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  • 04.07.2013 22:32

  • von Rencken, Ziegler und Wittemeier

Reifenprobleme: Indy 2005 und die Angst vor Niederlagen

In der Diskussion um die Pirelli-Reifen geht es angeblich kaum um Haltbarkeit oder Performance: Sicherheit im Fokus - Erinnerungen an Indianapolis 2005

(Motorsport-Total.com) - Seit Monaten stehen die Reifen im Zentrum kontroverser Debatten in der Formel 1. Der exklusive Ausrüster Pirelli hat immer wieder herbe Kritik einstecken müssen. Die Italiener waren von "Formel-1-Showmaster" Bernie Ecclestone ganz bewusst aufgefordert worden, weniger haltbare Reifen zu entwickeln, um das Spektakel in der Königsklasse auf die Spitze zu treiben. Über weite Phasen wurde das Ziel erreicht: Es gab jederzeit ausreichend Diskussionsstoff, die Formel 1 bot eine gewisse Unvorhersehbarkeit. Gut fürs Geschäft.

Titel-Bild zur News: Pirelli Reifen FIA

Pirelli soll für die Show sorgen, die FIA die Sicherheit im Blick behalten Zoom

Am vergangenen Wochenende wurde jedoch für alle Welt sichtbar, dass dieses Konzept zu weit getrieben wurde. Im Rennen in Silverstone platzen die Pneus an vier Autos, im Training gab es einen weiteren Schaden dieser Art. "Dafür setze ich mein Leben doch nicht aufs Spiel", brachte Lewis Hamilton nach dem Grand Prix in seiner Heimat seine Wut auf den Punkt. Der britische Mercedes-Pilot war der erste gewesen, dem das Gummi im Rennen weggeflogen war. Noch am Abend des Silverstone-Sonntags gab es erste Krisensitzungen. Pirelli reagierte in den vergangenen Tagen schnell, um veränderte Reifen zum Nürburgring bringen zu können.

"Für einen Fahrer ist das kein tolles Gefühl, wenn solche Dinge passieren. Wir Piloten, die Teams und auch Charlie Whiting haben sofort klargestellt, dass es aufhören muss", sagt Red-Bull-Pilot Mark Webber. Sogar ein Boykott wird diskutiert. "Am Ende halten wir fest, dass sich niemand verletzt hat. Außerdem hat Pirelli bestimmt daraus gelernt." Die Formel 1 ist derzeit bemüht, den Reifenhersteller zu schützen und den Sport wieder in den Vordergrund zu rücken. "Ich mache mir jetzt erst einmal an diesem Wochenende keine Sorgen bezüglich der Reifen", so der australische Teamkollege von Weltmeister Sebastian Vettel.

In vier Tagen von riskant auf sicher?

"Ich denke es ist gut, dass wir hier einen neuen Reifen haben, weil wir nicht wollen, dass die Probleme von Silverstone noch einmal auftreten", stimmt McLaren-Pilot Jenson Button zu. Sein Teamkollege Sergio Perez ergänzt: "Pirelli kann es sich nicht leisten, noch so ein Wochenende wie in Silverstone zu haben. Es war eine große Sorge um die Sicherheit. Pirelli reagiert darauf, auch wenn sie nur ein paar Tage Zeit hatten. Für Budapest erwarte ich große Änderungen. Wir brauchen sie, und Pirelli macht das Richtige."

Ist nun also alles wieder gut? Keinesfalls. Bei allem Optimismus, dass das Grand-Prix-Wochenende in Deutschland ohne weitere Schäden über die Bühne gehen wird, so bleiben doch erhebliche Zweifel. Nicht ohne Grund trifft sich am Donnerstagabend eine Delegation der Piloten mit Vertretern von FIA und Pirelli. "Ich werde nicht dabei sein. Da müssen nicht alle hin. Wenn du 40 Leute in einem Raum versammelst, dann geht gar nichts voran", sagt Webber, der das Meeting allerdings für äußerst wichtig erachtet.

"Die Sicherheit muss klar an erster Stelle stehen. Die Teams müssen bei der Sicherheit ihrer Fahrzeuge jede Menge Vorgaben erfüllen. Es gibt reichlich Crashtests vor der Saison. Diese Tests sind heftig. So etwas sollten Zulieferer eigentlich auch über sich ergehen lassen müssen", meint der erfahrene Australier. In Reihen der Teams und Piloten gibt es anhaltende Unsicherheit. Die heftigen Delaminationen und kapitalen Schäden könnten jederzeit aus dem Nichts noch einmal auftreten - auch mit veränderten Pneus.

"Es gab in Bahrain ein paar Probleme, in Barcelona auch. Die Probleme waren zwar immer wieder andere, aber alles zusammen war doch ein wichtiges Signal, dass nachgebessert werden muss", betont Webber und spricht somit sogar ein mögliches Versäumnis an. Pirelli wollte und sollte ohnehin veränderte Hinterreifen bringen, aber dieses Vorhaben wurde durch ein Veto mehrerer Teams gestoppt. Die Quittung folgte wenige Tage später. Die Fahrer hoffen auf ein generelles Umdenken: Sicherheit an eins, Performance an zwei. "Nach langem Hin und Her ist es gut, dass man die Teams jetzt quasi übergangen hat und eine Entscheidung aufzwingt", meint Vettel.

Die Zeichen zu spät erkannt?

"Wir wissen seit vielen Rennen, dass wir Probleme mit Delamination haben. Ob es Trümmerteile oder einfach ein Reifenschaden sind, ist nicht wirklich relevant. Es ist derselbe Ausgang - und der ist gefährlich, wie wir gesehen haben. Das Problem besteht seit Bahrain", legt Jenson Button noch einmal den Finger in die Pirelli-Wunde. Der McLaren-Pilot ist als Vorsitzender der Fahrergewerkschaft GPDA das Sprachrohr der Piloten. Und der Brite sagt: "Für alle waren die Probleme kein wirklicher Schock." Die Schäden seien eine logische Konsequenz des Konzeptes mit wenig haltbaren Pneus gewesen.

Die Gier nach besserer Show hat die Piloten in erhebliche Gefahr gebracht. Die umherfliegenden großen Gummifetzen (samt innerer Metallstruktur) haben den Piloten in Silverstone regelrechte Schocks versetzt. Nicht auszudenken, wenn einem Fahrer ein solches Teil bei Tempo 300 gegen den Helm geknallt wäre. Das enorme Risiko hat die Piloten aufgerüttelt, sie zusammengeschweißt und die Prioritäten verschoben. "Sobald es um das Thema Sicherheit geht, dann ist eine andere Herangehensweise gefragt. Dann darf es nicht mehr um Performance gehen. Da müssen dann alle an einem Strang ziehen", sagt Webber, der in der aktuelle Situation Parallelen zum Reifendrama 2005 in Indianapolis sieht.

Grid in den USA

Indianapolis 2005: Sechs Autos auf Bridgestone konnten starten Zoom

"Damals in Indy hatten wir das Glück, dass wir die Problematik schon im Training deutlich erkannt haben. Die Pneus sind damals in einer richtig schnellen Kurve plötzlich geplatzt. Damit war kein Rennen möglich", erinnert sich der Red-Bull-Pilot an ein Rennen, das damals nur mit sechs Autos gefahren werden konnte. "Hätten wir die Schäden in Silverstone schon am Freitag in der Intensität des Sonntages gehabt, dann wäre die Konsequenz wohl die gleiche gewesen wie damals. Es ist nicht möglich, über Nacht einen neuen Reifen aus dem Hut zu zaubern und ihn in hoher Stückzahl am nächsten Tag in der Boxengasse zu verteilen."

"Was in Silverstone passiert ist, war für uns alle extrem gefährlich. Ich möchte nicht in der Haut der Pirelli-Leute stecken. Es ist nicht einfach. Auf der anderen Seite: Wenn man sich auf einem solchen Level bewegt, dann muss man ein Produkt bringen, dass haltbar und funktionell ist - und zwar auf allen Strecken und unter allen Bedingungen", so der Australier, der überzeugt ist, dass in Silverstone nur noch wenig zum Rennabbruch fehlte. "Wenn Trümmerteile herumliegen und große Reifenfetzen fliegen, dann sind das nicht gerade die besten Voraussetzungen für ein Rennen."

Durch Tricks eine Grenze überschritten?

Die Arbeit wird derzeit auf Pirelli abgewälzt, die nun unter Hochdruck Lösungen anbieten sollen. Aber sind die Italiener die Schuldigen? Sicherlich hat der Wunsch nach mehr Show und Spektakel den Hersteller in diese Entwicklungsrichtung getrieben. Auf der anderen Seite haben womöglich auch die Teams einen nicht unerheblichen Anteil an der Entstehung von Problemen. Pirelli gibt bei seinen Pneus konkrete Vorgaben für den Betrieb: Bereiche für Reifendruck und Sturz, Rollrichtungen. Wen interessiert es? Offenbar nur wenige. Die Formel-1-Teams montieren die Hinterräder immer wieder so, dass sie gegen die vorgesehene Laufrichtung rotieren.

"Ich weiß nicht, wer ursprünglich auf die Idee gekommen ist. Ich weiß nur, dass ich seit Beginn meiner Formel-1-Karriere Reifen vertauscht habe. Das ist seit Jahren eine gängige Praxis", stellt Mercedes-Pilot Lewis Hamilton das Vorgehen der Teams dar. "Mit seitenverkehrt montierten Reifen fühlt sich das Auto anders an. Manchmal ist das positiv, manchmal nicht. Das Vertauschen der Reifen wird aber von allen praktiziert, weil es insgesamt betrachtet einen kleinen Vorteil bringt." Es bringt Voteile in Sachen Performance - nur das interessiert.

Reifen Schilder Laufrichtung

Ob links oder rechts: Die Teams spielen mit den Pneus nach Belieben Zoom

"Bei uns halten wir die Vorgaben von Pirelli jederzeit ein", stellt McLaren-Pilot Sergio Perez klar. Unterdessen windet sich Vettel um klare Aussagen bezüglich der Herangehensweise von Red Bull herum. "Ich will mich auf eine Diskussion, die in Details geht, nicht einlassen. Was in der Öffentlichkeit dargestellt wurde, ist auch nicht alles so richtig. Das jedem zu erklären, würde zu lange dauern und ist viel zu kompliziert", ist der Champion offenbar nicht zu einem klaren Statement bereit. Sein Teamkollege Webber erklärt: "Es muss doch klar sein, dass die Teams immer bis an die ultimativen Grenzen gehen. So ist die Formel 1."

Wie verändert sich die Hackordnung?

Die Sicherheit für Fahrer, Fans und Streckenposten steht für den Moment im Fokus. Gleichzeitig wird aber im Zuge der Einführung veränderter Reifen sofort wieder über die möglichen Auswirkungen auf die Hackordnung diskutiert - so ist die Formel 1. "Inwieweit die Reifen nun bei den Teams besser oder schlechter funktionieren, weiß doch noch niemand. Wir kennen diese Art von Pneus aus dem vergangenen Jahr, aber hatten noch nie solche auf dem aktuellen Auto. Wie das zusammenpasst, kann man noch nicht wissen", sagt Webber.

"Das könnte sogar Auswirkungen auf dem WM-Kampf haben. Red Bull hat allerdings Rennen mit allen Sorten von Reifen gewonnen. Ich hoffe, das bleibt so", fügt der Australier hinzu. "Es wird eine Veränderung geben, keine Frage. Aber für mich ist das nicht wichtig", so Perez. "Letztlich ist es ein Sport, und wir sind hier und riskieren unser Leben. Wenn es ein Extraelement an Sicherheit gibt, und Teams sich dagegenstellen, weil sie Performance-Einbußen befürchten, dann ist das eine negative Sache."


Fotos: Großer Preis von Deutschland


"Es ging dabei niemals um Performance", betont Vettel. "Was viele Leute dabei immer vergessen und komplett übergehen ist, dass wir die WM anführen. Wenn man davon spricht, wer am meisten zu verlieren hat, dann muss man von uns sprechen. Wir haben uns allerdings niemals gescheut, auch Kritik an der Sicherheit des Reifens auszusprechen, was uns falsch ausgelegt wurde. Ich glaube, dass der Reifenhersteller generell kein Interesse hat, in das Ergebnis einzugreifen. Ob dann ein Team besser oder schlechter mit dem Reifen klarkommt, ist dann Sache des Teams an sich."