• 01.05.2025 16:13

  • von Franco Nugnes, Übersetzung: Stefan Ehlen

Senna-Unfall: Was genau stimmte nicht mit der Williams-Lenksäule?

Was die modifizierte Lenksäule im Williams FW16 mit dem tödlichen Unfall von Ayrton Senna 1994 in Imola zu tun hatte: Experten erklären ihre Analyse

(Motorsport-Total.com) - Der tödliche Unfall von Formel-1-Legende Ayrton Senna schockiert bis heute. Denn selbst Jahrzehnte nach den tragischen Ereignissen von Imola 1994 kommen weitere Facetten des Unglücks ans Tageslicht.

Titel-Bild zur News: Williams-Fahrer Ayrton Senna beim San-Marino-Grand-Prix 1994 in Imola

Williams-Fahrer Ayrton Senna beim San-Marino-Grand-Prix 1994 in Imola Zoom

Dieser Artikel aus dem Buch "Senna: Die Wahrheit" (SPONSORED LINK: Hier die englischsprachige Version des Buchs kaufen!) enthält Aussagen von Personen, die im italienischen Strafprozess ausgesagt haben. Denn es ist eine Eigenart des italienischen Rechts, dass, wenn ein Todesfall eintritt - selbst auf einer Rennstrecke - jemand verantwortlich gemacht werden muss.

Die tragischen Todesfälle von Roland Ratzenberger und Senna während des Grand Prix von San Marino 1994 erschütterten die Welt und brachten die Formel 1 unter intensive Beobachtung.

Während Ratzenbergers Unfall eindeutig durch einen Bruch des Frontflügels verursacht wurde, wurde Sennas Unfall Gegenstand hektischer Spekulationen. Die FIA versuchte, aus den Todesfällen Lehren zu ziehen, die in wirksame Sicherheitsverbesserungen umgesetzt werden konnten. Parallel dazu trat die italienische Justiz in Aktion: Ein Strafprozess begann.

Der Staatsanwalt Maurizio Passerini konzentrierte sich darauf, nachzuweisen, dass ein Bruch in der Lenksäule von Sennas FW16 dazu führte, dass Senna in der Tamburello-Kurve von der Strecke abkam und in die Mauer prallte. Passerini ernannte Professor Enrico Lorenzini, Dekan der Fakultät für Ingenieurwesen der Universität Bologna, als Gutachter.

Lorenzini beauftragte zwei Spezialistenteams aus verschiedenen Institutionen mit der Analyse der Lenksäule, um die Ergebnisse vergleichen und korrelieren zu können.

Ein Teil der Untersuchung wurde der Forschungs- und Versuchsabteilung der Luftwaffe in Pratica di Mare bei Latium anvertraut, der andere dem Metallurgie-Labor für industrielle Chemie der Universität Bologna. Beide Teams nutzten ein Rasterelektronenmikroskop (REM) - das fortschrittlichste Instrument der damaligen Zeit.

Die Experten

Dreißig Jahre später gelang es mir, Gian Paolo Cammarota und Angelo Casagrande zu kontaktieren, die beiden Professoren der Universität Bologna, die die Analysen durchführten. Sie sind Freunde geblieben und sehen sich noch gelegentlich.

Cammarota, 1936 in Mailand geboren, heute im Ruhestand, verbringt seine Zeit zwischen Bologna, Venedig und Deutschland. Ein schlanker, zurückhaltender Mann, der jedes Wort sorgfältig abwägt.

Während Cammarotas Spezialgebiet die industrielle Chemie war, gehört Casagrande immer noch zum Lehrkörper der Fakultät für Metallurgie.

"Wir verabschieden uns jetzt vom Rasterelektronenmikroskop. Es gibt modernere und fortschrittlichere Untersuchungsmethoden. Aber das REM lieferte uns im Fall Senna klare, unbestreitbare Antworten", sagt Casagrande.

Die Lenksäule im Williams FW16

Im ursprünglichen Design des Williams FW16 war die Lenksäule ein einteiliges Metallrohr mit einer Länge von 910,2 Millimeter, von der Verbindung mit der Lenkgetriebeeinheit bis zur Lenkradnabe.

Formel-1-Fahrer Ayrton Senna inspiziert das Williams-Cockpit

Formel-1-Fahrer Ayrton Senna inspiziert das Williams-Cockpit Zoom

In einer Entfernung von 685,5 Millimeter vom unteren Ende (Lenkgetriebe) war die Säule über eine Aluminiumlegierungshalterung mit selbstschmierendem Teflon-ähnlichem Lager am Chassis befestigt, wobei der verbleibende Teil - 224,7 Millimeter lang - als Kragarm fungierte.

Warum Williams die Lenksäule bearbeitete

Senna beklagte sich beim Team über Unbehagen im Cockpit: Er wollte die Lenksäule absenken, um seine Fahrposition zu verbessern, da bei Verwendung seines bevorzugten Lenkraddesigns seine Fingerknöchel schmerzhaft gegen die Oberseite des Chassis stießen.

Dies war keine einfache Aufgabe, da die Vorschriften verlangten, dass nach dem Entfernen des Lenkrads genügend Freiraum vorhanden sein musste, damit eine 250 x 250 Millimeter große Schablone durch den Cockpitbereich passen konnte. So schrieben es die FIA-Regeln von 1994 vor.

Wie Williams die Lenksäule bearbeitete

Um Sennas Wünsche zu erfüllen, wies der damalige Williams-Chefdesigner Adrian Newey das Konstruktionsbüro an, die Lenksäule um zwei Millimeter abzusenken. Als festgestellt wurde, dass dies die FIA-Schablone blockierte, entschied man sich als nächstbeste Lösung, den Durchmesser der Säule an dieser Stelle um vier Millimeter zu verringern.

Adrian Newey, Ayrton Senna und David Brown (Williams)

Adrian Newey, Ayrton Senna und David Brown (Williams) Zoom

"Die Reduzierung des Rohrdurchmessers war ein großer Konstruktionsfehler", sagt Cammarota. "Die chemischen und mechanischen Eigenschaftsanalysen der Teile waren nicht einheitlich - sie zeigten eindeutig die Verwendung von zwei verschiedenen Materialien."

Die modifizierte Säule bestand aus drei Teilen: zwei aus T45-Stahl mit Außendurchmessern von 22,225 Millimeter und einer Wandstärke von 0,9 Millimetern sowie einem Zwischenstück aus EN14-Stahl mit einem Außendurchmesser von 18 Millimetern und einer Wandstärke von 1,2 Millimetern. Diese Teile wurden miteinander verschweißt.

Frage: "Welche Tests haben sie durchgeführt?"

Gian Paolo Cammarota: "Wir führten eine oberflächliche metallografische Analyse durch, dann Rauheitsprüfungen innen und außen sowie eine fraktografische Untersuchung. Die chemische Analyse wurde an Cermet übergeben."

Im von Professor Lorenzini dem Gericht vorgelegten Gutachten heißt es: "Allgemein muss gesagt werden, dass die dreiteilige Lenksäule eine schlecht konzipierte Modifikation darstellt, da die Dünnheit des Abschnitts genau an der Stelle maximaler Belastung, der abrupte Querschnittswechsel mit einem zu kleinen Radius und die durch Bohren und Drehen verursachten Kratzer eine strukturell kritische Situation schaffen, mit einem folglich hohen Risiko eines Versagens unter statischen Lasten und dynamischer Ermüdung."

"Im Übrigen können an den äußeren und inneren Oberflächen der Verbindung, unmittelbar unterhalb der Bruchfläche, ausgeprägte umlaufende Spuren von Bearbeitungswerkzeugen beobachtet werden, sodass die äußere und innere Oberfläche des Rohrs eine für unter Ermüdung arbeitende Komponenten ungeeignete Oberflächenbeschaffenheit aufweist."


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Frage: "Könnte ein menschlicher Fehler beim Schweißen aufgetreten sein?"

Cammarota: Das schließe ich aus. Ich zeigte unsere Bilder Professor Horst Herold von der Universität Magdeburg, einem führenden Experten auf diesem Gebiet, und er versicherte mir, dass die Schweißnähte perfekt waren. Das Problem lag vollständig in der Reduzierung des Rohrquerschnitts genau an der Stelle maximaler Belastung."

Frage: "Warum versagte dann die Lenksäule?"

Angelo Casagrande: "Sie war bereits vor dem Start des Grand Prix beschädigt. Kurz gesagt: Es gab einen Riss (in der Metallurgie eine dünne und oft tiefe Fissur, die einem Bruch vorausgeht), der sich vor dem Rennen, in dem Senna starb, gebildet hatte. Die vorhandene Oxidation erlaubte uns nicht, genau zu bestimmen, wann das Ermüdungsphänomen begonnen hatte, aber es reichte aus, um zu verstehen, was passiert war."

Frage: "In der Formel 1 werden normalerweise die besten verfügbaren Materialien gewählt. Was könnte schiefgelaufen sein?"

Casagrande: "Sie nahmen eine nicht geplante Modifikation vor. Die Abmessungen der Welle und des Kragarms waren so, dass selbst mit einem Supermaterial die Säule bestenfalls ein Rennen länger gehalten hätte. Dann wäre sie ausgefallen, wenn sie nicht ersetzt worden wäre, weil sie den Belastungen nicht standhalten konnte."

"Es ergibt keinen Sinn, dem Material die Schuld zu geben: Das war ein verschärfender Faktor, aber angesichts der Dimensionen und der strukturellen Eigenschaften der Komponente hätte dieses Metall nicht viel besser abschneiden können."

Das Unfallauto von Ayrton Senna wird abtransportiert

Das Unfallauto von Ayrton Senna wird abtransportiert Zoom

Frage: "Wie lange hatten sie die Lenksäule zur Verfügung?"

Cammarota: "Weniger als eine Woche, dann gaben wir sie zurück. Gerade genug Zeit, um die REM-Untersuchungen durchzuführen. Ingenieur Danesi war während der Analyse immer anwesend und vertrat Williams."

"Anfangs wollte das britische Team nichts von Ermüdung hören, aber wir sahen den Bruch sofort und mussten beurteilen, wie viel des Rohrs durch Ermüdung und wie viel durch Zerreißen gebrochen war."

Frage: "Die Untersuchung umfasste auch Rauheitsprüfungen ..."

Cammarota: "Rauheit ist das Verhältnis zwischen der Basis einer Rille und der Oberfläche. Wenn der Wert hoch ist, riskiert man ernsthafte Probleme."

"In der Luftfahrt müssen alle Oberflächen spiegelglatt poliert sein. Es dürfen keine Rillen vorhanden sein, die Spannungen konzentrieren und den Ausgangspunkt für Oberflächenveränderungen bilden können, wenn die Ermüdungsgrenze des Materials überschritten wird."

"An unserer Säule war außen nur eine teilweise Politur vorhanden - sie hätte spiegelglatt sein müssen - und innen war überhaupt nichts gemacht worden. Der Riss begann definitiv von innen, wahrscheinlich schon während des Trainings."

"Es gab drei Abschnitte im Rohr: Einer zeigte Ermüdung; der mittlere Abschnitt zeigte eine Mischung aus Ermüdung und duktiler Fraktur, was bei sehr zähem Material zu erwarten ist; und im dritten, dem Endabschnitt, gab es klare Hinweise auf einen katastrophalen Bruch durch den Aufprall auf die Wand."


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Frage: "Das Team hatte Schichten aus Kohlefaser entfernt und einen Teil der Chassisabdeckung ausgeschnitten. Haben diese Eingriffe die Steifigkeit des Monocoques verringert und könnten sie zur Einleitung der Risse in der Lenksäule beigetragen haben?"

Cammarota: "Es ist möglich, aber dieses Thema wurde im Prozess nicht behandelt. Es könnte eine Beschleunigung der Rissausbreitung gegeben haben - wir hätten genau wissen müssen, wann der Riss begann."

Der Strafprozess in Italien

Der Strafprozess war umfangreich und erhob Anklage wegen fahrlässiger Tötung gegen Frank Williams, Patrick Head und Newey sowie gegen den FIA-Funktionär Roland Bruynseraede, den Rennorganisator Federico Bendinelli und den Imola-Streckenleiter Giorgio Poggi.

Im Verlauf des Verfahrens ließ Staatsanwalt Passerini die Anklagen gegen Williams, Bruynseraede, Bendinelli und Poggi fallen und konzentrierte sich auf Head und Newey.

Nachdem Williams die Lenksäule in Besitz genommen und den Ermüdungsriss erkannt hatte, baute das Team einen Prüfstand, um festzustellen, ob die Säule selbst in geschwächtem Zustand noch stark genug war, um die für normales Fahren erforderlichen Lenkkräfte zu übertragen. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass dies der Fall war.

Das Fernsehmaterial zeigte deutlich, wie das Heck von Sennas Auto ausbrach, kurz bevor sein Wagen von der Strecke abkam - was nicht mit der Behauptung der Anklage übereinstimmte, dass das Lenksystem versagt habe und das Auto deshalb geradeaus fuhr.


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Es war unmöglich zu beweisen, ob das Versagen die Ursache oder die Folge des Unfalls war. Daher wurden Head und Newey zu Recht freigesprochen, und ein späterer Berufungsversuch scheiterte.

Die Lehren aus Imola beeinflussten nicht nur das laufende Sicherheitsprojekt der FIA, sondern auch den Prozess der Fahrzeugkonstruktion. Williams führte beispielsweise ein System ein, bei dem sicherheitskritische Komponenten erst dann zur Produktion freigegeben werden konnten, wenn die Entwürfe von einem erfahrenen Festigkeitsingenieur gegengezeichnet worden waren.

"Unabhängig davon, ob diese Lenksäule den Unfall verursacht hat oder nicht", schrieb Newey in seiner Autobiografie "Wie man ein Auto baut" (SPONSORED LINK: Hier das Newey-Buch kaufen!), "es lässt sich nicht leugnen, dass es ein schlechtes Konstruktionsstück war, das niemals ins Auto hätte eingebaut werden dürfen."

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