Schicksalsrennen Silverstone: "Bulle" ohne Hörner?
Die Konkurrenz von Red Bull hofft, dass die Reglementänderungen ab Silverstone Red Bull einbremsen werden - Doch es gibt berechtigte Zweifel
(Motorsport-Total.com) - Spaltet sich das Jahr 2011 in zwei gegensätzliche Saisonhälften? Die eine Hälfte mit der klaren Red-Bull-Dominanz und die andere mit dem gnadenlosen Absturz des Weltmeister-Teams? Darauf hofft die Konkurrenz des bisher alles dominierenden österreichischen Rennstalls mit Sitz in Milton Keynes, denn durch das ab Silverstone - also genau bei Saisonhälfte - gültige Zwischengas-Verbot könnten die Karten in der Formel-1-WM neu gemischt werden.

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Der Kurs in Silverstone ist bereit, doch wie stark ist die Red-Bull-Konkurrenz?
Das ist für McLaren und Ferrari, die als Mitfavoriten in die Saison gegangen waren, tatsächlich der einzige Hoffnungsschimmer. Denn Sebastian Vettel fuhr in den ersten acht Rennen von Sieg zu Sieg - ohne die letzten vier Runden in Schanghai und die letzte Runde in Montreal hätte der 23-Jährige alle bisherigen Rennen gewonnen.
Kein Wunder, dass beim ungeduldigen Lewis Hamilton irgendwann die Nerven durchgingen, als er mitbekam, dass ihm die WM mehr und mehr entgleitet. "Der Titel ist weit, weit weg", klagt der Brite, der derzeit an Stimmungsschwankungen leidet, gegenüber dem 'Independent'. "Das ist enttäuschend, denn ich habe mir dieses Jahr viel Mühe gegeben. Ich weiß auch, wie hart das Team pusht. Wir haben uns seit 2007 und 2008 massiv verbessert und unsere größte Qualität ist es, zurückzuschlagen. Das ist aber jetzt das dritte Jahr in Folge, in dem ich kein titelfähiges Auto habe."
Hamilton zwischen Hoffnungslosigkeit und Motivation
Hamilton spürt seine Chancenlosigkeit, klammert sich aber an seine letzte Hoffnung in Silverstone. "Ich mache in der Fabrik nur positiven Druck. Ich habe das Gefühl, dass ich dem Team eine gute Richtung vorgegeben habe, wie ich das Auto gerne hätte. Es ist ganz klar: Ich will haben, was Red Bull hat, aber es ist nicht so einfach."
Dennoch übt er sich in Durchhalte-Parolen: "Nichts ist unmöglich. Irgendwie habe ich das Gefühl in mir drinnen, dass wir etwas finden werden und jedes verdammte Rennen nach diesem gewinnen werden und dann noch immer die WM gewinnen können. Aber wenn man zum nächsten Grand Prix kommt und nicht gewinnt, dann denkt man an den nächsten und an den nächsten und dann fehlen dir irgendwann die Gelegenheiten. Noch haben wir aber die Möglichkeit."
Wenn das Zwischengas-Verbot die von den Red-Bull-Rivalen erhoffte Wirkung erzielt, könnte Hamiltons Wunsch in Erfüllung gehen. Denn dann wäre der Vorteil des Teams von Adrian Newey dahin und Hamilton, Jenson Button und Fernando Alonso würden nicht mehr mit stumpfen Waffen gegen die "Bullen" anrennen und könnten in der zweiten Saisonhälfte endlich zum Angriff blasen.
Red-Bull-Konzept im Nachteil?
Renault-Technikchef James Allison rechnet tatsächlich damit, dass Red Bulls Auspuffkonzept durch die Reglementänderungen stärker beschnitten wird als das hauseigene Renault-Konzept: "Mit einem Gebläse an der Rückseite wird der Anpressdruck des Auspuffs an der Hinterachse generiert. Da die neuen Regeln die Auswirkung des Anblasens beim Kurveneingang viel mehr reduzieren als beim Ausgang einer Kurve, ist es möglich, dass die Autos mit rückwärtigem Gebläse beim Bremsen am Kurvenausgang mehr Nervosität erzeugen sowie mehr Untersteuern produzieren."
Das würde freilich auch Ferrari und McLaren treffen, die den Diffusor mit ihren Red-Bull-Kopien ebenfalls weit hinten anblasen - es darf aber davon ausgegangen werden, dass die Red-Bull-Version bisher am effektivsten funktioniert hat - muss man dadurch auch den größten Leistungsverlust in Kauf nehmen?
Alonso fordert Siege
Auch der in dieser Saison sieglose Ferrari-Star Alonso, der sich Rennen für Rennen vorbetet, nach wie vor im Titelrennen zu sein, hofft auf den Durchbruch in Silverstone. "Alles hängt vom Auto ab", weiß er. "Wenn das Auto siegfähig ist, dann haben wir noch genug Zeit, um zurückzuschlagen. Wenn wir aber ständig durchschnittlich eine Sekunde hinter Red Bull liegen, dann ist dies unmöglich. Daher warten wir gerade jetzt auf wichtige Verbesserungen am Auto."
Bereits im Vorjahr war es dem Spanier ab Silverstone mit einem großen Aerodynamikpaket an seinem Ferrari gelungen, sich ins Titelrennen zurückzubeamen. Darauf hofft er auch 2011: "Wenn es uns in den nächsten paar Rennen gelingt, dann sind wir in Kampfeslaune, wenn aber alles gleich weitergeht, dann ist es logischerweise unmöglich. Es gibt keine Wunder."
Ferrari als Reglement-Gewinner?
Es ist bekannt, dass sich vor allem Ferrari durch das Zwischengas-Verbot einen Vorteil erhofft. Hamilton teilt diese Beobachtungen: "Ferrari dürfte am richtigen Weg sein. Ich habe gehört, dass - während sich die Teams über die Reglementänderungen beschwert haben - sich Ferrari nicht ein Mal beschwert hat. Das gibt mir das Gefühl, dass sie ganz entspannt sind."
Alonso deutet kryptisch an, dass dem Grand Prix von Großbritannien eine besondere Bedeutung zukommt: "Wenn es uns in Silverstone gelingt, vorne zu sein, dann bedeutet das, dass wir für das restliche Jahr ein konkurrenzfähiges Auto haben. Sonst müssen wir um Etappensiege kämpfen: Podestplätze, schnellste Runden und all diese sekundären Dinge."
Haug glaubt nicht an Red-Bull-Rückfall
Während McLaren und Ferrari also noch hoffen, weiß man bei Mercedes längst, dass der Titel auch dieses Jahr außer Reichweite ist. Dennoch arbeitet man derzeit selbst daran, die Folgen des Zwischengas-Verbots so gering wie möglich zu halten. Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug versucht ein Missverständnis klarzustellen: Durch das Zwischengas-Verbot "fällt nur die Anströmung weg, wenn man vom Gas geht" - also in der Bremsphase.
Daher ist klar: "Wenn man die richtige Anlage und den Auspuff an der richtigen Stelle hat, dann kommt das System in den Passagen, wo man Gas gibt, nach wie vor sehr zur Geltung. Es bringt nur nicht mehr den Vorteil in der Phase des Anbremsens."
Haug nimmt daher den Red-Bull-Rivalen die Hoffnung, dass sich das Kräfteverhältnis in Silverstone auf den Kopf stellen könnte: "Ich wage die Prognose, dass sich das Leistungsbild nicht grundsätzlich verändert. Jeder hat an dem System gearbeitet - einer mit mehr, der andere mit weniger Erfolg. Aber der, der bis jetzt Dritter war, wird nicht Erster sein. Und der, der vorher Erster war, wird nicht Dritter sein. Das kann ich mir nicht vorstellen."
Webber glaubt sogar an Red-Bull-Vorteil
In die gleiche Kerbe schlägt übrigens auch der einstige Haug-Schützling und langjährige Red-Bull-Pilot Mark Webber: "Ich wäre doch sehr überrascht, wenn die Regeländerungen die Reihenfolge im Feld und bei den Rennen verändern würden. Mein Bauchgefühl sagt mir sogar, dass sie uns sogar helfen könnten. Wir machen uns wegen dieser Regel jedenfalls nicht allzu große Sorgen - sagen wir es mal so."
Webbers Gelassenheit ist nicht unbegründet: Bereits seit dem Grand Prix von Spanien deutet sich an, dass die abgasangeblasenen Diffusorsysteme beschnitten werden könnten. Wer Designgenie Newey kennt, der weiß, dass der Brite mit Sicherheit keine Sekunde gezögert hat, um nach einem Weg zu suchen, eine mögliche Einschränkung zu umgehen.
Wie gut Red Bull und Newey mit Reglementänderungen umzugehen wissen, zeigte sich bereits 2009, als der Rennstall seinen beispiellosen Siegeszug in der Formel 1 begonnen hatte. Webber weiß, warum: "Unser Team kommt traditionell gut mit technischen Änderungen zurecht, da wir dank unserer cleveren Leute gut auf Dinge reagieren können."
Kann sich Red Bull nur selbst schlagen?
Dass die Konkurrenz nun die Messer wetzt und große Hoffnungen in das Rennen in Silverstone setzt, beunruhigt den Australier keineswegs: "Wenn Teams verlieren, stehen sie unter dem Druck, einen Hoffnungsschimmer finden zu müssen, dass sich die Dinge ändern. Der Gedanke, dass Red Bull unter den Änderungen leiden wird, ist mehr eine Hoffnungen, als eine Tatsache."
Die Vorwürfe der Konkurrenz, der Red-Bull-Bolide würde nicht dem Reglement entsprechen, ordnet Webber in eine ähnliche Kategorie ein: "Andere Teams hinterfragen ständig unser Design, weil wir so gute Leistungen bringen. Wir werden in Silverstone immer noch sehr konkurrenzfähig sein."
Der "Aussie" macht derzeit für Red Bull nur einen wahren Gegner aus: das eigene Team. "Wir kämpfen gegen die besten Teams und Fahrer. Wir wissen also, dass sie über uns herfallen, wenn wir auch nur ein bisschen selbstgefällig sind. Daher müssen wir am Ball bleiben und dürfen nicht zu gleichgültig werden."
Webber sieht letzte Chance gegen Vettel
Sollte Webber recht behalten, dass der Red-Bull-Vorsprung durch das Zwischengas-Verbot tatsächlich noch eine Spur anwächst, dann wäre er der einzige Pilot, der seinen Teamkollegen an der Titelverteidigung hindern könnte. Ein unmögliches Unterfangen? "Seb kann abgefangen werden", so Webber gegenüber dem 'Daily Express', "es bedarf aber phänomenaler Bemühungen. Es liegen noch viele Rennen vor uns und ein paar Ausfälle Sebs könnten die Dinge ziemlich schnell ändern, da muss man also einhaken. Irgendjemand muss also jetzt ein paar Siege holen."
Er hält es durchaus für möglich, dass diese Aufgabe auf ihn zurückfallen könnte: "Die nächsten vier oder fünf Rennen sind sehr wichtig, da das Momentum die Dinge ändern kann. Es gibt nur einen Kerl, der bisher wirklich mit seiner Saison zufrieden sein darf und das ist Seb. Alle anderen müssen auf eine gewisse Weise frustriert sein."
Den Gefallen eines Stallkrieges, der Red Bull im Vorjahr destabilisierte, will der 34-Jährige seinen Rivalen aber nicht mehr machen: "Seb und ich kommen gut miteinander aus. Unsere Beziehung ist wie jede andere auf diesem Niveau - das gleiche gilt für Lewis und Jenson bei McLaren. Marketingtechnisch sieht alles nett und gemütlich aus, dennoch wollen sie sich besiegen, und so sollte es sein. Die Harmonie im Team ist wichtig. Ohne sie bekommen wir keine Resultate."

