Die große Silverstone-Analyse mit Norbert Haug

Mercedes-Sportchef Norbert Haug über das Rennen: Wie Montoya gewonnen hat und warum Räikkönen trotzdem die Nummer eins bleibt

(Motorsport-Total.com) - Sieg und beide Autos auf dem Podium - und dennoch hatte der heutige Grand Prix von Großbritannien für McLaren-Mercedes einen bitteren Beigeschmack: Der Triumphator auf dem Traditionskurs in Silverstone hieß nämlich nicht Kimi Räikkönen, was aus WM-Sicht günstig gewesen wäre, sondern Juan-Pablo Montoya. Dennoch präsentieren sich die "Silberpfeile" weiterhin als das Team der Stunde.

Titel-Bild zur News: Norbert Haug

Norbert Haug glaubt, dass die WM für sein Team noch lange nicht gelaufen ist

Dass Montoya heute plötzlich wie aus dem Nichts auf die Siegerstrasse einbog, kam für Mercedes-Sportchef Norbert Haug nicht unbedingt überraschend. Der Deutsche, der sich schon immer hinter den Neuzugang gestellt hatte, sah die Personalwahl seines Rennstalls heute erstmals bestätigt: "Juan-Pablo war schon immer da", sagte er in TV-Interviews. Aber: "In diesem Geschäft ist es so, dass das erst geglaubt wird, wenn man auf der höchsten Stufe des Podiums steht."#w1#

Montoya hätte schon früher Rennen gewinnen können

"Juan-Pablo hatte es schon in Kanada und in Magny-Cours in der Hand, wirklich sehr gut auszusehen. Dort hatte er bekanntlich seine Probleme mit der Disqualifikation beziehungsweise mit der Hydraulik in Magny-Cours. Hier ist er ein tadelloses Rennen gefahren. Ich habe nicht einen einzigen Fehler gesehen. Er hat sich so eingestellt, wie sich das gehört", lobte Haug.

Vor allem das Timing sei beeindruckend gewesen: "Juan-Pablo ist schneller gefahren, wenn er pushen musste. Die Boxenstopps waren auch genau getimt. Wir wussten vor dem Stopp, dass wir sieben Sekunden Vorsprung brauchen würden, wenn wir vorne bleiben wollen - und er hat einen Vorsprung von 7,2 Sekunden herausgefahren, fast wie das sprichwörtliche Uhrwerk. Er hat alles kontrolliert. Den Fernando Alonso zu schlagen, war sicher nicht leicht, denn die Pace war vergleichbar", erklärte er weiter.

"Vor den Boxenstopps hat er den Auftrag bekommen, voll zu pushen", sagte Haug über Montoya. "Das hört sich vielleicht so an, als würden die Fahrer nicht immer pushen. Natürlich tun sie das. Aber zwischen 99,6 und 99,9 Prozent ist einfach das Limit, wo es sich entscheidet. Es gibt dann Runden, in denen man auch mal mit erhöhter Drehzahl fährt. Das macht jeder, um sich so abzusetzen, damit man weiß, dass man auch in Führung bleiben kann, obwohl der Konkurrent drei Runden länger draußen bleibt."

Zweiter Boxenstopp problemloser als der erste

Der spätere Sieger fuhr dann ein fehlerfreies Rennen, stand immer unter Druck, geriet aber nie ernsthaft in Gefahr - auch beim zweiten Boxenstopp nicht: "Das Timing war gut", so der Mercedes-Sportchef. "Es waren sogar ein paar Meter mehr dazwischen als beim ersten. Insofern ging es dann nur noch darum, das nach Hause zu fahren. Natürlich hat Alonso weiter Druck gemacht, aber Juan-Pablo konnte darauf antworten - und ist seinen Rhythmus so gefahren, wie er das musste, um als Sieger ins Ziel zu kommen."

Die Grundlage für seinen ersten Sieg im "Silberpfeil" legte Montoya aber schon am Start, als er erst hervorragend von der Linie wegkam, gleich auf den ersten Metern Buttons BAR-Honda problemlos schnupfte und dann bei der Ausfahrt aus Copse plötzlich neben dem Renault von Alonso auftauchte. "JPM", wie er im Paddock mancherorts genannt wird, packte dabei seinen Killerinstinkt aus, ließ den Gasfuß länger stehen - und ging so spektakulär in Führung.

"Starten traditionell schon die letzten zwei Jahre sehr gut"

Haug zeigte sich davon nicht wirklich überrascht: "Wir starten traditionell schon die letzten zwei Jahre sehr, sehr gut. Ich denke auch, dass wir gute Leistung haben mit diesem Motor, ein gutes Anfahrverhalten, gutes Drehmoment. Das gehört alles dazu. Juan-Pablo hat Alonso mit einem guten Start ausbeschleunigt. Er ist aber auch einer - das muss man ganz klar sagen -, der ein absoluter Oberfighter ist, wenn er einmal neben einem anderen Auto liegt. Das hat er vielleicht in der ChampCar-Serie gelernt", sagte er.

"Juan-Pablo war immer ein Starter, der Plätze gutgemacht hat, aber das konnte man bisher vielleicht nicht so gut sehen, als er noch weiter hinten stand. Wenn man vom siebenten auf den fünften Platz kommt, ist das nicht so spektakulär wie vom dritten auf den ersten Platz. Er hat den Renault in der Überholphase stehen lassen. Die ganze Startstrategie spielt da eine Riesenrolle. Das Manöver war wie im Bilderbuch", fuhr der 52-Jährige fort.

Räikkönen bleibt die unbestrittene Nummer eins

Doch so positiv sich Haug auch über seinen kolumbianischen Schützling äußerte, so ließ er doch klar durchblicken, dass "Iceman" Kimi Räikkönen ungeachtet des heutigen Resultats weiterhin die Nummer eins bei McLaren-Mercedes bleibt. Der Finne war in Silverstone durch einen Motorschaden im Freien Training gehandicapt und musste daher von Platz zwölf aus ins Rennen gehen. Dennoch schaffte er zum zweiten Mal hintereinander unter so ungünstigen Vorzeichen den Sprung auf das Podium.

"Möglicherweise hätte Kimi da noch ein bisschen besser mitmischen können", wagte Haug einen Vergleich zwischen seinen beiden Piloten. "Er war wahrscheinlich wieder der, der alles hätte schlagen können, ich habe aber gesehen, dass Juan-Pablo in den letzten drei Rennen absolut den gleichen Rennspeed hatte, sodass da wirklich von einem Niveau gesprochen werden kann. Ich glaube, das macht uns auch für die Zukunft stark. Juan-Pablo versteht das Auto mehr und mehr - und er hat heute auch Selbstvertrauen getankt."

"Es war einfach ein Jammer, dass sich Kimi relativ früh schon 30 Sekunden Rückstand eingehandelt hatte, aber so ist das eben. Er hat aber sicherlich das Beste daraus gemacht", so Haug, dem aber auch bewusst ist, dass es ebenso gut nur Platz vier hätte werden können, "denn der Boxenstopp von Fisichella hat Kimi natürlich geholfen. Es war öfter schon bei Fisichella so, nur nie bei Alonso. Das zeigt, dass auch ein sehr perfektes Team mal einen Hänger haben kann. Wir haben das auch schon gehabt."

"Kimi hätte ganz bestimmt schneller fahren können"

In der Anfangsphase wurde Räikkönen von Michael Schumacher aufgehalten: "Kimi hätte ganz bestimmt schneller fahren können, wie man gesehen hat, als Michael zum Boxenstopp hereinkam. Man muss das aber positiv sehen: Vor nicht allzu langer Zeit hätte man davon geträumt, einmal zu sagen, dass man hinter einem Ferrari aufgehalten wird. Meistens war der Ferrari schon über alle Berge. Das ist auch ein Zeugnis dafür, dass das Team in die richtige Richtung arbeitet", zwinkerte der Mercedes-Sportchef.

Allerdings weiß er auch, dass Mercedes sich diese Situation im Verkehrsstau zu Beginn aufgrund des Motorschadens ohnehin selbst zuzuschreiben hatte: "Wer sich eine Startreihe weiter vorne qualifiziert, der hat einen Bonus - deswegen gehört das Training ja auch dazu. Jetzt können wir sicherlich spekulieren, was passiert wäre, wenn Kimi als Zweiter mit der Boxenstrategie bis Runde 26 losgefahren wäre. Dann hätte er natürlich die allerbesten Karten gehabt", überlegte er.

Das Überholmanöver gegen Alonso eine Runde vor dem Boxenstopp verteidigte Haug: "Einen Gegner zu kassieren, ist immer richtig", spielte er auf die Aktion in Stowe an - in derselben Runde des ersten Räikkönen-Stopps. "Dazu sind wir da. Wenn Kimi die Wahl dazu hat, macht er das sicherlich. Er hat überhaupt keinen Grund, auch nur eine halbe Sekunde zu verlieren. Der Profi Alonso hat da mitgespielt, weil er gewusst hat: 'Ich bin schwer und Kimi kommt bald an die Box.' Wenn es um den ersten Platz gegangen wäre, hätte dieses Überholmanöver aber sicher anders ausgesehen."

Kann Räikkönen so viele Rückschläge wegstecken?

Räikkönen wirkte nach dem Grand Prix trotz allem ein wenig frustriert, zumal er schon zum zweiten Mal hintereinander der schnellste Mann auf der Strecke war, aber wieder nicht gewinnen konnte. Seinem Ärger machte der Finne im letzten Umlauf Luft, als er noch die schnellste Rennrunde drehte - wohl auch, um seine Vormachtstellung unter Beweis zu stellen. Dennoch - oder vielleicht gerade deswegen - war nicht zu übersehen, dass er langsam mit dem Schicksal zu hadern beginnt.

Haug wollte diese Theorie nicht bestätigen: "Kimi steckt das gut weg, aber ihn haben solche Dinge schon öfter getroffen. 2003 hatte er einen Motorschaden am Nürburgring, ohne den er Weltmeister geworden wäre. Damals haben ihm in der Endabrechnung nur zwei Punkte gefehlt, aber am Nürburgring war er auf Siegesfahrt. Er denkt ab und zu darüber nach, aber nicht dann, wenn er im Auto sitzt", winkte er ab.

Haug schwärmt in den höchsten Tönen vom "Iceman"

Für ihn ist Räikkönen ohnehin der unbestrittene Superstar der Formel 1: "Wenn man gestern seine Qualifying-Runde anguckt: Er hat nie neue Reifen verwendet vorher, hat einen neuen Motor hineinbekommen, das Auto wurde neu vermessen. Er fuhr eine Einlaufrunde und man hat dann gesehen, was die Runde wert war, denn er lag nur 27 Tausendstelsekunden hinter der Pole Position, hatte aber vier Runden mehr Benzin an Bord. Alleine das ist fast eine halbe Sekunde wert. Das zu machen, ohne vorher geübt zu haben, spricht von großer Klasse", staunte Haug.

Dafür ärgerte er sich heute umso mehr über die Nachzügler: "Die blauen Flaggen müssen beachtet werden", übte er Kritik an Minardi-Cosworth und Co. "Es wäre ganz schlimm, wenn so etwas eine WM entscheidet am Ende. Ich kann verstehen, dass jemand erst eine Kurve später oder auf der Geraden Platz macht, wenn jemand um den achten Platz kämpft, aber ich kann nicht verstehen, wenn man die blauen Flaggen einfach nicht beachtet werden oder wenn sie gar nicht draußen sind. So etwas sollte einfach nicht rennentscheidend sein. Platz machen geht, wenn man es will."

Silberne WM-Chancen laut Haug weiterhin intakt

Was die WM-Chancen angeht, war für die "Silberpfeile" heute kein allzu guter Tag, denn Räikkönen hat nun bei nur noch acht zu fahrenden Rennen bereits stattliche 26 Punkte Rückstand. Das bedeutet, dass Alonso theoretisch mit zweiten und dritten Plätzen Champion werden kann - selbst dann, wenn Räikkönen von nun an alle Grands Prix gewinnt.

"Die ganz einfache Analyse sieht so aus", rechnete Haug vor: "In den ersten vier Rennen hat Kimi sieben Punkte gemacht, seither hat er aber die restlichen eingefahren - mehr als jeder andere, auch mehr als Alonso. Die ersten vier Rennen waren wir noch nicht ganz so weit. Ich will nicht von Pech reden, aber sieben Punkte aus vier Rennen sind ein schlechter Schnitt." Aber: "Solange es 80 Punkte zu vergeben gibt, werden wir nicht die Flinte ins Korn werfen."

"Wir sind nicht als Überfavorit angetreten, aber wir haben gezeigt, dass wir in die richtige Richtung arbeiten können. Dass wir noch hie und da einen kleinen Fehler machen, müssen wir abstellen, aber die beiden Teams - Renault und McLaren-Mercedes - geben gerade den Takt an, und ich bin überrascht, dass die Abstände nach hinten jetzt doch sukzessive größer werden. BAR-Honda mit Jenson Button war heute noch ganz gut dabei, aber danach war doch schon ein kleiner Abriss, genau wie in Magny-Cours. Wir müssen die Zuverlässigkeit besser hinbekommen, dann ist die WM noch lange nicht rum", meinte er abschließend.