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  • 10.03.2010 21:57

  • von Christian Nimmervoll & Dieter Rencken

Das visionäre CFD-Projekt von Nick Wirth

Hintergrund: Wie Nick Wirth mit CFD Erfolg haben will, warum die Konkurrenz skeptisch ist und wo die Vorteile der neuen Technologie liegen könnten

(Motorsport-Total.com) - Als Nick Wirth ankündigte, ein Formel-1-Auto gänzlich ohne Windkanal entwickeln zu wollen, wurde er in der Branche belächelt. "CFD ist eine spannende Technologie, aber kann sie den Windkanal ersetzen? Ich glaube nicht", meint zum Beispiel Lotus-Chefkonstrukteur Mike Gascoyne, der Wirth dennoch für "einen der besten Aerodynamiker der Formel 1" hält.

Titel-Bild zur News: Nick Wirth

Der Virgin-Cosworth VR-01 ist Nick Wirths Beitrag zur Formel-1-Saison 2010

Auch Adrian Newey, der in seiner Profession über jeden Zweifel erhaben, aber auch dafür bekannt ist, als letzter Formel-1-Ingenieur immer noch am liebsten mit dem Zeichenbrett statt mit dem Computer zu arbeiten, hält nicht viel von Wirths Vision: "CFD ist ein starkes Werkzeug, daran gibt es keinen Zweifel. Es ist eine weitere Methode, eine reale Umgebung zu simulieren. Aber ein Windkanal simuliert die reale Welt", erklärt der Red-Bull-Designer.#w1#

Die unerforschten Welten der Aerodynamik

"Bei CFD", führt Newey aus, "gibt es Fallen und Einschränkungen. Ich muss für jede Veränderung der Variablen einen neuen Versuch starten, zum Beispiel wenn sich die Bodenfreiheit ändert. Im Windkanal kannst du gleich 20 verschiedene Konstellationen hintereinander durchlaufen lassen. In anderen Worten: Ein Versuch im Windkanal ist das Gleiche wie 20 Durchläufe in CFD. Ein CFD-Cluster müsste also ungleich größer sein, um ähnlich viele Durchläufe absolvieren zu können."

Um einen Irrweg in Fachbegriffen zu verhindern, sollte der Begriff CFD dem Leser vielleicht vorweg erklärt werden. Das Internetlexikon Wikipedia tut das folgendermaßen: "Die numerische Strömungsmechanik (Computational Fluid Dynamics) ist eine etablierte Methode der Strömungsmechanik. Sie hat das Ziel, strömungsmechanische Probleme approximativ mit numerischen Methoden zu lösen."

"Die benutzten Modellgleichungen sind meist Navier-Stokes-Gleichungen, Euler-Gleichungen oder Potentialgleichungen. Die Motivation hierzu ist, dass wichtige Probleme wie die Berechnung des Widerstandsbeiwerts sehr schnell zu nichtlinearen Problemen führen, die nur in Spezialfällen exakt lösbar sind. Die numerische Strömungsmechanik bietet dann eine kostengünstige Alternative zu Windkanalversuchen."

¿pbvin|512|2507||0|1pb¿Das große Problem von CFD ist, dass die Aerodynamik zu den am schwierigsten berechenbaren Wissenschaften gehört. Die Ingenieure der Formel-1-Teams strömen ihre Modelle zum Beispiel mit Rauchfäden an, um etwaige Verwirbelungen sehen zu können. Warum sich diese Rauchfäden unter bestimmten Bedingungen auf eine bestimmte Weise verwirbeln, ist oftmals unklar. Genau dieses Verhalten mit dem Computer zu simulieren, ist das Ziel von CFD.

Vereinfacht ausgedrückt wird dafür der zu erforschende Raum in Millionen von Zellen unterteilt. Der Computer muss die Bewegungen jeder einzelnen Zelle berechnen, um dem Strömungsverhalten der Luft um ein bestimmtes Bauteil herum auf die Spur zu kommen. Das erfordert hohe Rechenkapazitäten. Und: "Es gibt auch Bereiche, die CFD einfach gar nicht so genau darstellen kann wie ein Windkanal, zum Beispiel gewisse aerodynamische Eigenschaften", weiß Newey.

Allerdings hat auch der konservative Weg Nachteile. So beträgt die Zeitspanne zwischen der ersten Idee eines Designers über das Modelldesign, den Modellbau bis hin zum Windkanaltest oftmals mehrere Wochen. Spuckt der Windkanal dann negative Ergebnisse aus, beginnt der Prozess wieder von vorne. Selbst dann ist noch lange nicht gesagt, dass sich die theoretischen Ergebnisse des Windkanals auch in die Praxis übertragen lassen. Auf so einem Irrweg verlor BMW 2008 die mögliche Weltmeisterschaft, weil die Ideen des Designteams in Hinwil wochenlang nicht anschlugen.

Schneller als mit Windkanalmodellen

Die Idee von CFD ist, diesen Prozess massiv zu beschleunigen. Wirth hat in Bicester einen virtuellen Simulator aufgebaut, der angeblich sogar begehbar ist. Die Designer können am Lasermodell Änderungen des Designs vornehmen und bekommen die entsprechenden Daten sofort auf den Computerbildschirm geliefert. Die große Frage ist jedoch, ob diese Daten dann auch der praktischen Verifizierung auf der Teststrecke standhalten.

Auch wenn sein VR-01 im Moment noch bei weitem nicht konkurrenzfähig ist und pro Runde mehrere Sekunden auf die Spitze einbüßt, ist Wirth von der Richtigkeit seines Weges überzeugt: "Ich musste die Leute vor dem Bau des Autos von meiner Idee überzeugen. Für unsere Partner war die schlimmste Zeit aber vor dem Rollout, denn beim Rollout konnten wir dann sehen, dass die Daten auf der Strecke mit den CFD-Daten recht gut übereinstimmen."

Im Interview mit 'Motorsport-Total.com' beteuert der 43-Jährige, dass man den Erfolg des CFD-Projekts nicht mit dem Erfolg von Virgin in der Formel 1 gleichsetzen darf: "Genau das ist die Gefahr, daher liegt mir viel daran, einige Dinge richtigzustellen", so Wirth. "Also: CFD ist ein Werkzeug, um aerodynamische Antworten zu bekommen - genau wie zum Beispiel auch ein Windkanal. Aber letztendlich hängt es von den Menschen und ihren Ideen ab, von den Formen, die sie designen."

"Das Werkzeug sagt nur, ob eine Idee besser oder schlechter ist als eine andere. Auf dieser experimentellen Basis tastet man sich im Zuge von tausenden Abfragen immer näher heran. Letztendlich liefert CFD Antworten, die man nur auf der Strecke verifizieren kann. In unserem Fall trifft das zu. Jetzt werden alle CFD bewerten, dabei sollte man uns als Designer bewerten! Diesbezüglich haben wir uns nie zu weit aus dem Fenster gelehnt, weil wir wissen, wo wir in diesem Frühstadium im Vergleich zu den anderen Teams stehen", sagt er.

Virgin-Cosworth VR-01

Der Virgin-Cosworth VR-01 ist Nick Wirths Beitrag zur Formel-1-Saison 2010 Zoom

Obwohl er sich gerne in der Rolle des Visionärs sieht, weiß Wirth, dass es den Erfolg über Nacht in der Formel 1 nicht gibt: "Wir haben riesigen Respekt vor den Fähigkeiten unserer Konkurrenten, die ja sehr große Aerodynamikabteilungen betreiben. Von uns zu erwarten, dass wir mit beschränkten Ressourcen alle anderen im ersten Jahr blamieren können, wäre völlig vermessen. Ich bin sehr stolz auf das, was unsere Jungs geleistet haben. Wir wollen uns den Respekt im Fahrerlager und bei den Fans verdienen. Das ist der erste Schritt."

Der Virgin-Technikchef hat mit dem Acura-Sportwagen schon bewiesen, dass CFD kein Irrweg sein muss. In der Formel 1, die als aerodynamische Königsklasse im Motorsport gilt, muss er diesen Beweis jedoch noch antreten. Ein Beweggrund dafür, diesen Weg eingeschlagen zu haben, war die Kostenfrage. Als die FIA nämlich mit einer Budgetobergrenze von 45 Millionen Euro plante, schien CFD aus Sicht der kleinen Teams die perfekte Antwort zu sein, um den Großen Paroli bieten zu können.

Kosten niedriger als bei der Konkurrenz

"Ich möchte nicht darüber sprechen, wie groß die Zeitersparnis ist, aber es ist klar, dass wir etwas ganz anderes machen als alle anderen", erklärt Wirth geheimnisvoll. "Was die Kosten angeht, ist der ganze Prozess immens teuer - jede aerodynamische Methode ist teuer." Aber in Bicester arbeiten nur 16 CFD-Ingenieure am Virgin-Projekt, während die anderen Teams Aerodynamikabteilungen mit über 100 Mitarbeitern beschäftigen. So einen Apparat könnte sich Virgin schlicht und einfach nicht leisten.

Wirth rechnet vor, warum CFD der billigere Weg ist: "Nur um ein Windkanalmodell zu entwickeln, brauchst du ungefähr eineinhalb Millionen Euro. Als wir im Endstadium der Entwicklung unseres Sportwagens waren, kosteten alleine die Windkanalmodelle 15.000 bis 50.000 Euro - pro Tag! Da waren die immensen Betriebskosten für den Windkanal, für das Personal und so weiter noch gar nicht eingerechnet. Viele dieser Kosten fallen mit CFD komplett weg."

Hinzu kommt, dass es sich bei CFD-Ingenieuren oftmals um enthusiastische und hungrige Freaks handelt, denn: "CFD ist noch ein sehr junger Bereich und damit ideal geeignet, um die Leute direkt von der Uni zu holen", gibt Wirth zu Protokoll. "Normalerweise ist es sehr schwierig, in den Motorsport zu kommen, aber auf diese Weise können wir vielleicht jungen Ingenieurstalenten eine Chance geben, ihr Handwerk in der Formel 1 zu erlernen und den CFD-Bereich nach vorne zu pushen."

Ab 2011 greift in der Formel 1 das Ressource-Restriction-Agreement (RRA), eine Vereinbarung zur Senkung der Kosten auf das Niveau der frühen 1990er-Jahre. Sobald das RRA voll in Kraft tritt, wähnt sich Virgin im Vergleich zur Konkurrenz im Vorteil, denn: "Diesbezüglich ist unser Ansatz absolut hilfreich, weil die Kosten mit CFD niedriger sind. Alles, was die Betriebskosten verkleinert und die Effizienz erhöht, ist unter dem RRA hilfreich."

CFD-Simulation

CFD ist eine hochkomplizierte und noch recht wenig erforschte Wissenschaft Zoom

Doch wer glaubt, dass Virgins CFD-Ansatz aus 16 einfachen Computerfreaks besteht, die ein bisschen mit ihren Notebooks herumspielen, der liegt gewaltig daneben. Vielmehr handelt es sich um ein hochprofessionelles Team, das ein immens teures Computersystem bedient. Mit Details dazu geht Wirth in unserem Interview sparsam um. Auf die Frage, wie viele Computerstunden in den VR-01 geflossen sind, entgegnet er zunächst nur: "Viele!"

Erst nach mehrmaligem Nachbohren verrät der Brite einige interessante Hintergründe: "Wir haben das Glück, über einen sehr leistungsstarken Computercluster zu verfügen. CFD ist heute so ausgelegt, dass es eines fortschrittlichen Computerclusters bedarf, um das Potenzial ausschöpfen zu können." Supercomputer, wie sie etwa von Sauber oder Renault eingesetzt werden, seien für die meisten CFD-Anwendungen ungeeignet, erläutert er.

Tausende Hochleistungs-Prozessoren

Stattdessen setzt Wirth auf eine andere Rechnerstruktur: "Wir haben Computercluster mit mehreren tausend Prozessoren, die optisch miteinander verbunden sind, weil das die schnellste Methode ist. Von diesen Clustern haben wir ungefähr 20. Man kann sich das ein bisschen wie einen Quad-Prozessor vorstellen, nur dass bei uns eben nicht vier, sondern viel mehr Prozessoren optisch miteinander verbunden sind."

"Diese Prozessoren", erklärt er, "sind wiederum mit einem sehr schnellen Speichersystem verbunden. Die Datenmenge, die wir auf diese Weise generieren, ist schlicht beeindruckend. Wir generieren pro Tag mehr als 750 Gigabyte an Daten. Wir investieren gerade in ein Speichersystem im Petabyte-Bereich. Ein Petabyte sind eine Million Gigabyte. Das treibt unsere Partner an ihre Grenzen, aber es ist auch aufregend für sie, an solchen Projekten mitzuwirken."

Man muss sich vorstellen: Die Computer müssen die Bewegungen von Millionen von Zellen speichern, die mit freiem Auge nicht einmal ersichtlich wären. Je kleiner (und damit vielzähliger) diese Zellen sind, desto zuverlässiger die Ergebnisse, die die CFD-Computer ausspucken. Daher sind enorme Rechen- und Speicherkapazitäten notwendig, die wiederum einen hohen Energieaufwand bedeuten. Aber auch diesbezüglich ist CFD deutlich billiger und umweltschonender als ein Windkanal.

Virgin habe "sicher deutlich niedrigere Stromkosten, als wenn wir einen Windkanal verwenden würden", sagt Wirth und verrät, dass die Prozessoren wassergekühlt werden, weil das die effizienteste und billigste Methode sei. Außerdem ist geplant, das Kühlwasser, das durch die Prozessoren erhitzt wird, eines Tages für die Heizung der Gebäude zu nutzen. Auf diese Weise werden zusätzlich Kosten gespart und die Umwelt geschont. Doch dieses Projekt befindet sich erst in Planung.

Saubers Supercomputer

Die alten Supercomputer, hier "Albert" in Hinwil, kommen aus der Mode Zoom

Der von Wirth und seinen Designer konstruierte VR-01 war bei den Wintertests im Februar das langsamste Formel-1-Auto - mit Abstand. Doch immerhin steht das Team einmal in den Startlöchern. Klar ist: Sollte der CFD-Weg jemals optimal funktionieren, dann könnte im Motorsport eine ganz neue Ära anbrechen, weil die Zeitspanne von der Idee bis zum fertigen Teil enorm verkürzt werden würde - und die Entwicklungsgeschwindigkeit ist seit einigen Jahren das absolute KO-Kriterium im Grand-Prix-Sport.

Die Konkurrenz ist skeptisch, weiß aber auch um die potenziellen Möglichkeiten der CFD-Technologie. Insofern will nicht einmal der große Newey seinen Kollegen Wirth definitiv als Spinner aburteilen: "Es ist ein neuer Weg", sagt der Stardesigner der vergangenen Jahrzehnte. "Ich persönlich bin davon überzeugt, dass man derzeit noch beide Wege kombinieren muss. Vielleicht läuft deren Auto aber richtig gut. Dann muss ich meine Meinung revidieren..."