• 14.01.2011 15:30

Lowe erklärt, wie das neue Reglement funktioniert

McLaren-Chefingenieur Lowe im Interview: Warum es keinen neuen F-Schacht gibt, was der Heckflügel bringt und wo die entscheidende Pirelli-Schwäche liegt

(Motorsport-Total.com) - Die Saison 2011 bringt durch die neuen Pirelli-Reifen, das Comeback des Energie-Rückgewinnungs-Systems KERS und durch den verstellbaren Heckflügel, der das Überholen erleichtern soll, große Änderungen mit sich. Noch weiß allerdings kaum jemand, wie sich das neue Reglement in der Praxis auswirken wird. McLaren-Chefingenieur Paddy Lowe klärt im Interview viele bislang offene Fragen, gibt interessante Einblicke und legt dar, wie McLaren auf die große Herausforderung reagiert.

Titel-Bild zur News: Gary Paffett

McLaren geht mit einem Übergangsauto in die Testsaison 2011

Frage: "Paddy, welche Regeländerung hat euch dieses Jahr am meisten abverlangt und warum?"
Paddy Lowe: "Ich finde, dass die interessanteste und herausforderndste Änderung - und das trifft sich bei mir in der technischen Abteilung - der verstellbare Heckflügel ist, der in den Rennen mehr Überholmanöver ermöglichen soll. Wir können ihn im Qualifying nutzen, wann immer wir wollen - ähnlich wie beim F-Schacht im Vorjahr. Dieses neue Paket hat uns interessante Optimierungsmöglichkeiten und technische Herausforderungen geboten, was Spaß gemacht hat."

Frage: "Der verstellbare Frontflügel aus dem Vorjahr wurde fallen gelassen und durch den verstellbaren Heckflügel ersetzt. Glaubst du, dass er sich in puncto Überholen als erfolgreicher herausstellen wird?"
Lowe: "Mit Sicherheit, ja. Er hat viel mehr Einfluss. Der verstellbare Frontflügel wurde gemeinsam mit den Regeln der Überholkommission 2009 eingeführt und er war nur als kleine Einstellungsmöglichkeit für die Fahrer gedacht, um die Balance des Autos anzupassen, während man versucht, ein anderes Auto zu überholen."

"Ich war Mitglied der Überholkommission und wir haben ihn eigentlich als Versicherungpolice eingeführt, da wir uns etwas Sorgen machten, dass das Auto im Windschatten aus der Balance geraten könnte und dadurch Übersteuern bekommt, sollten wir es nicht richtig hinbekommen haben. Es hat sich aber dann herausgestellt, dass niemand den Frontflügel mit diesem Hintergrund benützt hat, wir haben ihn nur genützt, um während des Rennens leichte Balanceänderungen durchzuführen."

"Aus diesem Grund haben wir uns im Vorjahr darauf geeinigt, ihn aus Gründen der Einfachheit und aus Kostengründen loszuwerden, denn es ist sowieso für alle gleich. Das sorgt im Rennen für eine zusätzliche Herausforderung, was die Balance angeht, denn jetzt müssen wir alle Frontflügel-Änderungen beim Boxenstopp durchführen."

Frage: "Warum wird euer Auto erst am Tag nach Ende des ersten Wintertests präsentiert?"
Lowe: "Es war immer unser Plan, es nach dem ersten Test zu präsentieren. Einer der Gründe war, dass wir aus dem ersten Test den Nutzen ziehen wollten, mit dem alten Auto - einer stabilen und bekannten Plattform - zu arbeiten und dabei zu versuchen, die neuen Reifen zu verstehen. Das gibt uns auch etwas mehr Zeit bei der Arbeit am neuen Auto. Es war immer so geplant. Wir rechnen damit, dass es für unsere Vorbereitungen optimal ist. Es ist immer ein Balanceakt, sich für ein Programm zu entscheiden."

Die Geheimnisse des verstellbaren Heckflügels

Frage: "Ist es möglich, mit dem F-Schacht etwas Kluges zu machen? Sind die Regeln absolut klar oder wird sie jemand umgehen und das wiederholen, was ihr letztes Jahr mit dem F-Schacht getan habt?"
Lowe: "Sag niemals nie, also würde ich es nicht ausschließen. Dennoch glaube ich, dass man sich diesmal doppelt abgesichert hat, um den wesentlichen Effekt auszuschalten. Aus meiner Sicht wird es unmöglich sein, denn Effekt aus dem Vorjahr zu reproduzieren. Das wird prinzipiell dadurch verhindert, dass diese komplexen Flügelsektionen, die man benötigt um einen gespaltenen Heckflügel und dadurch einen Strömungsabriss zu erlangen, nun nicht mehr wirken dürfen. Die Aero-Force-Sektionen, die durch den Heckflügel gehen - egal ob beim Hauptelement oder am Flap - müssen jetzt viel konventioneller sein."

"Aus meiner Sicht wird es unmöglich sein, den F-Schacht-Effekt aus dem Vorjahr zu reproduzieren." Paddy Lowe

"Man kann keine sehr scharfen Radien in dieser Sektion haben und dadurch auch keinen Schlitz kreieren. Dieser Schlitz war das essentielle Element, um einen Strömungsabriss zu erreichen. Zudem ist es jetzt ganz klar formuliert, dass der Fahrer den aerodynamischen Effekt nicht kontrollieren darf, was der Teil des Reglements war, den wir uns zunutze gemacht haben. Der Artikel 3.15 behandelte bewegliche aerodynamische Teile, nicht bewegliche Fahrer, und das war die Gelegenheit, die wir entdeckt hatten. Das wurde jetzt aber geschlossen."

Frage: "Es wurde kürzlich darüber gesprochen, wie Fahrer ihre Position verteidigen wenn andere den Heckflügel benutzen. Weiß du, was passiert, wenn drei Fahrer nebeneinander fahren? Dürfen die beiden folgenden Autos dann den Flügel benutzen? Hast du Bedenken wegen irgendwelcher Grauzonen?"
Lowe: "Ich glaube, dass keine wirklichen Grauzonen klargestellt werden müssen, denn die Regel ist in dem Bereich, der hier angesprochen ist, klar formuliert. Wenn die zwei folgenden Autos innerhalb einer Sekunde zu ihren Vorderleuten sind, dann können beide den Heckflügel bis zum folgenden Einsatzpunkt benutzen, der auf der nächsten Geraden ist. Das ist klar. Weniger klar ist, was das eigentlich bewirken wird - welche Auswirkungen wird es auf die Rennen haben?"

"Ich glaube, das ist etwas, das wir während der Saison sehen und herausfinden werden. Das wird aufregend werden. Die FIA hat eine Steuerungsmöglichkeit, indem sie die Einsatzpunkte auf den Geraden bestimmen kann, auf denen man den Knopf drücken darf. Zum Beispiel: Du darf ihn auf den letzten 300 Metern der Hauptgerade bis zum Bremspunkt drücken. Ich glaube, dass es in der Macht der FIA steht, die Situation zu managen, damit das System Sinn macht - das könnte ein oder zwei Rennen dauern, bis sich alles eingespielt hat. Sie können aber auch den Bereich auf der Geraden von Rennen zu Rennen verlängern oder verkürzen, was ihnen die Möglichkeit gibt, es so hinzukriegen, wie sie es sich vorgestellt haben."

Frage: "Was für ein Auto werdet ihr beim ersten Test einsetzen? Wird es Elemente des 2011er Autos besitzen oder werdet ihr Elemente des 2010er Chassis testen?"
Lowe: "Es ist ein ziemlich normales 2010er Chassis. Wir verwenden einige Entwicklungsteile, doch nichts Wesentliches, was das 2011er Paket angeht."

Frage: "Keinen beweglichen Flügel?"
Lowe: "Nein."

Riskiert McLaren Zuverlässigkeitsprobleme?

Frage: "Was war dein Eindruck von den neuen Pirelli-Reifen beim Test im vergangenen Jahr?"
Lowe: "Es war ein ermutigender Start. Pirelli steht vor einer Herausforderung. Wir fanden die Reifen in vielen Punkten sehr gut und nur in einem Punkt schwach - das war die Traktion am Kurvenausgang. Ich denke, das war für alle Teams gleich. Der Reifen verhielt sich bei hoher Geschwindigkeit sehr gut, sehr stabil und war auch am Kurveneingang sehr gut."

"Was den Abbau des Reifens angeht, haben sie eine Mischung nicht wirklich hinbekommen - das haben sie für den nächsten Test in Valencia korrigiert. Die andere Mischung verhielt sich, was den Abbau angeht, ganz vernünftig und es war immer noch ein Reifen, mit dem man Rennen fahren kann. Es war ein guter Start und wir haben ein paar Dinge gelernt. Die Schwäche am Kurvenausgang ist nicht so leicht zu lösen, also haben wir erkannt, dass das der wichtigste Bereich ist, auf den wir uns konzentrieren müssen. Jetzt müssen wir versuchen, die Auswirkungen zu mindern, bevor das neue Auto fertig ist."

"Die Schwäche der Pirelli-Reifen am Kurvenausgang ist nicht so leicht zu lösen." Paddy Lowe

Frage: "Warum präsentiert ihr in Berlin?"
Lowe: "Es war der Wunsch von Vodafone. Sie wollen in Berlin präsentieren - als Teil der Tätigkeiten von Vodafone Deutschland."

Frage: "Bist du besorgt, dass euer später Präsentationstermin während der Saison für Zuverlässigkeitsprobleme sorgen könnte? Euch fehlen 25 Prozent der möglichen Testzeit."
Lowe: "Es ist immer ein bisschen ein Balanceakt mit der Anzahl an Kilometern, die man aus Gründen der Zuverlässigkeit und wegen der Setup-Arbeit mit dem neuen Auto abspult. Dem gegenüber steht die Entwicklungszeit im Labor, im Windkanal und im Büro. Wir haben unsere Position gefunden. Was die Zuverlässigkeit angeht, wird mehr und mehr Arbeit im Labor verrichtet - auf dem Prüfstand, um die wichtigsten mechanischen Systeme des Autos zu prüfen."

"Wir sind also dieser Tage zuversichtlicher, dass wir sofort ein zuverlässiges Paket haben werden, ohne tausende Kilometer zurücklegen zu müssen. Natürlich lernt man durch die Kilometer immer etwas, doch es ist ein Handel. Ich hoffe, dass ich diesbezüglich nicht eines besseren belehrt werde, doch wir sind recht zuversichtlich, bei diesen drei Tests die nötige Zuverlässigkeit zu finden."

Wie stark ist der MP4-26?

Frage: "Wie zuversichtlich bist du, dass das diesjährige Auto konkurrenzfähig sein wird?"
Lowe: "Das ist immer die große Frage. Das ist eine sehr stressige Jahreszeit für alle Ingenieure würde ich sagen - zwischen dem jetzigen Zeitpunkt und dem ersten Qualifying der Saison, wenn wir wirklich wissen, wo wir stehen. Jedem - ganz egal ob man glaubt, dass es gut oder schlecht läuft - fehlt der Anhaltspunkt, wieviel Leistung erforderlich ist. Wir sind zuversichtlich, gute Arbeit geleistet zu haben. Wir sind zufrieden und haben über den Winter sehr gut gearbeitet. Wir glauben, dass wir ein gutes Auto haben. Doch das gilt für alle Bewerber. Sie alle arbeiten so hart wie wir. Wir wissen also nicht wirklich, wie es aussieht, doch das ist das Spannende und der Grund, warum wir in diesem Sport sind."

Frage: "Seid ihr, was die Entwicklung angeht, dort wo ihr sein wollt?"
Lowe: "Ja, ich glaube schon, sofern wir sagen können, dass das dort ist, wo wir sein können. Es klingt, als würde ich kodiert sprechen! Wenn du einen Winter wie letzten Winter hast, in dem es kaum Reglementänderungen gibt, dann kann man versuchen hochzurechnen, wo man glaubt, im Vergleich zur Konkurrenz beim letzten Rennen der vergangenen Saison sein zu müssen. Im Winter 2008/2009 gab es in Sachen Reglement einen vernünftigen Neustart, da sind die Vergleichswerte nicht so gut, wie man es gerne hätte. Wir haben einige Schätzungen gemacht, welche Performance wir erreichen müssen und ich glaube wir befinden uns diesbezüglich auf Kurs. Doch die Zeit wird zeigen, ob das reicht."

"Die Einführung von KERS war schmerzhaft, doch ich glaube, dass wir einen Gewinn haben werden." Paddy Lowe

Frage: "Glaubst du, dass es ein Fehler war, 2009 KERS gemeinsam mit diesen großen Reglementänderungen bei der Aerodynamik einzuführen?"
Lowe: "Ich finde es bedauerlich, dass es eingeführt wurde und dann wieder weg war. Es ist gut, so etwas in diesem Sport zu haben und wir mussten irgendwie anfangen, auch wenn es ein schwieriger Start 2009 war. Doch KERS ist eine gute Technologie und gut für den Sport, also sollten wir es annehmen. 2010 war eine gute Vertiefungspause, die Zulieferer konnten sich neu aufstellen und neue Wege finden, um ein effektiveres System zu produzieren. Wir sollten also dieses Jahr ein Feld haben, in dem die Mehrzahl, wenn nicht alle Autos, mit KERS fährt und wo es sich auszahlt, es zu benützen. Es war eine schmerzhafte Einführung, doch ich glaube, dass wir einen Gewinn haben werden."

Frage: "Glaubst du, es war besser, KERS vor oder nach den Aerodynamikänderungen 2009 einzuführen?"
Lowe: "Ich glaube nicht, dass wirklich ein Zusammenhang besteht. KERS wurde von den Motorenherstellern entwickelt und daher gab es keinen Konflikt mit den Arbeitsprozessen in Sachen Aerodynamik. Obwohl das Paket der aerodynamischen Änderungen 2009 groß war und auch die Einschnitte beim Packaging durch KERS groß waren, sind dies meiner Ansicht nach zwei großteils unabhängige Bereiche. Es hätte also keinen großen Unterschied gemacht."