Ross Brawn: Noch keine Protestentscheidung
Ferraris Technischer Direktor Ross Brawn über die Unklarheiten der Stallorder, den Reifen und einen möglichen Protest
(Motorsport-Total.com) - Frage: "Was denkst du über den Formel-1-Kalender, der vor kurzem herausgegeben wurde?"
Ross Brawn: "Bahrain wird vom Standpunkt eines Ingenieurs aus sehr interessant werden. Es wird sehr heiß werden und wir werden da wohl einen starken Kontrast sehen, weil wir unmittelbar vom heißesten Rennen zum Nürburgring fahren, was dann wohl eines der kältesten wird. Aber neue Strecken sind immer interessant, es kann einem Team einen Vorteil geben, wenn man auf einem neuen Kurs fährt. Die meisten Pisten, auf denen wir fahren, kennen wir sehr gut, sodass es da kaum Schwankungen gibt."

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Ross Brawn: "Es war keine Absicht von Michelin"
Frage: "Wie ist dein Gefühl, was die letzten Rennen der Saison angeht? Gibt es Unterschiede zu den normalen Rennen? Und beobachtest du die Konkurrenz die ganze Zeit?"
Brawn: "Man ist angespannter, weil man das Ziel ja vor Augen hat. Man muss versuchen das zu kontrollieren, damit es nicht zum Problem wird. Wir sind ja ohnehin sehr anspruchsvoll, dennoch wird alles doppelt geprüft, und es wird noch einmal hingeschaut. Wir sind da sehr vorsichtig. Wir bleiben abends lieber eine Stunde länger, um alles ein weiteres Mal durchzugehen. Jedes Rennen ist wichtig, aber deine Arbeitsweise wird beeinflusst, wenn die Meisterschaft langsam dem Ende zugeht."
Stallorder: "Wo ist die Grenze?"
Frage: "Wie sieht es mit der Interpretation der Stallorder aus? Immerhin könnte sie in den letzten drei Rennen eine Rolle spielen."
Brawn: "Das ist schon ein sehr kompliziertes Gebiet. Ein Fahrer gehört ja auch zum Team, daher könnte er die Order auf sich nehmen. Es wäre also möglich, dass das Team einen Schritt zurück macht und sagt: 'Das hat nichts mit uns zu tun, er hat die Entscheidung getroffen.' Man könnte das nie beweisen. Ich hoffe, dass wir nie in so was verwickelt werden, aber es ist schwierig, und ich denke, dass wir eine bessere Definition davon brauchen, was eine Teamorder ist. Michael (Schumacher) hat bereits die Szene mit David (Coulthard) und Kimi (Räikkönen) angesprochen (in Silverstone; Anm. d. Red.). Das war okay, es ist akzeptabel, wenn die Fahrer auf unterschiedlichen Strategien unterwegs sind, damit der eine nicht das Rennen des anderen stört. Einen Präzedenzfall hatten wir also schon. Es wäre aber schön zu wissen, wo genau die Grenzen liegen. Wenn man im letzten Rennen zwei Fahrer hat, wobei nur noch einer Meister werden kann, dann möchte man nicht, dass der eine dem anderen im Weg steht. Ich denke, dass das legitim ist. Wenn er dann aber Platz macht, und damit die Position des Teamkollegen verbessert, dann könnte das über dem Erlaubten liegen, aber das ist nicht ganz klar."
Der normale Verfolgungswahn der Formel 1
Frage: "In den letzten Wochen wurde viel über die Reifen diskutiert. Was denkst du jetzt über die Situation?"
Brawn: "Wir haben schon zuvor gesagt, dass wir alle gerne Regelungen hätten, die nur schwarz oder weiß sind. Aber nun hat man Interpretationsfreiraum. Unsere Auslegung war, dass die Breite nicht nur bei neuen Reifen eingehalten werden muss. Ich kann verstehen, dass dies jemand anders verstehen will, aber so war es nicht gedacht. Unsere Interpretation war also anders als die der Michelin-Teams. (Einwurf von Patrick Head: 'Warum habt hier 38 Rennen gewartet, bis ihr das beanstandet habt?'; Anm. d. Red.) Dieses Reifen hatte doch Williams in Monaco. (Abermals Head: 'Es ist die gleiche Gussform wir beim Reifen in Imola 2001!') Renault hat aber andere Reifen als ihr verwendet. Es gibt eine ganze Bandbreite von Michelin-Reifen. Wir waren uns diesem Problem vorher nicht bewusst, man kann uns also kein bewusstes Timing vorwerfen."
"Bridgestone ist eine sehr ehrenvolle Firma, sie kannten das Problem schon länger, traten aber nicht an uns heran. Sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollen und baten uns nach dem Ungarn-Grand-Prix um Hilfe. Sie haben uns Bilder gezeigt und gefragt, wie wir uns das erklären. Wir haben dann Charlie (Whiting) um eine Erklärung gebeten. Er sagte, dass er der Sache nachgehen würde, denn erklären konnte er sie sich auch nicht. Dann ging er weg und am Mittwoch nach dem Rennen ging der Brief an alle Teams."
"Und was Treffen am Dienstag in Maranello angeht: Dieses war bereits seit Wochen fixiert, um über die Geschäfte in der Formel 1 zu reden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass wir zusammen mit der FIA Dinge bereden. Wir haben sogar ausgemacht, nicht über die Reifen zu reden, weil Max (Mosley) und Charlie sich darum kümmerten. Ich glaube auch nicht, dass Max wegen so einem Vorfall seinen Terminkalender über den Haufen wirft und zu uns kommt. Es gibt viel Paranoia in der Formel 1. Wir hatten unsere Interpretation und haben um Klärung gebeten ? alle Vermutungen eines skrupellosen Machtspiels gehören zum normalen Verfolgungswahn der Formel 1. Für die Meisterschaft wird das keinen Unterschied machen, uns war es nur wichtig, dass wir auf dem gleichen Level agieren können. Aber die Meisterschaft ist ohnehin großartig und wird dadurch nicht gestört werden. Möge der Beste gewinnen."
Noch keine Entscheidung über möglichen Protest
Frage: "Vor einer Woche wurdest du von 'Autosport' wie folgt zitiert: 'Es war ein Versuch von Michelin die Regeln zu umgehen. Es stellte sich heraus, dass viele Michelin-Teams eine geraume Zeit illegale Reifen fuhren.' Hast du das wirklich gesagt? Und stehst du dazu?"
Brawn: "Ich glaube, dass unsere Sichtweise der Situation bereits zum Ausdruck kam. Ich habe hier eine Erklärung abgeben und nun hoffe ich, dass die Meisterschaft in bester Manier ablaufen wird. Ich möchte nicht weitere Erklärungen dazu abgeben."
Frage: "Deinen Ausführungen nach, sorgen breitere Reifen für einen Leistungsvorteil. Warum habt ihr dann nicht auch breitere Reifen?"
Brawn: "Man optimiert das Auto um das existierende Paket herum, auch um die Reifen. Bridgestone hatte einen Reifen, der ihrer Meinung nach bereits an die Grenze der erlaubten Breite ging. Ihre Interpretation der Regeln ist nicht weit weg von dem, was wir jetzt haben. Für uns war das also kein Vorteil. Wir haben Reifen mit etwas anders konstruierten Flanken getestet, aber Bridgestone wollte die Grenzen einhalten."
Frage: "Wenn Montoya Weltmeister werden sollte, dann legte er die Basis dafür mit den 56 Punkten, die er von Monaco bis Ungarn erobert hat. Wäre in diesem Fall die Meisterschaft nicht befleckt?"
Brawn: "Wir sollten Wasser auf das Feuer gießen. Ich glaube nicht daran, dass Michelin die Regeln umgehen wollte. Sie hatten eine Auffassung von dem, was für sie akzeptabel war; sie sind kein Unternehmen, dass absichtlich die Regeln brechen würde. Aber es ist und bleibt ein Problem, auch wenn keine Absicht dahinter steckt. Es ist ein sehr technischer Sport, und manchmal findet man Dinge heraus, die man nicht erwartet hätte. Wir hatten Probleme mit unserem Auto, Ron (Dennis) hatte vor ein paar Jahren einen Frontflügel, der etwas zu tief war. Es war keine Absicht, aber es ist passiert."
Breite der Lauffläche auch nach dem Rennen gut messbar
Frage: "Es kam das Gerücht auf, dass Ferrari versuchen würde, nach Artikel 179c der Sportlichen Regeln, die Überprüfung aller vergangenen Ergebnisse zu erreichen. Kannst du bestätigen, dass dies nicht passieren wird? Und was war mit Michaels Auto am Freitag in Österreich, als es für untergewichtig befunden wurde?"
Brawn: "Es gibt diese Gerüchte. Ferrari hat da noch keine Entscheidung getroffen, wird dies aber noch tun. Was die zweite Frage betrifft: Wir waren nicht untergewichtig, weil wir sonst ausgeschlossen worden wären. Das ist nicht passiert, also waren wir per Definition nicht untergewichtig."
Frage: "Mit den alten Michelin-Reifen warst du nicht einverstanden. Wie sieht es mit den Neuentwicklungen aus?"
Brawn: "Ich weiß es nicht. Die Breite ist Interpretationssache und unsere Ansichten gehen da auseinander. Auf der Internetseite von Michelin steht, was die Reifenbreite ist, es ist der Teil des Reifens, der mit der Straße in Kontakt tritt. Das ist ihre Sichtweise davon. Wir haben da etwas andere Ansichten, aber nach der Mitteilung der FIA erwarte ich schon, dass Michelin und die Teams diese Regelung akzeptieren."
Frage: "Hat die FIA das Equipment, um die Breite der Lauffläche nach dem Rennen zu messen?"
Brawn: "Es ist eine Regel. Man braucht keine komplexe Ausrüstung dafür. Sie haben Tastzirkel, womit man das messen kann, also sollte das kein Problem sein."
Frage: "Unter welchen Umständen würdet ihr die bisherigen Ergebnisse anfechten?"
Brawn: "Ich bin der Falsche für diese Diskussion. Die Führungsriege von Ferrari muss darüber entscheiden."

