• 04.04.2024 11:33

  • von Stefan Ehlen, Co-Autoren: Alex Kalinauckas, Jonathan Noble

Alonso-Manöver: Fahrerkollegen üben jetzt Kritik an George Russell

Wie Fernando Alonso und George Russell rückblickend über das Melbourne-Manöver denken und was die Formel-1-Fahrerkollegen zur Alonso-Strafe sagen

(Motorsport-Total.com) - George Russell hat den Zwischenfall mit Fernando Alonso beim Australien-Grand-Prix 2024 in Melbourne abgehakt. Die Sache sei "jetzt Geschichte" und "ich nehme das, was passiert ist, nicht persönlich", sagt Mercedes-Fahrer Russell. Doch ganz vom Tisch ist das Thema deshalb noch nicht.

Titel-Bild zur News: Mercedes-Fahrer George Russell in der Formel-1-Pressekonferenz

Mercedes-Fahrer George Russell in der Formel-1-Pressekonferenz Zoom

Schon allein deshalb, weil Aston-Martin-Fahrer Alonso auf seinem Standpunkt beharrt, eigentlich nichts falschgemacht zu haben. Das Urteil der Sportkommissare "wird nicht viel daran ändern, wie wir fahren und wie wir ein Rennen angehen", meint Alonso. "Es gibt keine Verpflichtung, 57 Runden auf die gleiche Art und Weise zu fahren."

Das will Russell aber so nicht stehen lassen. Natürlich sei es einem Formel-1-Fahrer freigestellt, "seine Linie zu ändern, früher zu bremsen, mit mehr Power durch die Kurve zu fahren" und dergleichen mehr.

"Wenn wir aber mitten auf einer Geraden anfangen zu bremsen, herunterzuschalten, zu beschleunigen, wieder hochzuschalten und dann wieder für eine Kurve zu bremsen, dann geht das meiner Meinung nach über das Anpassen der Linie hinaus."

Es gehe aus seiner Sicht "vielleicht einen Schritt zu weit, wenn ein Fahrer mitten auf der Geraden bremst, um sich einen taktischen Vorteil zu verschaffen", so Russell. Er warnt vor allem vor einem möglichen "Ziehharmonika-Effekt", wenn mehrere Fahrzeuge dichtauf hintereinander herfahren.

Fahrer kritisieren Alonso für "unnötiges" Manöver

Deshalb steht für viele Formel-1-Fahrer fest, was Ferrari-Fahrer Charles Leclerc ausspricht: "Es war zu viel und musste bestraft werden."

So sieht es auch Perez, der das Alonso-Manöver für "ein bisschen unnötig" hält. "Fernando macht sowas gern, aber innerhalb der Grenzen. Er ist einer der Fahrer, dem ich da am meisten vertraue. Aber dieses Mal war es zu sehr am Limit oder sogar darüber."

Auch Racing-Bulls-Fahrer Daniel Ricciardo kann Alonsos Vorgehen "definitiv nicht gutheißen", weil Alonso auf gerader Strecke und deutlich vor dem Bremspunkt verzögert habe. "Wenn er George ein bisschen ablenkt, ist das eine Sache, bei der man geteilter Meinung sein kann. Aber von einem Bremsmanöver auf einer Geraden rate ich ab."

Ebenfalls kritisch äußert sich hier Haas-Fahrer Nico Hülkenberg. Ihm habe das Alonso-Manöver "nicht gefallen". Begründung: "Melbourne ist an dieser Stelle ziemlich eng. Wir kommen da mit 270 km/h an und der Kurvenausgang ist nicht einsehbar. Wenn dann die Flaggen zu spät zu sehen sind, hätte jemand voll in George reinfahren können. Und dann würde Fernando wohl ziemlich anders darüber denken."

Grundsätzlich könne er das Verzögern als strategisches Mittel nachvollziehen, sagt Hülkenberg weiter. "Die Taktik an sich ist recht verbreitet in der Formel 1, aber das ist die falsche Kurve dafür. Es ist eine ziemlich gefährliche Situation daraus entstanden. Und es ist einfach nicht gut, wenn nach einer Kurve ein Auto quer auf der Fahrbahn steht."

Fernando Alonso, George Russell

Fernando Alonso im Aston Martin vor George Russell im Mercedes Zoom

Russell räumt ein: Ich war abgelenkt!

Hülkenberg-Teamkollege Kevin Magnussen aber vertritt einen anderen Standpunkt und empfindet die Strafe gegen Alonso als "hart". Er meint: "Es wirkt, als würde man dieses Jahr die Zügel generell etwas straffer ziehen und härtere Strafen ausgeben. Dabei sah es in meinen Augen nicht nur nach einem Fehler von Alonso aus."

Russell selbst räumt ein, er sei in dieser "etwas seltsamen Situation" abgelenkt gewesen. "Ich schaute gerade auf mein Lenkrad und als ich aufblickte, hing ich in Fernandos Getriebe und es war irgendwie zu spät." Ihn habe das Alonso-Manöver "überrascht", sagt Russell. "Und das nächste, was ich weiß, ist: Ich lande in der Mauer."

Warum Norris die Schuld (auch) bei Russell sieht

Genau das ist der Kritikpunkt von McLaren-Fahrer Lando Norris. Seine These: Russell war nicht aufmerksam genug. "George hatte Zeit, um zu sehen, was passiert. Er hätte es kommen sehen müssen", meint Norris.

Alonso habe Russell keinem "Bremstest" unterzogen, sondern sei "einfach nur sehr clever" vorgegangen, und das "nicht aggressiv", so Norris weiter. "George wurde einfach nur überrascht, wie schnell er zu Fernando aufschloss. Aber das ist meiner Meinung nach nicht ansatzweise eine Strafe."

"Hätte George fünf Meter früher gebremst, wäre es anders ausgegangen. Denn als Fahrer musst du eben auf alles reagieren, was um dich herum passiert, genau wie beim Rennstart."


Fahrer halten Alonso-Manöver für nicht bestrafungswürdig

Doch gerade weil Russell (zu) spät reagiert hat, verlor er die Kontrolle über sein Auto und crashte. "Dadurch sah es ziemlich dramatisch aus", sagt Sauber-Fahrer Valtteri Bottas. "Wenn George nicht in der Mauer gelandet wäre, hätte es wahrscheinlich keine Strafe gegeben."

So sieht es auch Ricciardo und drückt sich fast wortgleich aus, genau wie Perez. Norris plädiert sogar komplett auf "Freispruch" für Alonso.

Und Norris' McLaren-Teamkollege Oscar Piastri erkennt einen "sehr schwierigen Präzedenzfall, wenn wir jetzt anfangen, Strafen für Dirty-Air zu verteilen", weil dann in Zukunft praktisch jedes Qualifying "ganz anders ausgehen" könnte. Er halte es für gefährlich, "ein Auto zu bestrafen, obwohl es keine Berührung gab".

Begründung: "Wenn George nicht abgeflogen wäre, hätte man schon sehr genau hinschauen müssen, um etwas zu erkennen. Es sei denn, George hätte es auf den Tisch gebracht." Letzteres ist aber, zumindest in der ersten Reaktion Russells, nicht passiert: Der Mercedes-Fahrer hatte den Crash in Melbourne zunächst auf seine Kappe genommen.

Alonso: In Abu Dhabi passiert sowas erst gar nicht!

Noch deutlicher drückt sich Alonso aus: Er wäre "hundertprozentig" straffrei geblieben, wäre Russell nicht abgeflogen, meint der Aston-Martin-Fahrer.

"Und wenn George in Abu Dhabi [bei einer vergleichbaren Szene] in die Auslaufzone rutscht, kommt er ein paar Meter weiter eben wieder auf die Strecke und wird versuchen, mich in der nächsten Runde oder auf der nächsten Geraden zu überholen. Und das wird dann kein Problem sein", sagt Alonso.

So sieht es auch Norris: "Mit Asphaltauslauf hätte es [hier] wohl keine Strafe gegeben."

Warum Russell anderer Meinung ist

Russell äußert sich genau gegenteilig und verteidigt das Urteil der Sportkommissare: "Ich glaube, wenn das nicht bestraft worden wäre, hätte das für den Rest der Saison - und in den Nachwuchskategorien - die Frage aufgeworfen, ob man auf einer Geraden bremsen darf. Damit hätten wir in ein Wespennest gestochen."

Alonso habe zwar "nichts außergewöhnlich Gefährliches" getan, aber eben doch eine Situation heraufbeschworen, die "potenziell gefährlich" hätte sein können. So hatten es auch die Sportkommissare formuliert.

Formel-1-Fahrer Fernando Alonso in der Saison 2024 in der Box von Aston Martin

Formel-1-Fahrer Fernando Alonso in der Saison 2024 in der Box von Aston Martin Zoom

Für Bottas war es "am Limit", aber es sei "immer ein schmaler Grat" bei solchen Zwischenfällen. "Jede Situation ist anders. Und leider spielen die Konsequenzen noch immer eine Rolle." Laut Norris aber "kann man die hier nicht ignorieren, wenn ein Auto mitten auf der Strecke steht".

Muss das Strafmaß in der Formel 1 überdacht werden?

Das wiederum wirft die Frage auf, wie die Sportkommissare ihre Entscheidungen treffen sollen und mit welchem konkreten Strafmaß. Zumal Alonso mit seinen Aussagen andeutet, es handle sich in seinem Fall um eine "wahrscheinlich einmalige Strafe, die wir [so] nie wieder verhängen werden".

Auch Piastri fragt vor der Formel-1-Fahrerbesprechung am Freitagabend in Suzuka: "Wo ziehen wir eine Linie und wie konstant halten wir uns daran?" Und Perez' "größte Sorge" ist es, bei vergleichbaren Vorfällen könnten "keine Strafen" ausgesprochen werden, weil es in der Formel 1 generell an konstanten Urteilssprüchen fehle.

Es herrscht also Klärungsbedarf, schon allein deshalb, weil einzelnen Fahrern "jetzt nicht mehr" klar sei, was eigentlich erlaubt ist und was nicht. Doch Leclerc entgegnet dieser Norris-Behauptung: "Natürlich kann man [die Regeln] immer nochmal anders formulieren, damit es klarer wird. Aber ich glaube, gesunder Menschenverstand ist der Schlüssel. Denn du kannst nie alle denkbaren Szenarien aufschreiben."

Was in der Fahrerbesprechung thematisiert wird

In einem Punkt aber sieht auch Leclerc noch Fragezeichen: beim Strafmaß. "Das müssen wir uns anschauen. Denn seit geraumer Zeit gibt es Zeitstrafen, die ich für nicht ganz richtig halte."

"Aktuell kannst du als Fahrer Pech haben, wenn kurz vor Schluss das Safety-Car rauskommt und du in einem solchen Szenario von P5 auf P20 durchgereicht wirst. Fernando aber hat [durch die nachträgliche Durchfahrtsstrafe] nur zwei Positionen verloren." Da stimme das Verhältnis nicht.


Fotostrecke: Die zehn saftigsten Geldstrafen

"Ich hielte deshalb eine Positionsstrafe für fairer", meint Leclerc. "Da kommt es nicht zu solchen Inkonsistenzen wie bei Zeitstrafen, die von der Rennsituation abhängen."

Laut Ricciardo aber hat der Wirbel um das Alonso-Manöver schon eines erzielt: eine abschreckende Wirkung auf die Formel-1-Kollegen. "Wird einer von uns an diesem Wochenende etwas Ähnliches probieren? Ich denke nicht. Dergleichen wird uns also wahrscheinlich nicht wieder begegnen."

Keine echte Aussprache zwischen Alonso und Russell

Und wo Ricciardo gerade von einer "Begegnung" spricht: Die hat es zwischen Melbourne und Suzuka tatsächlich gegeben zwischen Alonso und Russell, aber "zufällig zuhause in einem Cafe", wie Russell erklärt. Dort seien sich die beiden Formel-1-Fahrer "über den Weg gelaufen", ohne allerdings das Gespräch zu suchen.

Russell scherzt: "Er hat mir den Kaffee nicht gezahlt. Dabei wäre das wohl das Mindeste gewesen!"

Ernsthaft fügt er hinzu: "Wenn wir den Helm aufhaben, sind wir alle Kämpfer und Konkurrenten. Und wenn der Helm ab ist, hat man Respekt voreinander." Der Zwischenfall habe "natürlich viele Emotionen" hochkochen lassen. "Aber, wissen sie, wir haben beide daraus gelernt."

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