Whitmarsh: "Rechne 2012 nicht mit einer Soloflucht"

Wie McLaren bei den Wintertests den Spagat zwischen Risiko und Sicherheit schaffen will und warum Teamchef Martin Whitmarsh nicht an einen Red-Bull-Alleingang glaubt

(Motorsport-Total.com) - Bei McLaren tappt man derzeit im Dunkeln, wie stark die Konkurrenz diese Saison sein wird. Und das ist dem Team aus Woking gar nicht so unrecht. Denn im Vorjahr musste man sehr rasch nach dem Testauftakt feststellen, dass man nicht konkurrenzfähig ist. Der MP4-26 erwies sich aufgrund seines komplexen Auspuff-Systems in der Testkonfiguration als filigraner Bolide, dem es vor allem an Speed fehlte.

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton, Jenson Button

Können Button und Hamilton mit dem neuen Boliden auf Red-Bull-Jagd gehen?

Notdürftig bastelte man an einem neuen Auspuff-System, das der Red-Bull-Lösung nachempfunden war - wie durch ein Wunder war man in Melbourne das zweitstärkste Team. Teamchef Martin Whitmarsh lobt seine Mitarbeiter auch heute noch für die Bewältigung dieser Herkules-Aufgabe: "Wir verdanken es wirklich unserem fantastischen Team, dass wir darauf antworten konnten und in Australien in halbwegs konkurrenzfähiger Form ankamen."

McLaren: Wintertest-Drama verarbeitet?

Es wäre Whitmarsh aber sehr recht, wenn man ihm dieses Jahr eine vergleichbare Zitterpartie ersparen würde: "Es war ein relativ stressiger Prozess und ich wäre sehr glücklich, wenn wir uns nicht mehr mit solchen Problemen auseinandersetzen müssen."

Sogar Jenson Button unterschätzte 2011 das Potenzial seines Rennstalls, sich doch noch aus dem Schlamassel retten zu können: "Im vergangenen Jahr hatte ich beim ersten Test das Gefühl, dass wir überhaupt kein Rennen gewinnen würden. Man bekommt beim ersten Test schon einen guten Eindruck. Aber auf dieses Gefühl kann man sich beim ersten Rennen nicht verlassen."

"Im vergangenen Jahr hatte ich beim ersten Test das Gefühl, dass wir überhaupt kein Rennen gewinnen würden." Jenson Button

Kein Wunder, dass Teamchef Martin Whitmarsh auf die Frage, bei welcher Entwicklung der vergangenen Jahre er es sich gewünscht hätte, dass sie von seinem Team stammen würde, auf den abgasangeblasenen Diffusor verweist. Die Teams hätten damals "unterschiedliche Philosophien" gehabt, meint der Brite, am Ende setzte sich aber der Red-Bull-Weg durch. "Daher wären wir im Vorjahr zu diesem Zeitpunkt stärker gewesen, wenn wir das gehabt hätten, was wir dann in Australien einsetzten."

Whitmarsh: Innovationsgeist hat nicht gelitten

Doch McLaren gilt im Gegensatz zum Ferrari-Rennstall (Formel-1-Datenbank: McLaren und Ferrari im direkten Vergleich) der vergangenen Jahre als innovatives Team. Die Truppe aus Woking erfand zum Beispiel 2010 das geniale F-Schacht-System, das es den Piloten ermöglichte, auf der Geraden durch die Bedienung eines im Auto untergebrachten Luft-Kanals einen Strömungsabriss beim Heckflügel zu verursachen und dadurch bessere Topspeed-Werte als die Konkurrenz zu erzielen.

Obwohl sich McLaren im Vorjahr beim komplexen Auspuff-System völlig übernahm, glaubt Whitmarsh nicht, dass sein Team dieses Jahr als Vorsichts-Maßnahme konservativer zu Werke ging. "Es lässt sich nicht verhindern, dass kreative Köpfe versuchen, den Heureka-Moment herbeizuführen, indem sie nach Verbesserungen suchen, die Sekunden bringen", erklärt er die Gründe.

"Es lässt sich nicht verhindern, dass kreative Köpfe versuchen, den Heureka-Moment herbeizuführen." Martin Whitmarsh

Weil es in der heutigen Formel 1 aber so schwierig ist, das Rad neu zu erfinden, muss jedem kleinen Hoffnungsschimmer nachgegangen werden. "Wenn man etwas findet, das die Leistung steigert, dann setzt man sich damit auseinander", bestätigt Whitmarsh. Den MP4-27 bezeichnet Lewis Hamilton sogar als raffiniertestes McLaren-Auto der vergangenen Jahre - und das heißt etwas, denn kaum ein Rennstall ist so detailverliebt wie die Perfektionistentruppe aus Woking.

Die Auswirkungen der Auspuff-Beschränkung

Durch das Verbot des abgasangeblasenen Diffusors sahen sich die Ingenieure mit der Herausforderung konfrontiert, den verlorenen Abtrieb wieder zurückzugewinnen. Daher fiel die Heckpartie 2012 noch schlanker aus als bisher, um den Heckflügel ordentlich anzuströmen. Dass man die verlorenen Abtriebspunkte so komplett wettmachen kann, hält Hamilton aber für unwahrscheinlich.

Das zwingt Fahrer und Teams zu einer anderen Herangehensweise bei der Abstimmung, wie Hamilton verrät: "Im vergangenen Jahr kam der Großteil des Abtriebs vom Heck des Autos, weshalb wir zum Teil Mühe hatten, die Front richtig zum Arbeiten zu bekommen. In diesem Jahr wird es eher umgekehrt sein. Es wird darum gehen, am Heck genügend Abtrieb zu erzeugen." Auch Teamkollege Button schlägt in die gleiche Kerbe: "Wir verlieren natürlich Abtrieb - an der Hinterachse mehr als vorne. Wir versuchen, das auszugleichen. Das Gefühl im Auto ist gut. Wir müssen anders mit der Aerodynamik arbeiten. Es kommt mehr auf die Basis-Aerodynamik des Autos an als noch 2011."

Die Bolidengeneration 2012 generiert im Heck weniger Abtrieb Zoom

Inwiefern sich das auf den Fahrstil auswirken wird, ist derzeit noch nicht auszumachen, obwohl die Piloten im Simulator bereits Erfahrung sammeln konnten. Zudem muss dies nicht für alle Teams gelten, denn derzeit geht wie jedes Jahr zu diesem Zeitpunkt die Angst um, dass ein Team mit einem Genieblitz die Konkurrenten austricksen könnte.

Konkurrenz kaum einschätzbar

"Vor allem wenn sich die Regeln ändern, fällt es schwer einzuschätzen, wo man wirklich steht", spielt Button auf die Einschränkungen beim Auspuff an. "Du erledigst deine Arbeit zusammen mit dem Team so gut wie möglich und versuchst aus den Möglichkeiten das Beste herauszuholen. Aber das Ergebnis sieht man erst beim ersten Rennen. Selbst im Training am Freitag vor dem Rennen weißt du noch nicht, wo du stehst."

Whitmarsh findet die Situation ebenfalls ungewohnt, denn die Teams sind eigentlich regelmäßige Standort-Bestimmungen gewohnt: "Durch die Regeländerungen haben wir unsere Konkurrenten derzeit nicht am Radar. Während der Saison können wir das aktuelle Kräfteverhältnis jedes Wochenende neu messen. Jetzt waren wir aber einige Monate lang im Blindflug unterwegs. Das ist aufregend, denn du musst dir deine eigenen Ziele setzen."


Fotos: Präsentation des McLaren-Mercedes MP4-27


Und die sind im Fall von McLaren so hoch, dass man - sollte man die Meilensteine erreichen - titelfähig ist. "Diese Ziele haben wir noch nicht erreicht, aber glücklicherweise stehen wir noch nicht beim ersten Rennen", hofft Whitmarsh nun auf die Wintertests. "Der Fortschritt und der Trend gehen jedenfalls in die Richtung, dass wir diese Ziele erreichen. Ich glaube, dass wir es schaffen."

Whitmarsh rechnet mit "enger Saison"

Das bedeutet aber auch, dass man sich ein Testfiasko wie vor einem Jahr nicht erlauben kann. "Das Wichtigste ist, bei den Tests möglichst viele Kilometer zu fahren", fordert Button dieses Jahr gelungene Wintertests. "Nur dann hast du genügend Zeit für die Feinabstimmung des Autos. Wenn du beim ersten Rennen eintriffst, kannst du nicht mehr viel verändern."

Der Teamchef beruhigt den Vize-Weltmeister: "Wir haben sehr viel Arbeit in dieses Auto gesteckt und ich denke nicht, dass es eine Wiederholung des letztjährigen Winters geben wird." Auch an eine Soloflucht, wie sie im Vorjahr Weltmeister Sebastian Vettel im Red-Bull-Boliden hinlegte, hält er für unwahrscheinlich: "Es wird eng sein. Dieser Tage haben wir eine unglaublich konkurrenzfähige Weltmeisterschaft, daran besteht kein Zweifel. Ich rechne nicht damit, dass irgendjemand auf und davon fährt und so den Titel holt - weder wir, noch irgendjemand anderer."

MP4-27

Kann der MP4-27 mit der Konkurrenz von Red Bull mithalten? Zoom

Button selbst hat freilich Red Bull auf der Rechnung, hält sich mit Prognosen aber zurück: "Ich glaube, Red Bull wird stark sein. Sie werden nicht plötzlich ein schlechtes Auto bauen, nachdem sie in den vergangenen beiden Jahren die Weltmeisterschaft gewonnen haben. Sie werde auch 2012 unsere Hauptgegner sein. Aber wissen wir schon, wo wir stehen? Nein! Es ist wichtig, dass wir uns weiterhin auf unsere Arbeit konzentrieren. Jetzt können wir noch keine Vergleiche mit der Konkurrenz ziehen."