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Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Die schwierigste Montags-Kolumne des Formel-1-Jahres 2014: Warum es nach dem Drama um Jules Bianchi fehl am Platz ist, krampfhaft nach Schuldigen zu suchen

Titel-Bild zur News: Marussia-Mechaniker

Schon wieder: Schwere emotionale Tage für das gesamte Marussia-Team Zoom

Liebe Leser,

im vergangenen Winter entwickelten mein Chefredakteur-Stellvertreter Roman Wittemeier und ich gemeinsam die Idee für diese inzwischen schon traditionelle Montags-Kolumne. Keinen "Man of the Race" wollen wir küren, sondern eher eine Figur oder einen Sachverhalt auf der anderen, negativen Seite des Spektrums abbilden. Abwechslungsreich, bissig und provokant sollte die Kolumne sein, die Leser sollte sie zu Diskussionen anregen. Ein bisschen Augenzwinkern darf ruhig dabei sein. Schnell war der Titel "Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat" geboren.

Bisher fiel es uns meistens leicht, eine Person zu finden, die in der Nacht nach dem Rennsonntag "schlecht geschlafen" hat. Metaphorisch gesprochen. Nach dem Grand Prix von Japan in Suzuka geht das nicht.

Dass man an so einem Montag nicht zum Tagesgeschäft übergehen und einen sportlichen Verlierer auswählen kann, versteht sich von selbst. Schlecht geschlafen haben viele: Adrian Sutil zum Beispiel, der den haarsträubenden Unfall aus nächster Nähe mitansehen musste und danach kreidebleich in den Paddock zurückkam. Oder auch der Fahrer des Radladers, unter den der Marussia rutschte, in dessen Lage sich unser Streckenposten-Gastkolumnist Christian Ebner bestens hineinversetzen kann.

Schwierige Stunden für die Familie

Wir alle können uns nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es Bianchis Eltern geht, die quälende Stunden im Flieger verbringen mussten, bis sie endlich am Krankenbett ihres um sein Leben kämpfenden Sohnes in Yokkaichi ankamen. Über einen so langen Zeitraum in der Luft zu sein und nichts unternehmen zu können, ist eine emotionale Tortur, die man sich als Außenstehender gar nicht vorstellen kann. Ich schreibe das als jemand, der die Krebsdiagnose seiner Mutter während einer Auslands-Dienstreise telefonisch übermittelt bekam.

Jules Bianchi, Maria De Villota

Tragisch: Jules Bianchi in seinem Marussia, mit einem Gedenkstern für Maria de Villota Zoom

Mir fallen John Booth und Graeme Lowdon ein, die gerade ein tragisches Deja-vu erleben: Am 3. Juli 2012 verunglückte Maria de Villota bei Testfahrten in Duxford in einem ihrer Autos so schwer, dass sie neben anderen schwersten Verletzungen ihr rechtes Auge verlor. Ein Jahr später wurde sie tot in einem Hotelzimmer in Sevilla aufgefunden. Ihr Marussia war in Duxford unter die offene Ladeklappe eines LKW gerutscht. Die Parallelen zu Jules Bianchis Unfall gestern in Suzuka sind schockierend.

Man könnte diese Liste an betroffenen Personen endlos fortsetzen, letztendlich ist es aber den Umständen völlig unangemessen, jemanden auszuwählen, der letzte Nacht am "schlechtesten geschlafen" hat. Trotzdem gilt es an einem Tag wie diesem, ein paar Dinge loszuwerden.

Kommentatoren suchen Schuldige

Insbesondere an die Adresse von Kommentatoren, die der FIA, Bernie Ecclestone und den Veranstaltern in Suzuka zumindest eine Teilschuld am Unfall geben, weil das Rennen nicht vorverlegt oder abgesagt wurde. Ja, es hat stark geregnet, und ja, der Regen hat in jener Phase des Rennens zugenommen. Aber vor dem Start um 15:00 Uhr hat es genauso geregnet, und unfahrbar waren die Bedingungen keineswegs.

Gut erinnere ich mich an die zahlreichen Funksprüche von Lewis Hamilton & Co., die voller Unverständnis schimpften, weil zu Beginn immer noch hinter dem Safety-Car gefahren wurde. Viel zu lang, wie die meisten Fans in den sozialen Medien kritisierten. Und auch ich selbst ertappte mich nach ein paar Runden bei dem Gedanken, ob es wirklich sein kann, dass die Formel 1 inzwischen so verweichlicht ist. Ein Gedanke, für den ich mich im Nachhinein schäme, den aber sicher viele hatten.


Fotostrecke: Das Wochenende des Jules Bianchi

Alexander Wurz hat völlig recht, wenn er sagt, dass die FIA die Sicherheit der Fahrer immer in den Vordergrund gestellt hat und man den Verantwortlichen keinen Vorwurf machen kann. So tragisch Jules Bianchis Schicksal auch ist, sein Unfall war eine Verkettung von äußerst unglücklichen Umständen. Ein völlig unvorhersehbarer "Freak-Accident", wie nicht nur Williams-Ingenieur Robert Smedley sagt.

Doppel-Gelb bedeutet: Gegebenenfalls anhalten!

Denn: Die Unfallstelle war durch gelbe Flaggen abgesichert, geschwenkt gleich von zwei Streckenposten. Das bedeutet unmissverständlich: Sehr große Gefahr voraus, Tempo verlangsamen, gegebenenfalls anhalten, striktes Überholverbot. Jules Bianchi hätte in der verhängnisvollen Kurve 8 nie von der Strecke rutschen dürfen. Gar nicht auszudenken, wie viele Tote es gegeben hätte, wenn er statt in den gelben Radlader in die herumstehenden Streckenposten gerast wäre.

Motorsport ist gefährlich, das steht auf der Rückseite jeder Eintrittskarte. Die hohen Sicherheitsstandards, die nach den tragischen Ereignissen von Imola 1994 durchgeboxt wurden, lassen uns das manchmal vergessen. Aber wenn Rennautos mit mehr als 300 km/h durch die Gegend rasen, entstehen Kräfte, die man bestenfalls zu kontrollieren versuchen kann. Das wird in der Formel 1 vorbildlich gemacht. Ein Restrisiko bleibt immer. Menschlicher Leichtsinn vermutlich auch.


Kurve 8 nach dem Unfall von Jules Bianchi

Selbst "Freak-Accidents" passieren zu oft

Das darf jedoch keinesfalls dazu führen, dass wir uns zurücklehnen und sagen: Verkettung unglücklicher Umstände, Pech gehabt, wird schon nicht wieder passieren. Auch Verkettungen unglücklicher Umstände gibt es immer wieder. Felipe Massa wurde in Budapest 2009 ins Koma geschlagen, weil eine Stahlfeder durch die Luft flog. In Montreal 2013 starb ein Streckenposten, weil er von einem Bergefahrzeug niedergefahren wurde. Auch "Freak-Accidents" gibt es öfter, als uns lieb ist.

Medical-Car unterwegs zu Jules Bianchi

Das Medical-Car der FIA unterwegs zur Unfallstelle von Jules Bianchi in Suzuka Zoom

Es gilt, auch das Risiko für solche "Freak-Accidents" zu minimieren. Wenn ein Spaziergänger daran stirbt, dass ihm ein Klavier aus der 17. Etage auf den Kopf fällt, sollte man sich etwas überlegen, damit das in Zukunft nicht mehr passieren kann. Und wenn ein Formel-1-Fahrer trotz Doppel-Gelb in ein Bergefahrzeug kracht, in einem Fenster von wenigen Metern auf einer fast sechs Kilometer langen Strecke, ohne Fehlverhalten von Rennleitung oder freiwilligen Helfern, dann müssen sich die schlauesten Köpfe der Formel 1 damit auseinandersetzen. Werden sie auch.

Stehen bleibt: Niemand ist schuld daran, dass Jules Bianchi gerade im Krankenhaus in Yokkaichi um sein Leben kämpft. Wir alle wünschen uns, dass er seinen Überlebenskampf gewinnt, ja vielleicht sogar eines Tages wieder Autorennen fahren kann. Und es gilt zuallererst, die genauen Umstände und Ursachen für den Unfall sorgfältig zu analysieren. Es ist nicht der Tag für Schnellsch(l)üsse. Für populistische Rufe nach einem Schuldigen noch weniger.

In Gedanken bei Jules Bianchi

Christian Nimmervoll