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  • 29.09.2010 13:04

  • von Roman Wittemeier

Brawn: Wenn es nicht Michael wäre...

Ross Brawn spricht offen über das bisher enttäuschende Abschneiden von Michael Schumacher und die Stärken von Nico Rosberg: "2011 starten alle wieder bei null"

(Motorsport-Total.com) - Der Gesichtsausdruck ernst, Sorgenfalten auf der Stirn, teilweise ratloses Kopfschütteln. Die Stimmung im Lager von Mercedes wird anhand des Mienenspiels der Verantwortlichen Ross Brawn und Norbert Haug oft sehr deutlich. Seit einigen Wochen kursieren Gerüchte, dass es bei Mercedes ein erstes Knacken im Gebälk gibt. Dem widersprechen jedoch alle Beteiligten deutlich.

Titel-Bild zur News: Michael Schumacher, Ross Brawn (Teamchef)

Ross Brawn und Michael Schumacher haben gemeinsam viele Erfolge gefeiert

"Dies war ein ziemlich forderndes und schwieriges Jahr für mich", bringt Brawn die Empfindungen in der 'Auto Bild Motorsport' (jetzt abonnieren!) deutlich auf den Punkt. Er finde zwar dennoch manchmal Phasen der Entspannung, aber der Rest sei Stress. "Der Misserfolg hat meine Motivation und Entschlossenheit quasi regeneriert. Es ist wirklich komisch, aber ich bin jetzt wirklich motivierter als ich das beispielsweise im letzten Jahr war, als wir den WM-Titel geholt haben", überrascht der Mercedes-Teamchef.#w1#

Brawn kennt das Formel-1-Geschäft seit vielen Jahren. Dem Briten ist somit klar, dass es in der schnelllebigen Königsklasse rasante Verschiebungen in der Hackordnung geben kann - mal läuft es, mal nicht. "Wenige Zehntel können darüber entscheiden, ob eine Saison erfolgreich war oder als Misserfolg abgehakt werden muss", sagt der 55-Jährige. "Wir haben zur Saisonmitte erkannt, dass wir die Saison herschenken und uns auf die Zukunft konzentrieren müssen."

Diese Entscheidung fiel zum Vorteil von Michael Schumacher aus, denn hauptsächlich der Rekordchampion ist es bislang, der mit den Eigenheiten des MGP W01 nicht sonderlich gut zurecht kommt. "Michaels Fahrstil ist angewiesen auf einen starken Vorderreifen, der seinen harten Brems- und Einlenkmanövern und der hohen Kurvengeschwindigkeit, die er fahren will, standhalten kann. Nico dagegen hat einfach besser verstanden, wie er mit dem Vorderreifen umzugehen hat."

"Der Vorderreifen ist im Moment sehr ungewöhnlich. Das liegt daran, dass die FIA den Gebrauch von KERS unterstützen wollte und Bridgestone gebeten hat, den Reifen an eine entsprechende Gewichtsverteilung anzupassen und so eine bestimmte Reifencharakteristik zu generieren", erklärt Brawn. Sein Team habe dadurch bei der Gewichtsverteilung falsch gelegen und zahle nun den Preis dafür. Die Fahrzeug- und Reifengeneration 2009 hätten Schumacher "definitiv besser gepasst".

Nico Rosberg

Nico Rosberg kommt - zumindest meistens - besser mit den Reifen zurecht Zoom

"Natürlich hat er versucht, seinen Fahrstil zu ändern. Aber ohne Testfahrten ist das sehr schwierig. 2011 starten alle Fahrer bei null. Dann hat Michael auch keinen Nachteil mehr", meint der Teamchef, der mit dem Wechsel zu Pirelli-Reifen große Hoffnungen verbindet. Vorteil Mercedes: Während die Topteams derzeit noch auf Sparflamme für 2011 entwickeln, haben die Silberpfeile schon voll auf das kommende Jahr umgestellt. So lässt sich auch ein möglicher Nachteil in der Personalstärke ausgleichen, meint Brawn.

"Der Unterschied zwischen uns und den drei Top-Teams ist der, dass sie Wege gefunden haben, den Vorderreifen zu nutzen. Wir nicht", gibt der Brite offen zu. Man werde die Abläufe verbessern, das Zusammenspiel zwischen Ex-Brawn-Team und Mercedes weiter optimieren und dann neu angreifen - mit Michael Schumacher. Brawn verweist alle Gerüchte um einen möglichen vorzeitigen Abschied des Kerpeners ins Reich der Fabeln.

"Da ist nichts dahinter. Es wäre dumm in dieser Phase seines Comebacks alles hinzuschmeißen. Und das hat er auch nicht vor, da kann ich Sie beruhigen", sagt Brawn. Schumacher sei im Bereich Reaktionsfähigkeit und Fahrzeugbeherrschung voll auf der Höhe. Aber: Brawn gibt offen zu, dass der Teamkollege von Rosberg wohl schon ausgetauscht worden wäre, wenn es sich nicht um Michael Schumacher handeln würde.

"Es wäre dumm in dieser Phase seines Comebacks alles hinzuschmeißen." Ross Brawn

"Weil wir Michael kennen, wissen wir, dass da noch einiges kommen kann", erklärt der Teamchef. "Denn Michael ist auf vielen Gebieten sehr talentiert: beim Fahren, bei der Zusammenarbeit mit dem Team. Und das Team ist sehr zufrieden mit der Art und Weise, wie Michael sich einbringt. Wenn Michael ein Rookie wäre, würden wir uns schon manchmal fragen, ob er das Potential hat, sich weiterzuentwickeln. Bei Michael wissen wir, dass es so ist."

Im Team bringt man also ausreichend Geduld mit für das Projekt "Jahrhundert-Comeback". Auch Brawn wird sich nicht vorzeitig von dieser großen Aufgabe verabschieden. "Natürlich werde ich eines Tages aufhören, aber das will ich auf dem Höhepunkt meiner Karriere tun, nicht in einer Situation wie jetzt. Im Moment habe ich noch genug Motivation, um morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Aber ich will diesen Job auch nicht mehr machen, wenn ich 65 bin."