Vettel: Von Wahrheit, Vorurteilen und Zukunftsplänen...

Sebastian Vettel exklusiv: Wie er mit den Medien umgeht, welche WM-Chancen er sich ausrechnet und wo er seine Zukunft sieht

(Motorsport-Total.com) - Noch keine zwei Monate ist es her, dass sich Sebastian Vettel nach der Kollision mit seinem Teamkollegen Mark Webber in Istanbul einige sehr kritische Fragen gefallen lassen musste. Doch das ist längst Schnee von gestern, denn spätestens seit Hockenheim gibt es in der Formel 1 einen neuen Brandherd.

Titel-Bild zur News: Sebastian Vettel

Weil Ferrari in der Kritik steht, hat Sebastian Vettel derzeit Ruhe...

Wir treffen einen bestens gelaunten, entspannt wirkenden und freundlichen Vettel an - ganz anders als Felipe Massa, der sich eine Stunde zuvor im Rahmen der FIA-Pressekonferenz eher schlecht als recht durch die quälenden Fragen der schreibenden Zunft kämpfen musste. Formel-1-Protagonisten und ihr Verhältnis zu den Medien sind dieser Tage ein vieldiskutiertes Thema. Im Interview mit 'Motorsport-Total.com' erklärt Vettel, wie er dazu steht, wie groß seine WM-Chancen sind und welches Team ihn irgendwann einmal zu einem Abschied von Red Bull bewegen könnte.#w1#

Nichts ist älter als die Zeitung von gestern...

Frage: "Sebastian, das Gute an der Ferrari-Stallorder von Hockenheim ist, dass jetzt niemand mehr über Istanbul spricht..."
Sebastian Vettel: "Das Leben geht weiter, jede Woche passiert was Neues. Schon in Hockenheim hat eigentlich keiner mehr über Istanbul gesprochen - spätestens nach zwei, drei Rennen ist so ein Thema vom Tisch. Es sei denn, es gibt einen Grund, ein Thema wieder hochzubringen. Davor ist man natürlich nie gefeit."

"Aber wenn du es schon ansprichst: Mark und ich, wir wollen beide das Beste für uns, aber oberste Priorität sollte das Team haben. Sachen wie in der Türkei sind passiert und lassen sich nicht mehr wegreden. Es gibt auch für die Zukunft keine Garantien, dass es nicht mehr passieren wird - das ist nicht unmöglich. Natürlich haben wir beide daraus gelernt. Aber klar, spätestens wenn bei uns etwas Ähnliches passiert, kommt die Diskussion wieder hoch. Das ist ganz normal."

Sebastian Vettel

Das Verhältnis zwischen Rennfahrer und Medien ist nicht immer einfach Zoom

"Ich saß am Sonntag in Hockenheim nach dem Rennen in der Pressekonferenz. Was passiert ist, ist passiert, aber Fernando und Felipe wurden da mit Sachen konfrontiert, die sie vor zwei, drei Jahren mal gesagt haben. Sowas kommt dann natürlich wieder hoch."

Frage: "Das haben wir in der heutigen Pressekonferenz ja auch wieder erlebt. Nun weißt du als Profi, welche Antworten wir Journalisten aus dir rauskitzeln wollen. Wie bereitest du dich auf solche Situationen vor?"
Vettel: "Überhaupt nicht! Ich glaube, man lernt das. Man lernt erstens die Journalisten kennen und weiß einzuschätzen, ob jemand gefährlich oder ungefährlich ist. Und man merkt sich die Art und Weise, wie gefragt wird. Man weiß ja oft schon, was die Leute von einem hören wollen."

"Als Fahrer ist man da teilweise in einer schwierigen Situation, denn auf der einen Seite hat man seine klare Meinung und möchte die auch gerne kundtun, auf der anderen Seite weiß man, dass es vielleicht nicht immer das Schlaueste ist. Da hält man den Mund lieber einmal zu oft, um dann nicht beim nächsten Mal ausgezogen zu werden."

Die Wahrheit und die Formel 1

"Von daher ist die Formel 1 vielleicht nicht immer der beste Platz für die Wahrheit. Oftmals wird die Wahrheit auch falsch verstanden, aber wie gesagt: Ich glaube, dass man das lernt und daraus seine Schlüsse zieht, um vielleicht auch mal zurückzustecken oder sich rauszureden, weil das vielleicht besser für einen selbst ist, als wenn man die Leute schockiert."

Frage: "Durch das riesige Interesse an deiner Person bist du fast dazu gezwungen, einen natürlichen Schutzschild aufzubauen. Befürchtest du, dass dadurch die Natürlichkeit verloren gehen könnte, so wie das Michael Schumacher oft aus eben diesem Grund unterstellt wird?"
Vettel: "Nein. Ich versuche eigentlich immer, so offen wie möglich zu sein, egal mit wem ich spreche."

Sebastian Vettel

Frohnatur: Sebastian Vettel präsentiert sich am Hungaroring in bester Laune Zoom

"Man lernt das Gegenüber und das Metier auch kennen. Eine Zeitung hat vielleicht eine sehr offene Meinung, eine andere ist ein bisschen ruhiger, zurückhaltender, seriöser. Das lernt man kennen, aber ich versuche eigentlich, mich nicht dem Medium anzupassen und mich nicht zu verstellen. Ich bin, wer ich bin - und das möchte ich auch so beibehalten."

"Was man aber lernen muss, ist, dass man es einfach nicht jedem recht machen kann, auch wenn man das manchmal gerne würde. Im Prinzip will man nur verstanden werden und einem jeden erklären, wie man in die Lage kommt, in der man jetzt ist, oder wie das persönliche Empfinden ist, wie man damit umgeht. Das ist manchmal sehr schwierig, weil man es eben nicht jedem recht machen kann, da in manchen Fällen von Haus aus ein gewisses Vorurteil herrscht."

Frage: "Kommst du mit der Motorsport-Fachpresse oder mit dem Boulevard besser zurecht?"
Vettel: "Das kommt drauf an. Mehrheitlich ist es die Fachpresse, mit der man besser auskommt, denn man spricht die gleiche Sprache. Aber in manchen Dingen, wenn es vielleicht nicht nur ums Rennfahren geht, kommt man lustigerweise vielleicht mit Leuten besser aus, die gar keine Ahnung von der Sache haben. Dadurch, dass sie unvoreingenommen sind, verstehen sie manche Dinge auch besser."

Von Rennen zu Rennen denken

Frage: "Genug getratscht, reden wir von der Formel 1. Du bist seit Silverstone 2009 in der Position, dass du das schnellste Auto im Feld hast. Wie vergleichst du die aktuelle Situation in der Weltmeisterschaft mit der Situation vor einem Jahr?"
Vettel: "Wir haben als Team sehr viel dazugelernt, aber auch ich als Fahrer."

Sebastian Vettel

So entspannt und relaxt, dass man beinahe einschlafen könnte... Zoom

"Letzten Endes geht man von Rennen zu Rennen - und das ist das Wichtige: dass man den Fokus nicht verliert und sich immer wieder drauf konzentriert, bei jedem Rennen das Beste rauszuholen. Beim dritten Saisonrennen schon verängstigt an den Start zu gehen und zu sagen, es geht um die Meisterschaft, bringt einem nicht viel, weil man dadurch meiner Meinung nach Punkte liegen lässt, die einem vielleicht am Ende fehlen. Wenn man auf der anderen Seite viel hamstert, hat man vielleicht am Ende mehr, als wenn man hie und da mal was riskiert und es geht in die Hose."

"Aber ich glaube, man lernt mit der Zeit, den richtigen Mix zu finden. Letzten Endes muss man es schaffen, sich selbst in eine gute Position zu bringen. Das schafft man nur, wenn man klar im Kopf ist und am Samstag das Maximale rausholt, um möglichst weit vorne zu stehen. Und dann muss man am Sonntag unvoreingenommen und so frei wie möglich ins Rennen starten."

"Da darf man nicht zu kompliziert denken: 'Okay, der steht auf Platz fünf, kriegt so und so viele Punkte. Und dies ist und jenes auch noch.' Das kriegt man im Rennen sowieso mit. Daher sage ich 'frei und unvoreingenommen', damit man aus jedem einzelnen Rennen das Beste herausholen kann. Das muss das Ziel sein - und dann passt es automatisch auch für die ganze Saison."

Gleicher Abstand, anderes Punktesystem

Frage: "Aber ist dein Gefühl anders als vor einem Jahr? Positiver, negativer?"
Vettel: "Die Punkteabstände sehen ein bisschen besser aus für uns. Was die Punktzahl angeht, war der Abstand zwar ungefähr genauso groß, aber da hatten wir ja noch ein anderes Punktesystem! Ich glaube, es ist noch sehr viel drin. Durch das neue Punktesystem kann jemand mit zwei guten Rennen sofort wieder vorne dabei sein."

"Ferrari wurde schon aus dieser WM geschrieben - da wurde gesagt, die spielen in der Fahrerwertung keine Rolle mehr. Jetzt gewinnt Ferrari ein Rennen, ob umstritten oder nicht, und es heißt, dass Alonso wieder dabei ist. Man darf nicht vergessen: Es gibt 25 Punkte für einen Sieg und null für einen Ausfall. Von daher sehen die Abstände größer aus, als sie sind. Deswegen denke ich, dass wir für dieses Jahr noch eine sehr gute Chance haben."

Sebastian Vettel

Meistens gut gelaunt: Sebastian Vettel, Vizeweltmeister und WM-Mitfavorit Zoom

Frage: "Es gibt schon Gerüchte, dass du deinen Vertrag vorzeitig verlängern könntest. Ich bin nicht naiv genug, mir dazu eine Antwort zu erwarten, aber kann es sein, dass Red Bull dein letztes Team in der Formel 1 ist?"
Vettel: "Ich weiß nicht, aber ich denke, man sollte niemals nie sagen. Im Moment gibt es für mich keine bessere Umgebung, das ist unbestritten. Wenn man die Karten auflegt, dann hat Red Bull im Moment das schnellste Auto im ganzen Feld. Es ist das Ziel eines jeden Fahrers, in so einem Auto zu sitzen."

"Und das ganze Umfeld, das Team, der Hintergrund, woher ich komme, dass ich so lange Teil der Familie sein darf... Im Moment könnte ich mir keinen besseren Ort vorstellen! Aber oberste Priorität hat, dass ich in einem konkurrenzfähigen Auto sitze. Das habe ich im Moment, daher mache ich mir keine Sorgen. Das habe ich auch nächstes Jahr. Viel weiter denken wir noch nicht."

Frage: "Aber jeder Fahrer träumt doch von Ferrari. Auch du?"
Vettel: "Das ist irgendwann der Traum eines jeden Fahrers. Ob man das dann schafft oder nicht, das kommt immer drauf an. Ich glaube, man muss sich seinen Platz in der Formel 1 verdienen, und dann muss man sich immer wieder aufs Neue beweisen."