Titel-Bild zur News: Michelin-Pressekonferenz in Magny-Cours

Die Diskussion über Indianapolis fand vor dem Michelin-Truck in Magny-Cours statt

Frage: "Ron, wie siehst du die Vorfälle von Indianapolis jetzt, mit fast zwei Wochen Abstand?"
Ron Dennis (McLaren-Mercedes): "Ich sage das jetzt aus dem Gedächtnis heraus - man mag mir verzeihen, wenn ich ungenau bin. Der erste Reifenschaden trat bei Zonta am Freitagmorgen auf - und zwar im Infield, nicht in der Kurve, die später als das Hauptproblem dargestellt wurde. Die erste Information von Michelin war, dass Toyota mit dem niedrigsten von Michelin empfohlenen Reifendruck gefahren ist. Also hat man es als Problem mit dem Reifendruck einsortiert. Diese Information wurde im ersten Training an alle Teams weitergeleitet."#w1#

Schumacher-Unfall passierte bereits mit erhöhtem Reifendruck

"Dann kam es bei Ralf Schumacher zu besagtem Reifenplatzer, obwohl er zu dem Zeitpunkt schon mit höher eingestelltem Reifendruck unterwegs war. Bis dahin hatte er mit jenem Reifensatz nur vier fliegende Runden in der Session davor absolviert. Es war seine erste fliegende Runde im Training mit dem Unfall. Dadurch haben sich natürlich alle Sorgen gemacht, was denn das Problem sein könnte. Unser Gefühl war immer noch, dass es ein reines Toyota-Problem sein könnte, aber Michelin hat am Freitagabend ein paar Reifensätze von allen anderen Teams untersucht - und ist dabei auf sechs weitere Reifen mit Fehlern gestoßen."

"Michelin transportierte diese Reifen zu einer Untersuchung nach Frankreich und kommunizierte gleichzeitig an uns, dass es möglicherweise ein Herstellungsproblem sein könnte. Für den Fall, dass sich diese Theorie erhärtet hätte, flog Michelin Reifen der gleichen Konstruktion, aber einer anderen Mischung ein, die für Barcelona gedacht waren. Diese Reifen sind um 8:30 Uhr am Sonntagmorgen in Indianapolis angekommen."

"Am Samstagmorgen teilte uns Michelin dann mit, dass sie das Problem auf den dynamischen Prüfmaschinen in Clermont nicht simulieren konnten. Wir Michelin-Teams tappten also bezüglich des eigentlichen Problems noch immer im Dunkeln. Michelin legte uns anschließend nahe, in den beiden Freien Trainings am Samstagmorgen nicht mehr als zehn fliegende Runden zu absolvieren. Die meisten Teams entschlossen sich daraufhin, sehr sorgsam mit den Reifen umzugehen - und absolvierten nur vier fliegende Runden. Ein paar Teams haben auch bis zu acht fliegende Runden absolviert, aber die Mehrheit hatte nach dem vierten Freien Training Reifen mit nur vier fliegenden Runden auf dem Buckel."

Qualifying wurde in Ungewissheit bestritten

"Michelin hat einige von diesen Reifen sofort nach South Carolina geflogen und die Reifen geröntgt, um herausfinden zu können, in welchem Zustand sie sich befanden. Wir absolvierten dann das Qualifying. Anschließend wurden Reifen nach dem Qualifying gemeinsam mit einem FIA-Offiziellen - das musste wegen der Parc-Fermé-Regel so sein - nach Acron geflogen, wo wieder ein Röntgenvorgang durchgeführt wurde. Parallel dazu rüstete Michelin in Frankreich die vorhin bereits angesprochene dynamische Maschine auf, um die Steilkurve in Indianapolis noch besser simulieren zu können. Am Samstag um 22:00 Uhr wurden wir informiert, dass wir die Daten früh am Sonntagmorgen erhalten würden."

"Um 6:30 Uhr morgens am Sonntag war klar, dass es sich um ein ernsthaftes Problem handelt. Bei den Simulationen in Frankreich kollabierten nämlich nicht nur die Reifen für Indianapolis, sondern auch die für Barcelona vorgesehenen Ersatzreifen. Michelin teilte uns daraufhin mit, dass keine Reifen zur Verfügung stehen mit denen man ein Rennen fahren könnte."

Um 8:00 Uhr war die Schwere des Problems bekannt

"Es fand anschließend jede Menge Schriftverkehr statt und es gab auch viele Pressemitteilungen, aber das für uns relevante Dokument war jenes von etwa 8:00 Uhr, in dem stand, dass wir mit den Reifen nicht fahren sollten, wenn nicht die Geschwindigkeit in der Steilkurve reguliert wird."

"Den ganzen Tag lang haben sich die Teams dann um eine Lösung bemüht - genau wie Bernie Ecclestone, Tony George. Natürlich waren wir in einer sehr schwierigen Situation. Die Wahrheit ist, dass die betroffenen Teams Sicherheit vor jeden kommerziellen Gesichtspunkt gestellt haben. Dieser Punkt wurde von den Fahrern sehr geschätzt."

"Hinter den Kulissen gingen die Diskussionen unverändert weiter, und wir konnten nicht einmal die Fahrer angemessen informieren. Es gab zunächst einmal die Entscheidung, auf die Startaufstellung zu fahren. Bernie war besorgt, überhaupt nicht starten zu können. Die Option eines Rennens existierte nicht. Es ist so einfach. Jeder kennt das Rechtssystem in Amerika. Das Dokument von Michelin brachte mit sich, dass wir rechtlich belangt worden wären, wenn ein Unfall passiert wäre - und selbst wenn das Rennen glimpflich abgelaufen wäre, hätten wir angeklagt werden können. Ein Gesetz in Indiana besagt: 'Wenn man eine gefährliche Aktion riskiert, ohne dass tatsächlich etwas passiert, dann reicht das alleine schon für einen Schuldspruch.' Daher wundert mich, dass noch immer nicht verstanden wird, dass die Möglichkeit eines Rennens für uns einfach nicht bestanden hat."

Keine Zustimmung von Michelin, kein Rennen...

"Voraussetzung für ein Rennen war eine schriftliche Zustimmung von Michelin dafür - und Michelin hätte nur mit einer Schikane in der Steilkurve zugestimmt. So einfach ist das. Damit will ich niemandem die Schuld geben. Ich sage das völlig wertfrei: Es gab für uns nicht die Möglichkeit, am Rennen teilzunehmen."

Frage: "Flavio, dein Standpunkt?"
Flavio Briatore (Renault): "Wenn ich in der Zeitung lesen muss, dass der Grand Prix eine Farce war, dann stimmt das nicht. Es war sehr schmerzvoll für uns, das Rennen nicht fahren zu können - für die Fahrer, für die Teams, für die Sponsoren, für Michelin. Amerika ist ein riesiger Markt für Michelin. Es war keine Farce."

Dennis: "Wenn wir am Samstagmorgen schon gewusst hätten, was wir am Sonntagmorgen wussten, hätten wir auch die Freien Trainings niemals bestritten. Bei den Tests in South Carolina überstand keiner der Reifen mehr als drei oder vier simulierte Runden."

Michelin bestreitet generellen Produktionsfehler

Nick Shorrock (Michelin): "Ron hat vorhin von einem Produktionsfehler gesprochen. Dazu möchte ich eines klarstellen: Nach allen Untersuchungen wissen wir, dass es mit den verwendeten Materialien keinerlei Problem gegeben hat, auch nicht mit dem Produktionsvorgang. Wir haben nur herausgefunden, dass die Art und Weise, wie die Reifen in der Steilkurve belastet werden, sich nicht mit den Reifen vertragen hat."

Frage: "Warum wurden diese Informationen nicht schon in Indianapolis kommuniziert?"
Dennis: "Dazu möchte ich klarstellen, dass dies keine Pressekonferenz ist, sondern ein Briefing. Wir wollen die Presse nicht im Dunkeln tappen lassen, sondern wir hatten diese Informationen damals einfach nicht vorliegen."

Briatore: "Wir wollen hier nicht über die FIA oder sonst irgendjemanden diskutieren. Wir wollen den Medien erklären, was in den drei Tagen in Indianapolis passiert ist."

Frage: "Nick, wie wurde die Reifenwahl für Indianapolis festgelegt?"
Shorrock: "Die meisten Tests vor und während der Saison, bei denen die Reifenwahl entschieden wird, werden in Europa ausgetragen. Daher hatten wir nicht die Möglichkeit, in Indianapolis zu testen. Die extremen Bedingungen in diesem Jahr kamen durch eine Kombination aus Geschwindigkeit, Fliehkräften und Aerodynamik zustande. Wir konnten im Vorfeld des Rennens keine Praxistests durchführen, sondern mussten uns auf unsere Simulationen verlassen. Diese Simulationen müssen wir anhand der Erfahrungen von Indianapolis nun natürlich neu anpassen."

Teamchefs stellen sich voll hinter Michelin

Dennis: "Michelin hatte keine einfache Entscheidung zu treffen. Sie nahmen im Sinne der Sicherheit einen schweren Imageschaden in einem ihrer wichtigsten Märkte in Kauf. Was kann man mehr von ihnen verlangen als dass sie ihren Fehler öffentlich eingestehen und ihren Teams nahe legen, das Rennen nicht zu bestreiten? Danach trafen sie die Entscheidung, uneigennützig ein Rennen für das Publikum fahren zu wollen. Da frage ich mich: Wenn schon jemand die Verantwortung für die Angelegenheit übernommen hat, wie können dann jetzt die Teams dafür verantwortlich gemacht werden? Wir hatten keine andere Wahl. Wir haben die Sicherheit vor alle kommerziellen Interessen gestellt."

Frage: "Christian, warum wird Red Bull gegen das Urteil der FIA keinen Protest einlegen?"
Christian Horner (Red-Bull-Cosworth): "Es gibt eine siebentägige Frist. Wir haben nicht gesagt, dass wir nicht Protest einlegen werden, aber wir wollen erst alle uns freistehenden Optionen in Betracht ziehen."

John Howett (Toyota): "Ich möchte bemerken, dass man über die Schikane vielleicht jetzt nicht mehr diskutieren sollte, aber es steht fest, dass wir alles Mögliche unternommen haben, um das amerikanische Publikum zu unterhalten. Man muss aber verstehen, dass wir kein Gesetz brechen können. Mir geht es aber darum, dass sich die Formel 1 auch für solche Krisensituationen wie in Indianapolis Wege überlegen muss, wie man dem wichtigsten Kunden, der nun einmal das Publikum ist, dennoch etwas bieten kann. Darüber muss man sich Gedanken machen."

Briatore: "Es ging einfach nicht anders"

Briatore: "Man muss Michelin auch zugute halten, dass sie die Courage haben, erstens einen Fehler einzugestehen und zweitens die Fans finanziell dafür zu entschädigen. Noch einmal: Wir haben am Sonntag von 8:00 bis 13:00 Uhr alles versucht, um einen Weg für das Rennen zu finden, um die Zuschauer zu unterhalten. Bernie hat uns gesagt, dass wir auf die Startaufstellung fahren sollen, um uns auch noch in letzter Minute alles offen zu halten. Mit dem Dokument von Michelin konnten wir aber einfach nicht fahren. Es war sehr schmerzvoll für uns alle, aber es ging einfach nicht anders."

Dennis: "Wir haben um 12:20 Uhr noch versucht, Lösungen zu finden. Es geht immer um Risiken im Leben. Die Formel 1 ist Risiko. Als wir überlegt haben, was man machen könnte, teilte uns Michelin mit, dass die maximal akzeptable Belastung für die Reifen jene von Kurve fünf sei. Wir wollten also ein entsprechendes Belastungsumfeld schaffen und die letzte Kurve entsprechend entschärfen. Wenn uns das gelungen wäre, hätte uns Michelin autorisiert, am Rennen teilzunehmen."

Boxengasse war zu keinem Zeitpunkt eine Option

Frage: "Wäre es eine Möglichkeit gewesen, jede Runde durch die Boxengasse zu fahren?"
Dennis: "Die Boxengasse wurde zu keinem Zeitpunkt als Möglichkeit diskutiert. Frank (Williams; Anm. d. Red.) hat das einmal ganz kurz erwähnt, aber es wurde innerhalb der Gruppe nie ernsthaft besprochen. Es fand ein Fahrerbriefing statt, Bernie und ich versuchten gemeinsam mit Tony George und seinem Team eine Lösung zu finden, denn der Druck wurde immer größer."

Frage: "Bernie, wie ist dein Standpunkt?"
Bernie Ecclestone (Formel-1-Promoter): "Der Punkt ist - und das gilt im Nachhinein sogar noch mehr -, dass es keine Optionen gegeben hat. Man muss einmal sagen, dass Michelin auch nach der Veranstaltung noch sehr gut mit der Angelegenheit umgegangen ist und noch umgeht. Sie haben einen Fehler eingestanden und sind bereit, dafür zu bezahlen. Es gab aber keine anderen Optionen. Wenn es die gegeben hätte, dann hätten wir sie wahrgenommen."