Mercedes' stiller Exodus: Ex-Insider erklärt Leistungsabfall in der Formel 1

Philipp Brändle, ehemaliger Aerodynamiker bei Mercedes, erklärt, warum das Team in den vergangenen Jahren viel qualifiziertes Personal verloren hat

(Motorsport-Total.com) - Seit 2020 hat Mercedes keine Fahrer-WM mehr gewonnen, seit 2021 keine Konstrukteurs-WM mehr. 2024 erreichte das Team einen vorläufigen Tiefpunkt, mit Platz 6 für George Russell in der Fahrer- und Platz 4 in der Konstrukteurswertung. Die Gründe dafür sind vielfältig. Und haben durchaus auch etwas mit einem "Braindrain", also einer Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte, zu tun, findet Philipp Brändle.

Titel-Bild zur News: Philipp Brändle

Philipp Brändle hat Mercedes 2019 verlassen und ist heute Formel-1-Experte bei ServusTV Zoom

Brändle ist vor allem österreichischen Formel-1-Zuschauern als Experte bei ServusTV ein Begriff, war aber zwischen 2013 und 2019 in der Mercedes-Aerodynamik tätig. Zunächst in der Fabrik, später dann als "Trackside-Aero" vor Ort an der Rennstrecke. Bis er sich Ende 2019, kurz vor dem Ende der Mercedes-Dominanz in der Formel 1, zurückzog, um sich um sein Familienbusiness friendly Brändle zu kümmern, ein Wintersportgeschäft mit Bistro im wunderschönen Zürs am Arlberg.

Mercedes sei, was die Aerodynamikabteilung betrifft, immer noch "okay" aufgestellt, sagt Brändle. Dennoch müsse man "einfach realistisch sagen", dass "es einen Grund dafür gibt, dass die Performance jetzt leider nicht mehr so ist, wie sie einmal war". Und dieser Grund sei möglicherweise ein Qualitätsverlust in Sachen Aerodynamik-Personal.

Brändle war am vergangenen Dienstag Stargast am virtuellen Stammtisch auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de und beantwortete via Zoom zweieinhalb Stunden lang die Fragen der teilnehmenden Kanalmitglieder. Dabei erklärte er auf faszinierende Art und Weise, warum ein Formel-1-Auto nicht wie ein Golfball aussieht, erzählte, dass sein erstes Nettogehalt als Aerodynamiker in der Formel 1 bei ungefähr 1.800 Euro netto lag, und er sprach über seinen ehemaligen Arbeitgeber Mercedes.

Warum sich viele einen neuen Job gesucht haben

Unter der Prämisse, dass das "meine persönliche Meinung" sei, versucht sich Brändle in einer Ursachenforschung: "Einer der Gründe ist für mich zum Beispiel, dass sehr viele gute Leute die Aero-Entwicklung für das Formel-1-Auto verlassen haben und rübergegangen sind zum America's-Cup-Team, also zu INEOS, oder sie haben das Team sogar ganz verlassen. Und das hat dem Team schon wehgetan."

Brändle betont, dass "viele gute Leute auch geblieben" sind, unter anderem einer seiner besten Freunde, in der hochrangigen Funktion als "Principal Aerodynamicist". Aber: "Viele andere Leute, die zu meiner Zeit noch da waren, sind leider doch gegangen." Der Österreicher meint damit zum Beispiel Spezialisten für Bereiche wie die Kühlung, die Bremsen oder den Diffusor, die sich am Ende der großen Erfolgsära neu orientiert haben.


Eine Herausforderung für Teams, die so erfolgreich sind, wie Mercedes es damals war, ist: Man hat in den Junior-Positionen im besten Fall zahlreiche talentierte Menschen, die sich weiterentwickeln wollen - aber "du kannst halt nicht statt 20 normalen Aerodynamikern auf einmal 20 Führungskräfte haben. Das geht einfach nicht."

Also setze in solchen Konstellationen irgendwann eine "natürliche Auslese" ein, erklärt Brändle, wenn sich solche Leute nach höherrangigen Jobs bei anderen Teams oder sogar in anderen Branchen als dem Motorsport umsehen. Schließlich werden Junior-Aerodynamiker in der Formel 1 eher bescheiden bezahlt, weswegen sie sich üblicherweise irgendwann anders orientieren, wenn sie nicht befördert werden.

"Deswegen", erklärt Brändle, der 2019 für sich selbst auch entschieden hat, sich von Mercedes zu verabschieden, "ist das immer so ein Auf und Ab bei den Teams. Man sieht das jetzt auch bei Red Bull, dass sie sich gerade ein bisschen schwerer tun, und McLaren kommt wieder zurück. Das sind ganz normale Zyklen in der Formel 1."

Brändle: Reizt ihn eine Rückkehr in die Formel 1?

Übrigens: Lust auf eine Rückkehr in die Formel 1 hätte Brändle durchaus. "Reizen würde mich das auf jeden Fall", sagt er. Und helfen könnte er einem Team, traut er sich zu, vermutlich auch noch. Allerdings steht für ihn inzwischen das Familienbusiness im Mittelpunkt der Lebensplanung. Und sein alter Chef Toto Wolff hat ohnehin "noch nicht angerufen", lächelt er.

Das komplette Live-Interview mit Philipp Brändle inklusive der Fragen der Zuschauer können Mitglieder des YouTube-Kanals von Formel1.de jetzt in voller Länge im Video sehen. Kanalmitglied werden kostet 3,99 Euro pro Monat und berechtigt zur Teilnahme an den monatlichen Stammtischen mit einmaligem Zugang zu prominenten Gästen aus der Formel 1.

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