Famin: Darum war der große Knall bei Alpine in Belgien gut

Alpine-Teamchef Bruno Famin spricht über den großen Umbruch bei Alpine und glaubt an den neuen Mindset: Endlich können sich die Mitarbeiter entfalten

(Motorsport-Total.com) - Hinter Alpine liegt ein äußerst turbulentes Formel-1-Jahr 2023. "Die Wahrheit ist, dass wir nicht da sind, wo wir eigentlich sein wollten", gibt Bruno Famin unumwunden zu. Groß waren die Ambitionen beim französischen Rennstall, doch wie sich die vergangene Saison entwickelt hat, war für das Team noch vor 1,5 Jahren nicht abzusehen.

Titel-Bild zur News: Alpine-Teamchef Bruno Famin

Bruno Famin kümmert sich seit Sommer 2023 um die Geschicke bei Alpine Zoom

Rückblick auf Sommer 2022: Zu diesem Zeitpunkt schien für Alpine alles rundzulaufen. Der Rennstall fuhr beständig Punkte ein und schien für das kommende Jahr die Qual der Wahl zu haben. Neben Esteban Ocon musste man sich entweder für den zweimaligen Weltmeister Fernando Alonso entscheiden oder für Formel-2-Meister Oscar Piastri, eine der heißesten Aktien auf dem Nachwuchsmarkt.

Doch dann kam der 28. Juni 2022 und die Ankündigung von Sebastian Vettel, seine Formel-1-Karriere am Ende des Jahres zu beenden. Mit Alpine schien das wenig zu tun zu haben, doch die Ankündigung des Deutschen brachte mehrere Steine ins Rollen und wenige Tage später hatte Alpine Alonso überraschend an Aston Martin verloren.

Nun gut, dann ist die Entscheidung für den zweiten Fahrer ja einfach - dachte man bei Alpine - und verkündete kurzerhand Oscar Piastri als neuen Fahrer für 2023. Doch der Australier dementierte das, weil er sich längst anderweitig orientiert hatte und mit McLaren einig war.

Es folgte ein Streit um die Dienste des Youngsters, bei dem Teamchef Otmar Szafnauer keine gute Figur abgab, obwohl er den Vertrag mit Piastri nicht abgeschlossen hatte - weil er zu dem Zeitpunkt noch gar nicht im Team war.

Die Notlösung hieß Pierre Gasly, der allerdings den Ruf hatte, mit seinem Landsmann Esteban Ocon nicht sonderlich gut auszukommen. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sich beide auf der Strecke ins Gehege kommen würden - und es sollte tatsächlich auch nicht lange dauern.


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Schon beim dritten Rennen in Australien gab es eine teure und möglicherweise folgenschwere Nullnummer, als beide Fahrer im Getümmel des Neustarts kurz vor Ende aneinandergerieten und sich gegenseitig in die Mauer schickten.

Über Gasly schwebte dabei noch das Damoklesschwert einer Rennsperre, die er bei den nächsten beiden Strafpunkten bekommen würde. Und bis heute wundern sich nicht wenige, warum der Franzose für seine Aktion nicht mit den sonst üblichen Strafpunkten belegt wurde.

Ziele klar verfehlt

Bis dahin war Alpine eher mäßig ins Jahr gestartet. Zwar hatte Ocon beim Saisonauftakt in Bahrain eine wahre Strafenorgie abbekommen, ansonsten hatte man bei den ersten beiden Rennen drei Top-10-Platzierungen aufweisen können.

Für die Ambitionen des Rennstalls war das aber nicht genug, denn ein achter Platz war dabei das Höchste der Gefühle - zu wenig für die Ansprüche. Denn die hießen nach dem vierten WM-Platz im Vorjahr: näher an die Top 3 herankommen.

Das hat Alpine ganz eindeutig nicht geschafft. Stattdessen wurde man von McLaren und Aston Martin überholt und auf den sechsten Platz verdrängt. Statt 173 Punkte wie im Vorjahr gab es 2023 nur noch 120 Punkte. Alpine lag im absoluten Niemandsland: 160 Punkte hinter Aston Martin und 92 Punkte vor Williams.

Esteban Ocon

Schon in Melbourne knallte es zwischen Esteban Ocon und Pierre Gasly Zoom

Nach dem missglückten Saisonstart ohne Punkte in Melbourne und Baku knisterte es auch hinter den Kulissen. Alpine-Geschäftsführer Laurent Rossi fuhr im Mai schwere Geschütze auf und kritisierte sein Team in der Öffentlichkeit als "amateurhaft".

Streit zwischen Enstone und Viry beigelegt?

Auch zwischen den beiden Fabriken in Enstone (Chassis) und Viry-Chatillon (Motor) kriselte es gewaltig. Beide Seiten gaben einander die Schuld für das schlechte Abschneiden, und vor Ort saß man nicht am gleichen Mittagstisch und buchte unterschiedliche Hotels.

"Ich weiß nicht warum, ich bin kein Psychologe", sagt der mittlerweile zum Teamchef ernannte Bruno Famin über die Probleme zwischen der englischen und der französischen Seite des Teams. "Aber sicher ist: Um in einem solchen Wettbewerbsumfeld zu performen, musst du das Potenzial von allen nutzen."

Famin weiß, dass Alpine derzeit weder den besten Motor, noch das beste Auto hat, doch er ist überzeugt davon, dass man irgendwann ein gutes Paket haben kann, wenn man die beiden Fabriken in Einklang bringt. "Das passiert natürlich nicht von heute auf morgen, aber wir arbeiten daran, die Planeten auf eine Bahn zu bekommen", sagt er.


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Die Beziehung zwischen Viry und Enstone sieht er dabei nur als "kleinen Teil der Arbeit", die Alpine vor sich hat. "Wir müssen sicherstellen, dass die Leute gut zusammenarbeiten und dass wir das Beste aus jedem herausholen können - egal welcher Nationalität er angehört oder wo er arbeitet", so Famin.

Großer Knall in Belgien

Ein wichtiger Schritt sei für ihn dabei der Umbruch in Spa-Francorchamps gewesen. Dort schien das Alpine-Chaos auf dem Höhepunkt zu sein. Teamchef Otmar Szafnauer musste nach nur 1,5 Jahren Dienstzeit gehen, Alpine-CEO Laurent Rossi wurde entmachtet und versetzt, und auch Technikchef Pat Fry verließ das Team in Richtung Williams.

Vom ausgerufenen 100-Rennen Plan (der schon den ein oder anderen missglückten Fünf-Jahres-Plan ersetzte) ist nichts mehr übrig geblieben. Vorerst verzichtet man bei den Franzosen auf große Ankündigungen.

Otmar Szafnauer

Otmar Szafnauer verlor im Juli seinen Job bei Alpine Zoom

Als Teamchef wurde interimsweise Bruno Famin eingesetzt, der zuvor die Motorenfabrik in Viry geleitet hatte. Doch aus dem vorrübergehenden Engagement scheint ein festes zu werden, denn noch hat Alpine keinen Nachfolger präsentiert, und Famin selbst hat auch keine Ambitionen, aktiv nach einem Nachfolger zu suchen. Bis er etwas anderes von oben hört, bleibt er Chef des Rennteams.

Umbruch setzt Potenzial von Mitarbeitern frei

Für den Franzosen hatten die Ereignisse von Spa-Francorchamps so etwas wie ein reinigendes Gewitter - und etwas Befreiendes: "Durch die Veränderungen haben wir etwas Potenzial in den Leuten freigesetzt", sagt er. "Ich glaube, die Leute sind deutlich freier darin, Dinge vorzuschlagen und sich zu verbessern."

Er verweist auf den neuen Teammanager Rob Cherry und den neuen Chefmechaniker Jason Milligan, die man befördert habe und die sehr gut darin seien, Verbesserungen vorzuschlagen. "Und sie stellen sicher, dass auch ihre Jungs Dinge vorschlagen", betont Famin.

"Ich glaube, dass dieses ganze Potenzial bis Ende Juli ein wenig verschlossen war", sagt er. Doch seitdem habe man das Potenzial freigesetzt. "Wir trauen uns jetzt Dinge, die wir uns vorher nicht getraut haben", unterstreicht er. "Und über dieses Mindset bin ich sehr glücklich."


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Das habe sich auch schon sportlich ausbezahlt, meint Famin. "Natürlich ist das Auto noch nicht das, das wir gerne hätten, aber wir haben in der zweiten Saisonhälfte mehr Punkte pro Rennen geholt als in der ersten, und darüber freue ich mich."

Die Rechnung geht auf: Bis zur Sommerpause nach dem großen Knall in Belgien holte Alpine in zwölf Rennen 55 Punkte (4,6 Punkte pro Rennen), danach waren es 65 in zehn Rennen (6,5 Punkte pro Rennen).

Zweite Brandrede in Enstone

Trotzdem gab es im Herbst noch einmal einen zweiten mündlichen Einlauf für das Team. Nach Rossi im Frühjahr trommelte im September Renault-Konzernchef Luca de Meo die Belegschaft in Enstone zusammen - auch Mitarbeiter, die frei hatten sowie Esteban Ocon und Pierre Gasly. Die Belegschaft aus Viry war via Videokonferenz zugeschaltet.

Was de Meo gesagt hat, ist offiziell nicht bekannt, doch Personen, die live dabei waren, beschreiben seine 40-minütige Rede als bestimmt und scharf - und emotional. Er soll klargemacht haben, dass diejenigen, die das Team voranbringen und mitziehen, keine Sorgen um ihre Zukunft haben müssen. Aber die, die in alten Mustern feststecken, hätten keine Zukunft im Team.

Luca de Meo (CEO Renault-Konzern)

Luca de Meo rief alle Mitarbeiter von Alpine noch einmal zusammen Zoom

"Er hat zu allen Mitarbeitern gesprochen, das Projekt und die Ambitionen noch einmal unterstrichen, und auch gesagt, welche Einstellung wir von den Jungs brauchen", erklärt Famin. "Er hat gesagt, dass wir alle Leute auf 100 Prozent ihrer Kapazitäten brauchen, um in einem so harten Kampf mit unseren Gegnern konkurrenzfähig zu sein."

Las Vegas als starke Reaktion auf Monza

Doch das Team hat in den vergangenen Jahren schon eine Menge Veränderungen durchgemacht, und Aussagen wie ein neues Mindset werden dabei regelmäßig proklamiert. Wie soll man sich da sicher sein, dass es dieses Mal wirklich einen Effekt hat?

"Man kann es schon eindeutig sehen", betont Famin und verweist auf viele Bereiche - von der Strategie über die Rennoperation bis zu den Leuten in der Fabrik. Als Beweis sieht er den vierten Platz von Esteban Ocon in Las Vegas an.

Wenige Wochen zuvor war man noch mit einem 15. Platz vom Highspeed-Kurs in Monza abgereist. "Das war ein sehr schlechtes Ergebnis", sagt Famin - und nach dem kam auch die Brandrede von de Meo.

"Aber wir haben uns Zeit genommen, um zu analysieren, warum das passiert ist und wo wir falsch lagen. Und wir haben sofort neue Dinge vorgeschlagen, weil Vegas in gewisser Weise ähnlich war."

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"Hätten wir nichts gemacht, wäre Vegas sehr schwierig gewesen, aber das Team hat sofort reagiert, einige Aeroentwicklungen vorgeschlagen und produziert und dann rechtzeitig ans Auto gebracht. Und es hat funktioniert", betont er. "Das Ergebnis ist eine Konsequenz aus der Einstellung, die sehr gut war. Und das ist ein Beispiel dafür, was sich schon verändert hat."

"Aber das ist natürlich nur ein kleiner Teil des Projekts, nur ein kleiner Teil dessen, was wir tun müssen. Jetzt müssen wir überall im Unternehmen, im Team, diese Einstellung, diese Arbeitsweise entwickeln."

Kein neuer Zeitplan

Nach der anstrengenden Schlussphase mit fünf Rennen innerhalb von sechs Wochenenden hat Famin nun mehr Zeit, um seine Rolle als Teamchef richtig auszuleben und den Fabriken in Enstone und Viry mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Er möchte noch mehr Potenzial aus der Belegschaft herauskitzeln, das bislang versteckt war.

"Wir haben viele Talente, und wir müssen ihnen helfen, neue Ideen in die Entwicklung des Autos einzubringen, aber auch in die Art und Weise, wie wir arbeiten", sagt der Teamchef. "Die Idee ist, das Potenzial des gesamten Teams zu entwickeln, das Potenzial des Autos zu entwickeln und ein besseres Auto und bessere Ergebnisse zu erzielen."

Wie lange das dauert, auf diese Frage möchte sich der Franzose nicht einlassen. Nicht umsonst hat man den 100-Rennen-Plan verworfen und keinen neuen aufgestellt. Auch ein Ergebnisziel ruft er für 2024 nicht aus. Er möchte über den Winter und in der kommenden Saison einfach die neue Einstellung entwickeln und die Kultur in beiden Fabriken verändern.


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"Und dann kommen die Ergebnisse", ist er sich sicher. "Wie lange das dauern wird, weiß ich nicht, aber je früher desto besser natürlich."

Infrastruktur schreitet voran

Doch Famin weiß auch, dass eine neue Kultur alleine nicht reicht, um in der Formel 1 ganz nach vorne zu kommen. Alpine benötigt auch eine bessere Infrastruktur, an der man derzeit aber arbeitet. Beide Fabriken sollen modernisiert werden, und vor allem in Viry sei man diesbezüglich schon weit fortgeschritten.

"Vor zwei Jahren hatten wir ein brandneues Gebäude für den Bau der Power-Unit. Wir sind dabei, die Modernisierung der Prüfstände abzuschließen. Da sind wir also schon recht weit", sagt er.

"Auch in Enstone wurde eine Menge Arbeit geleistet. Wir investieren und haben mit den Arbeiten für einen neuen Simulator begonnen, der derzeit ein echter Schwachpunkt ist. Außerdem werden wir dank der Entscheidung der FIA über den Investitionsausgleich vor ein paar Wochen in der Lage sein, neue Prüfstände für das Auto selbst, für die Aufhängung und für solche Dinge zu entwickeln."


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"Und ich denke, dass wir in den kommenden zwei Jahren die Modernisierung beider Seiten abgeschlossen haben werden, was natürlich ein Pluspunkt sein wird", sagt er. "Aber das wird nichts sein, wenn wir nicht die richtigen Leute mit der richtigen Einstellung haben, um damit zu arbeiten."