• 21.06.2004 00:44

Das große Siegerinterview mit Michael Schumacher

Der Indianapolis-Sieger analysiert sein ereignisreiches Rennen in den USA, spricht über die Sorge um seinen Bruder

(Motorsport-Total.com) - Frage: "Ein dramatisches Rennen, eine dramatische erste Kurve, ein dramatischer Unfall deines Bruders. Wie fühlst du dich gerade, Michael?"
Michael Schumacher: "Am meisten Sorgen hat mir gemacht, dass Ralf so lange im Auto sitzen geblieben ist. Das Safety-Car war draußen und ich habe einen BMW stehen gesehen. Über den Funk haben sie mir gesagt, dass es nicht schlecht aussieht, aber in der Vergangenheit war das schon oft so und dann stellt sich manchmal heraus, dass doch etwas Schlimmes passiert ist. Sofern meine Informationen stimmen, geht es ihm aber den Umständen entsprechend gut und nur darauf kommt es an."

Titel-Bild zur News: Michael Schumacher

Nach 2000 und 2003 gewann Schumacher zum dritten Mal in den USA

Frage: "Kannst du darüber sprechen, wie du beim ersten Restart die Führung übernommen hast und wie es dir gelungen ist, nach deinem ersten Boxenstopp in Führung zu bleiben?"
Schumacher: "Naja, das Safety-Car hat die Lichter erst im letzten Sektor ausgemacht und da hat man nicht viel Zeit, sich auf den Restart vorzubereiten. Auf der langen Geraden konnte ich mich in Rubens' Windschatten hängen und dann überholen. Ich weiß nicht, was genau während der Safety-Car-Phase passiert ist. Ich habe abgebremst, um an die Situation angepasst zu fahren, aber mir war nicht bewusst, was hinter mir los war."#w1#

Probleme mit den Reifen in entscheidender Phase

Frage: "Wie ist es in Sachen Performance, Reifenverschleiß und Strategie für dich gelaufen?"
Schumacher: "Ich kann mir diesbezüglich im Vergleich zur Konkurrenz noch kein Bild machen. Ich habe mich auf Rubens konzentriert und vor meinem letzten Stopp überlegten wir, ob wir noch ein- oder zweimal reinkommen sollten. Wir haben uns entschieden, dass es der letzte Stopp sein sollte, was keine einfache Entscheidung war, denn ich hatte einen schlechten zweiten Stint. Meine Reifen waren völlig am Ende und ich konnte nicht sehr hart angreifen. Dann hatte ich viel Benzin an Bord und ich wusste nicht, wie die Reifen halten würden, gleichzeitig gab aber vorne Rubens alles. Diese Situation zu meistern, war nicht einfach. Es ist dann doch zu meinen Gunsten ausgegangen, aber es war ein sehr knapper Fight."

Frage: "Wie wichtig war dein Boxenstopp während der zweiten Safety-Car-Phase und habt ihr wegen diesem Stopp die Strategie verändert?"
Schumacher: "Das ist eine gute Frage. Ich muss das Rennen erst studieren, aber wir waren jedenfalls in unterschiedlichen Positionen. Am Ende waren wir dann auf derselben Strategie. Rubens fuhr einen langen ersten und einen kurzen letzten Stint, ich hatte einen langen letzten und einen kurzen ersten. Am Ende gleicht sich das wohl aus, aber ich weiß es nicht sicher."

Frage: "War eine Zwei-Stopp-Strategie vorgesehen?"
Schumacher: "Wir waren da flexibel eingestellt."

Frage: "Folglich war der Zeitpunkt deines ersten Stopps entscheidend, nicht wahr?"
Schumacher: "Ich wusste anfangs, warum das Safety-Car auf der Strecke ging. Jetzt weiß ich, was los war, und im Nachhinein war es wohl entscheidend, ja, denn die Autos, die draußen geblieben sind, waren wegen des Unfalls fast langsamer als ich in der Boxengasse. Takuma hat sogar gemeint, dass er fast stehen bleiben musste."

Frage: "Haben dich die BAR-Hondas nach dem Safety-Car sehr stark unter Druck gesetzt?"
Schumacher: "Ja, denn sie waren in der Phase ziemlich leicht. Wir waren ziemlich schwer. Da ist es nur natürlich, dass sie Druck machen konnten."

"War im ersten Augenblick total schockiert"

Frage: "War es erleichternd für dich, vom Zustand Ralfs zu erfahren?"
Schumacher: "Ja, das hat geholfen, denn im ersten Augenblick war ich total schockiert, als ich ihn gesehen habe. Ich wusste, dass Montoya hinter mir war, hatte aber keine Ahnung von Ralfs Unfall, auch nicht, nachdem ich eine ganze Runde gefahren war. Dann kam ich zum Unfall und sah einen BMW stehen. Mir war sofort klar, dass das ein heftiger Unfall gewesen sein musste. Ich habe auch den Einschlagwinkel in die Barriere gesehen und war deshalb sehr besorgt. Es hilft nichts, dort Reifenstapel aufzustellen. Ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass man jetzt diskutieren muss, ob etwas anders gemacht werden soll. Es ist besser, die Mauer zu lassen, damit wir wie die IndyCars an ihr entlang rutschen können. Reifenstapel hätten vielleicht einen verkehrten Effekt. Ich habe gerade die Information erhalten, dass Ralf okay ist. Da bin ich natürlich erleichtert."

Frage: "Wie war das, als Rubens nach dem zweiten Stopp angegriffen hat?"
Schumacher: "Das habe ich erwartet. Ich hatte Probleme mit meinen Reifen und Rubens war mit einem frischen Satz unterwegs, daher habe ich damit gerechnet, dass er es probieren würde. Es ist einmal sehr, sehr knapp gewesen, aber es ist sich ausgegangen."

Frage: "Wann hattest du Probleme mit den Reifen?"
Schumacher: "Immer nach ein paar Runden mit frischen Reifen bauen sie ab und man kann nicht wirklich attackieren. Heute hatten wir zusätzlichen Blasen auf den Reifen. Da muss man den Reifen ein wenig Zeit lassen, damit sie die obere Schicht verschleißen, und dann funktioniert es wieder. Als Rubens in Führung lag und so schnelle Zeiten hinlegte und nach seinem Boxenstopp war es bei mir am schlimmsten. Gleich auf der ersten Runde mit neuen Reifen hat er angegriffen, aber als ich die überstanden hatte, bauten auch seine Reifen ab."

Frage: "Bedeutet dir dein dritter Sieg hier mehr als auf anderen Rennstrecken?"
Schumacher: "Ich bin auf jeden Sieg stolz, um ehrlich zu sein. In Indy zu gewinnen, ist etwas Besonderes, weil Indy so viel Reputation und Tradition hat. Wir fahren jedoch nicht auf der gesamten Indy-Strecke, aber vor dem amerikanischen Publikum zu fahren, das uns so begeistert zujubelt, macht Spaß. Nur eine Sache macht mir Sorgen, denn bisher konnte ich mich in Amerika immer unerkannt bewegen. Ich hoffe, das bleibt so."

Montoyas späte Disqualifikation "nichts Gefährliches"

Frage: "Juan-Pablo Montoya wurde heute erst 90 Minuten nach seinem Regelverstoß über die Disqualifikation informiert, er fuhr 90 Minuten umsonst. Was sagst du als Direktor der Fahrergewerkschaft dazu?"
Schumacher: "Darüber werden wir uns nicht den Kopf zerbrechen, denn das ist ja nichts Gefährliches. Es ist Sache der FIA, die wohl erst die Situation analysieren hat müssen und dann Juan-Pablo informierte. Normalerweise darf man ins T-Car wechseln, aber man muss ein bestimmtes Zeitlimit einhalten. Solange man sich daran hält, ist es an und für sich kein Problem."

Frage: "Warum passierten heute so viele Zwischenfälle, dass das Safety-Car gleich zweimal rauskommen musste?"
Schumacher: "Das ist für mich schwer zu sagen, denn ich habe die Ursache für die Unfälle ja nicht gesehen. Im Rennsport passieren eben Unfälle und wenn die Strecke blockiert ist, muss das Safety-Car raus, damit die Streckenposten die Strecke säubern können, denn die Wrackteile stellen ein Gefahrenpotenzial dar. Man stelle sich vor, es passiert ein Unfall, aber das Safety-Car geht nicht raus. Das wäre tödlich. Ob die Gründe heute akzeptabel waren oder nicht, kann ich nicht sagen, ich habe die Unfälle nicht selbst gesehen."

Frage: "Du hast schon viele emotionelle Momente erlebt in deiner Karriere. War das heute vielleicht ein emotionaler Tiefpunkt, die Ungewissheit wegen Ralf?"
Schumacher: "Das war schon einer der schwierigeren Momente, ja. Es hat einmal in Monza nach einem Unfall eine ähnliche Situation gegeben, aber damals war es klar, was mit ihm passiert war. Ich war in der Garage, die letzten zwei Minuten des Tests liefen und dann hörte ich plötzlich von einem Unfall. Ich bin damals zu ihm ins Medical-Center gegangen und war schockiert, denn er war in keinem besonders guten Zustand. Natürlich war es heute sehr unangenehm, ihn so lange im Auto sitzen zu sehen, und zu wissen, was ihm damals in Monza zugestoßen ist, machte es nicht einfacher."

Frage: "Was ist dir durch den Kopf gegangen, als du immer wieder an seinem Auto vorbeigefahren bist, und welche Informationen hat man dir am Funk gegeben?"
Schumacher: "Ich war in ständigem Kontakt mit dem Team. Ich habe immer gefragt, warum er noch immer im Auto sitzt und was gerade passiert. Ich war sehr besorgt und es fiel mir schwer, die Konzentration aufrecht zu erhalten, aber hinter dem Safety-Car war es auch nicht notwendig. Wenn es aber eine normale Rennsituation gegeben hätte, hätte ich keinen freien Kopf gehabt."

Erleichterung, als Ralf selbst aus dem Auto steigen wollte

Frage: "Wann hast du die Information bekommen, dass Ralf okay ist?"
Schumacher: "Während der Safety-Car-Phase hat mir das Team gesagt, dass ich vorsichtig sein soll, aber sie sagten auch, Ralf würde selbst aus dem Auto steigen können. Sie haben ihm gesagt, das soll er nicht tun, weil sie sehr vorsichtig sein wollten. Das ist auch richtig so, aber die gute Nachricht war, dass er selbst aussteigen wollte. Da machte ich mir dann schon weniger Sorgen."

Frage: "Wirst du ihn jetzt gleich im Krankenhaus besuchen?"
Schumacher: "Das könnt ihr euch vorstellen..."

Frage: "Ist es nach so vielen Siegen noch immer dasselbe Gefühl wie 1992, wenn du da oben auf dem Podium stehst?"
Schumacher: "Die Formel 1 ist das Höchste im Motorsport. Wir sind in dieser Position, in der wir sind, und können stolz darauf sein, das Ferrari-Team zu sein, denn mit Ferrari zu gewinnen ist das Größte. Es ist ein großartiges Team und wir haben hart dafür arbeiten müssen, alle arbeiten hart. Wenn man gewinnt, ist man aufgeregt. Es kommt nicht drauf an, wie lange ich schon da bin. Jeder Sieg ist auf seine Weise anders und es ist jedes Mal ein schönes Gefühl. Heute musste ich hart arbeiten. Rubens hat alles gegeben, hatte ein sehr gutes Wochenende und ich rechnete nicht unbedingt mit dem Sieg. Ich dachte, heute muss ich mich mit acht Punkten zufrieden geben. Dass es doch zehn geworden sind, ist umso schöner."

Frage: "Ertappst du dich manchmal dabei, wie du mit deinen Ferrari-Leuten über die vielen Erfolge nachdenkst? Kommt euch manchmal das Gefühl, dass es wirklich beeindruckend ist, was ihr erreicht habt?"
Schumacher: "Meistens schaue ich nach vorne, denke daran, was man noch erreichen kann. Dafür, an die Vergangenheit zu denken, bleiben mir noch viele Jahre."

Frage: "In der vierten Kurve war es zwischen dir und Rubens einmal sehr knapp, Rubens hat dir das erst im Nachhinein erzählt. Wie ist jetzt deine Reaktion darauf?"
Schumacher: "Das ruft keine spezielle Reaktion hervor. Die erste Kurve ist der beste Platz für ein Überholmanöver. In Kurve vier kann man es auch versuchen, aber da muss man wirklich neben dem Vordermann sein. Wenn nicht, ist es schwierig, denn man muss sehr weit in die Kurve hineinbremsen. Aber er hat es natürlich versucht, es war ein offener Schlagabtausch."

Frage: "Warst du überrascht, beim Restart so nahe an ihm dran zu sein, als du ihn überholen konntest?"
Schumacher: "Nicht unbedingt, denn wir haben die Information, dass das Safety-Car reinkommen würde, erst sehr spät erhalten. Es blieb kaum Zeit, die Reifen aufzuwärmen. Ich hatte so eine Ahnung und habe meinen Reifen angewärmt, vielleicht etwas besser als Rubens, dadurch konnte ich in der letzten Kurve etwas besser beschleunigen als er. Auf der Geraden wusste ich sofort, dass ich es probieren würde. Ich war erst nicht sicher, ob er vielleicht auf die rechte Fahrbahnseite rüberziehen würde, denn dann hätte ich außen überholen müssen, aber bei dem Geschwindigkeitsüberschuss, den ich in seinem Windschatten hatte, hätte ich wohl rechts oder links an ihm vorbeigehen können."