• 21.10.2006 06:16

Brawn: "Michael war inspirierend"

Ferrari-Technikchef Ross Brawn über die Saison 2006, Michael Schumachers Stärken und warum er ein Comeback des Deutschen als Fahrer ausschließt

(Motorsport-Total.com) - Frage: "Ross, es ist ein wichtiges Wochenende für Ferrari. Ist die Herangehensweise anders als sonst?"
Ross Brawn: "Nein, genau wie an anderen Wochenenden. Wir wissen, was wir zu tun haben, und es liegt ein Teil der Rechnung nicht in unseren Händen, aber selbst der Teil, der in unseren Händen liegt, setzt voraus, dass wir gut abschneiden, also werden wir alles daran setzen, mit Michael (Schumacher; Anm. d. Red.) das Rennen zu gewinnen. Dann werden wir sehen, was Renault und Alonso machen. An unserer Herangehensweise ändert sich nichts."

Titel-Bild zur News: Ross Brawn

Ross Brawn könnte der Formel 1 2007 ebenfalls den Rücken zukehren...

Frage: "Ihr habt für dieses Rennen einen neuen Motor. Was ändert sich dadurch?"
Brawn: "Jeder Lebenszyklus eines Zweirennenmotors beinhaltet eine bestimmte Anzahl an Runden, die man mit erhöhter Drehzahl fahren kann. Das teilt sich normalerweise auf zwei Rennen auf. Alle Teams fahren niedrige Drehzahlen im Training, mittlere im Rennen und hohe im Qualifying, manchmal auch hohe im Rennen, wenn es notwendig ist. Natürlich ist es ein Vorteil, wenn ein Motor nur ein Wochenende halten muss, denn dadurch hat man mehr Runden mit hoher Drehzahl zur Verfügung. Allerdings ist es so, dass man dieses Potenzial nur dann ausschöpft, wenn es notwendig ist."#w1#

Motorschaden von Suzuka lag an einem Ventil

Frage: "Ist der Motorschaden von Suzuka eigentlich schon geklärt?"
Brawn: "Das war eine einmalige Sache, hoffen wir. Es war ein defekter Ventilkopf, an der Stelle, wo die Verbindung zu den pneumatischen Kolben besteht. Das ist vorher noch nie passiert, daher waren wir - wie eigentlich immer - bei der Produktion der aktuellen Motoren extrem wachsam, um sicherzustellen, dass das Problem nicht noch einmal auftaucht. Es gibt aber keine vollständige Erklärung, wie es überhaupt dazu kommen konnte."

"Wir hatten also von Anfang an ein gutes Auto, aber ab Saisonmitte bekamen wir es auch auf die Reihe." Ross Brawn

Frage: "Seit Saisonmitte habt ihr große Fortschritte gemacht. Welche Entwicklungsschritte waren dafür verantwortlich?"
Brawn: "Ich glaube nicht, dass es eine dramatische Veränderung gegeben hat. Am Saisonbeginn habe ich ja schon gesagt, dass wir ein gutes Auto haben, aber wir konnten das Potenzial nicht ausschöpfen. In Bahrain hatten wir einen langsamen Boxenstopp, so dass wir das Rennen knapp verloren. In Australien waren wir mit der Reifenwahl daneben, aber als die Reifen zu funktionieren begannen, war Michael sehr schnell unterwegs. Wir hatten also von Anfang an ein gutes Auto, aber ab Saisonmitte bekamen wir es auch auf die Reihe. Ich muss den Jungs bei Ferrari zu den Fortschritten gratulieren. Die Fortschritte während der Saison währen die größten, die ich je gesehen habe. Die Misserfolge von 2005 haben da sicher ein wenig den Stolz angestachelt, denn die Bemühungen in diesem Jahr waren außergewöhnlich. Das Auto war aber schon immer gut."

Frage: "Ihr hattet eine schwache Saison 2005 und habt es geschafft, das Blatt in diesem Jahr zu wenden. Vor dem letzten Rennen: Wie ist es euch gelungen, die Probleme in den Griff zu bekommen, und welche Rolle spielte die Umstellung auf V8-Motoren?"
Brawn: "Wir hatten ein schlechtes Jahr, ja, aber wir hatten mit den gleichen Leuten auch gute Jahre, daher dachten wir nicht über radikale Änderungen nach. Wir nahmen nur die Bereiche unter die Lupe, in denen wir das Gefühl hatten, keine ausreichenden Fortschritte gemacht zu haben, und wir setzten uns höhere Ziele und gaben den Leuten mehr Ressourcen, um sie zu erreichen. Es gab Bereiche, in denen die Fortschritte zwischen 2004 und 2005 nicht ausreichend waren, also verlagerten wir Ressourcen innerhalb des Unternehmens in diese Bereiche, um sie zu stärken."

"Die andere Sache ist, dass uns die Einrennenreifen nicht lagen, ebenso wenig wie unserem Reifenhersteller. Die Rückkehr der Reifenwechsel war eine Hilfe für unsere Designphilosophie. Was den V8 angeht, ist das Packaging natürlich ganz anders. Bei den Reifen kann man kaum Vergleiche mit 2005 anstellen, weil die Regeln anders waren, aber im Vergleich zu 2004 fahren wir jetzt weichere Mischungen. Das bedeutete für das Auto keine dramatischen Unterschiede, aber mit dem V8 ist auch der Benzinverbrauch etwas geringer, die Fahrer stehen länger auf dem Gas. Die Unterschiede sind nicht so gravierend, wie man glauben könnte. Es liegt wie gesagt vor allem am Packaging."

Im Nachhinein ist man immer klüger...

Frage: "Ohne die Eigentore von Monaco und Ungarn könnte Michael Schumacher jetzt in einer viel besseren Ausgangsposition sein. Glaubst du, dass in Monaco aus der zweiten oder dritten Reihe der Sieg möglich gewesen wäre, und hättet ihr in Ungarn in den letzten Runden im Nachhinein betrachtet vielleicht eine andere Strategie verfolgen sollen?"
Brawn: "Im Nachhinein redet es sich immer leicht, aber man schaut sich die ganze Saison an und überlegt, wo man sich in Zukunft verbessern kann. Natürlich wünschte ich, ich hätte ihm in Ungarn gesagt, es ruhiger angehen zu lassen, aber das bringt jetzt nichts mehr. Man muss sich die ganze Saison anschauen und nachdenken, wie oft man richtig gehandelt hat, und dem die Fehlentscheidungen gegenüberstellen. Wenn da das Verhältnis einigermaßen passt, kann man zufrieden sein."

"Die zehn Punkte Rückstand haben wir nicht nur wegen Suzuka, sondern auch wegen anderer Dinge, die in diesem Jahr passiert sind." Ross Brawn

"Ich glaube nicht, dass es irgendjemand immer hinbekommt, aber wir sind halt in der glücklichen Position, dass wir an der Spitze sind, daher fällt es bei uns mehr auf. Ich bin mit der Saison aber recht zufrieden. Die zehn Punkte Rückstand haben wir nicht nur wegen Suzuka, sondern auch wegen anderer Dinge, die in diesem Jahr passiert sind. Unser Saisonbeginn war nicht stark genug, deshalb sind wir jetzt in dieser Position, denn über weite Strecken hatten wir auch die Oberhand. Renault liegt jetzt vorne, weil wir anfangs nicht gut genug waren, aber darüber nachzudenken, bringt jetzt nichts mehr, denn so ist der Rennsport einfach nicht. Es gibt immer viele Beispiele, wo man dies und jenes anders hätte machen können, aber man muss das Gesamte über einen bestimmten Zeitraum sehen."

Frage: "Michael Schumacher beendet seine Karriere. Du hast ihn beeinflusst, er dich wahrscheinlich auch. Wie hat er sich über all die Jahre entwickelt?"
Brawn: "Ich schätze, Änderungen spielen sich schrittweise ab, daher ist es manchmal schwierig, sie zu bemerken, aber am meisten beeindruckt mich, dass er nie eine schlechte Phase hatte. Er hatte mal - wie jeder Fahrer - ein schlechtes Rennen, aber es gab nie eine Krise, in der er seine Leistungen über einen längeren Zeitraum nicht brachte. Er fuhr immer auf höchstem Niveau. Manchmal liefen die Rennen gut und manchmal schlecht, aber jeder Sportler, jeder Fußballer und jeder Golfer hat mal einen Durchhänger. Bei Michael kann ich mich an keinen einzigen erinnern! Natürlich hatte er schlechte Tage, aber die Tatsache, dass er immer Weltklasse war, dass er praktisch um jede Weltmeisterschaft gekämpft hat, in der er dabei war, das ist wirklich außergewöhnlich. Das macht Michael Schumacher aus. Ich finde es schade, dass er geht, aber ich freue mich, dass er es mit einer Stärke wie in dieser Saison machen kann."

Frage: "Michael Schumacher und Ferrari waren in den vergangenen Jahren dominant. Welche Strukturen waren notwendig, um das zu schaffen, und welche Rolle spielte Michael Schumacher dabei?"
Brawn: "Man stellt kein Team in der Absicht zusammen, alles zu dominieren. Das wäre vermessen. Man stellt ein Team zusammen, um ein Rennen zu gewinnen, danach noch eins, danach eine Weltmeisterschaft - und von da an entwickelt sich das einfach. In unserem Fall haben wir Leute, die auf ihrem Gebiet außergewöhnlich sind: die Designabteilung, die Chassisabteilung - und wir hatten das Glück, die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt zusammenzubringen. Michael war ein Schlüsselelement, denn er war ein Vorbild in Sachen Einsatzbereitschaft und Teamgeist - ein Teamplayer wie im Bilderbuch. Er kommt nicht in die Fabrik und sagt, dass dies und jenes gemacht werden muss, sondern er kommt in die Fabrik, um sich bei den Leuten zu bedanken. Er kommt in die Fabrik und erklärt genau, wie sich das Auto verhält, er unterstreicht seine Einsatzbereitschaft und erwartet von den Teammitgliedern dasselbe."

Schumacher war eine Inspiration für das Team

"Er war inspirierend, mehr als jeder Verantwortliche im Team, denn wenn er in die Fabrik kommt und mit den Ingenieuren spricht, bedeutet ihnen das unglaublich viel. Darin war er wirklich gut. Er liebt es auch, Teil des Teams zu sein, was ich als sehr wichtig erachte. Er hat seine Zeit bei Ferrari genossen und wird das wahrscheinlich weiterhin tun. Ich habe viele Fahrer kommen und gehen sehen, die sich nur darum kümmerten, Nummer eins zu werden. Michael ist da anders, denn er sorgt sich nur um das Team, darum, wie es funktioniert und dass es dem Team gut geht. Das war über all die Jahre eine seiner größten Stärken."

"Er verliert teamintern gegenüber den Leuten, mit denen er arbeitet, nie die Fassung, dreht nie durch." Ross Brawn

Frage: "Was ist deine schönste Erinnerung an die Arbeit mit Michael Schumacher?"
Brawn: "Seine Gelassenheit ist außergewöhnlich. Er verliert teamintern gegenüber den Leuten, mit denen er arbeitet, nie die Fassung, dreht nie durch. Er ist ein starker Charakter, wie er es sein muss, aber er ist im Auto und außerhalb sehr gelassen, was ich bemerkenswert finde. Abgesehen davon hat er den schieren Speed, denn ohne den Speed sind alle anderen Eigenschaften überhaupt nichts wert."

Frage: "Gibt es ein bestimmtes Ereignis, das dir in Erinnerung bleiben wird?"
Brawn: "Nicht wirklich - da hatten wir mit Michael viele. Es ist sehr schwierig, einzelne Ereignisse herauszupicken, denn es gab so viele davon. Ich kann da nichts hervorheben."

Frage: "In welcher Funktion wäre Michael Schumacher für euch in Zukunft hilfreich?"
Brawn: "Ich denke, Michael sollte sich jetzt mal eine Auszeit nehmen und darüber nachdenken, wie er sich seinen nächsten Lebensabschnitt vorstellt. Er hatte im Rennsport ein sehr klares Programm. Wir alle müssen uns motivieren, denn wir müssen zum nächsten Rennen gehen - und in jeder Saison gibt es ein ziemlich klares Programm. Michael muss sich jetzt Gedanken über seinen nächsten Lebensabschnitt machen und welche Rolle Ferrari darin spielen könnte. Ich finde, dass er Ferrari noch viel geben kann, aber ich bin mir nicht sicher, ob das in irgendeiner Form in einer Fahrerrolle sein wird. Die Autos sind sehr schwierig zu fahren und man muss dafür topfit sein. Selbst mit all den Fitnessprogrammen tun den Fahrern am Saisonbeginn immer die Nackenmuskeln weh, wenn sie zum ersten Mal testen. Man kann also nicht einfach so wieder einsteigen. Ich denke nicht, dass das Sinn machen würde. So eine Rolle kann ich mir für Michael nicht vorstellen."

"Er arbeitet aber so gut mit den Ingenieuren zusammen und versteht, wie die Dinge funktionieren, dass er uns technisch weiterhelfen könnte. Natürlich gibt es auch kommerziell enorme Vorteile für Michael und Ferrari, sowohl im Rennsport wie auch in der Serienproduktion, daher ist es am besten, wenn er sich jetzt einmal Gedanken darüber macht, was er eigentlich will. Ich denke nicht, dass ihm das schon klar ist. Er braucht ein wenig Abstand, um da zu einer Entscheidung zu kommen."