• 19.10.2009 14:32

  • von Dieter Rencken

Brawn-Interview: "Überleben war das erste Ziel"

Teamchef Ross Brawn über den steinigen Weg seit dem Honda-Rückzug, die schwierige Startphase und den Titelgewinn beim Brasilien-Rennen

(Motorsport-Total.com) - Als Honda im Dezember 2008 überraschend die Formel 1 verließ, war lange Zeit nicht klar, wie es mit dem in Brackley beheimateten Rennstall weitergehen würde. Teamchef Ross Brawn ließ allerdings nicht locker und brachte das Team entgegen aller Widrigkeiten in Eigenregie an den Start - und auf die Erfolgsspur. Beim Großen Preis von Brasilien erntete das Brawn-Team den Lohn für all die harte Arbeit: beide WM-Titel. Im Interview spricht Teamchef Brawn über seine Emotionen.

Titel-Bild zur News: Ross Brawn (Teamchef), Jenson Button

Geschafft! Jenson Button und Ross Brawn fallen sich in Brasilien in die Arme...

Frage: "Ross, wie fühlt es sich an, Weltmeister zu sein?"
Ross Brawn: "Euphorisch, aber etwas taub. Es setzt sich langsam. Es gibt einige Momente, in denen ich realisiere, was das Team erreicht hat. Das ist etwas Besonderes, sehr speziell."#w1#

Frage: "Fühlt es sich anders an als mit Ferrari? Ist es emotionaler als die Titel, die du dort geholt hast?"
Brawn: "Die Gefühle sind unterschiedlich. Weltmeisterschaften lässt du schnell hinter dir. Du vergisst das einfach. Ich hatte das Glück, an einem weiteren Titel teilzuhaben. Ich sage das immer wieder, doch die Umstände sind in der Tat derart unterschiedlich. Man muss nur einmal sehen, dass das Team vor zehn Monaten noch nicht einmal existierte."

"Wir hatten ein Team von Leuten, die den ganzen Winter hindurch gearbeitet haben, ohne zu wissen, ob es eine Zukunft für sie gab. Trotzdem haben sie 60 bis 70 Stunden pro Woche geschuftet - was immer halt nötig war. Die Umstände sind also sehr unterschiedlich. Wir hatten nicht wirklich die Ressourcen, die wir bei Ferrari genießen konnten. Es unter diesen Umständen zu schaffen, ist etwas sehr Besonderes."

Frage: "Es mag manchen Leuten unmöglich erscheinen, diese Leistung zu toppen..."
Brawn: "Das wird schwierig werden."

Neue Situation verlangt große Einschnitte

Frage: "Beinahe wäre es nicht zu dieser Saison gekommen. Wie eng war es für das Team im Winter?"
Brawn: "Es war sehr eng. Es gab Tage, da bin ich abends heimgekommen und dachte, dass es einfach nicht klappen würde. Das großartige an unserer Managementgruppe um Nick (Fry), die anderen Jungs und Caroline (McGrory; Anm. d. Red.) war aber, dass niemals alle fünf gleichzeitig niedergeschlagen waren."

"Wenn ich also einmal verzweifelt nach Hause ging, dann gab es einen Telefonanruf von Nick und er sagte mir: 'Vielleicht gibt es einen Weg, vielleicht können wir eine Lösung finden' - und umgekehrt. Es gab eine Gruppe von Leuten, die keine andere Alternative sah, als zu kämpfen und eine Lösung aufzutun."

Frage: "Du sagst selbst, dass du verblüfft und schockiert bist. Wirst du schon am Montag damit beginnen, die Pläne für die neue Saison zu schmieden?"
Brawn: "Ich werde am Morgen möglicherweise einen Kater haben, also vielleicht erst am Nachmittag (lacht; Anm. d. Red.)."

"Dieses Auto wurde mit größeren Ressourcen auf den Weg gebracht, als uns nun zur Verfügung stehen." Ross Brawn

Frage: "Du musstest die Mitarbeiterzahl in diesem Jahr deutlich reduzieren. Habt ihr noch genug Ressourcen, um euch bestmöglich auf eine Titelverteidigung vorzubereiten?"
Brawn: "Das ist hart. Zweifelsohne wurde dieses Auto mit größeren Ressourcen auf den Weg gebracht, als uns nun zur Verfügung stehen. Nun kommt aber ohnehin eine Ressourcenbeschränkung, der sich alle Teams verschrieben haben. Das bringt die Rennställe herunter auf unsere Größe."

"Ich kann nicht leugnen, dass es da möglicherweise einen kleinen Schluckauf in diesem Prozess geben könnte, wenn die anderen Teams für eine Weile mehr Ressourcen haben als wir. Allerdings werden alle Teams auf unsere Größe schrumpfen. In ein bis zwei Jahren wird der Umfang von Brawn dem Umfang eines Formel-1-Rennstalls entsprechen."


Fotos: Jenson Button, Großer Preis von Brasilien


Frage: "War es schwierig für dich, den Leuten Anfang dieses Jahres zu sagen, dass sie gehen müssten?"
Brawn: "Ja. Vor allem aufgrund der Arbeit, die sie im Winter geleistet hatten. Sie hatten Verständnis dafür, doch das war eines der härtesten Dinge überhaupt. Leider war es nötig. Wir hatten einfach nicht die finanziellen Mittel, um eine so große Mitarbeiterzahl zu unterstützen."

Brawn: Die Saison 2010 ist gesichert

Frage: "Denkst du, Jenson wäre auch ohne Gehalt gefahren?"
Brawn: "Es war nicht viel mehr als nichts. Im Hinblick auf sein bisheriges Gehalt musste er deutliche Einbußen hinnehmen. Es war auf einmal weniger als die Hälfte."

Frage: "Musstest du ihm das auferlegen?"
Brawn: "Da hatten wir wohl keine andere Wahl. Er hat es verstanden und hat niemals das Vertrauen in uns verloren. Um ehrlich zu sein: Rubens und Jenson hatten keine Wahl. Es passierte alles so spät, also hatten wir viel Glück. Sie sind aber glücklich damit, wie die Dinge letztendlich gelaufen sind."

Frage: "Ein WM-Rennstall und ein Weltmeister müssen doch Geldmittel anziehen..."
Brawn: "Wir sind gut aufgestellt für das kommende Jahr."

"Beide Fahrer waren wichtige Zutaten zu dem, was wir erreicht haben." Ross Brawn

Frage: "Bist du da nicht etwas zu bescheiden? Jenson hatte einige Optionen für dieses Jahr, wollte aber in deinem Team fahren und im Auto, das deinen Namen trägt..."
Brawn: "Vielleicht. Ich weiß nicht, wie sein Entscheidungsprozess aussah. Ich habe mich natürlich sehr darüber gefreut, dass er bei uns geblieben ist. Ich freue mich auch darüber, dass Rubens sich dazu entschlossen hat, ebenfalls bei uns zu bleiben. Beide Fahrer waren wichtige Zutaten zu dem, was wir erreicht haben."

"Wir haben die ersten vier Rennen mit nur zwei Chassis bestritten. Wir haben ja in den vergangenen Rennen gesehen, wie viel Schrott einige jüngere Fahrer produziert haben. Wir hatten in den ersten beiden Rennen nur zwei Chassis und haben in diesem Jahr nur drei Chassis gebaut. Das ist ein Bruchteil von dem, was ich bei Ferrari gehabt hätte. Das konnte aber nur aufgrund der erfahrenen Piloten gelingen. Das war ein großer Vorteil für uns."

Das Märchen vom Brawn-Aufstieg

Frage: "Jenson nennt diese Weltmeisterschaft ein Märchen. Siehst du das ähnlich?"
Brawn: "Ich bin nicht sicher, was ein Märchen ist. Für mich ist es jedenfalls eine außergewöhnliche Erfahrung, etwas zu nehmen, was schon am Boden und fast erledigt war, und es dorthin zu bringen, wo wir heute stehen."

"Es ist toll, die Entschlossenheit der Leute zu sehen, die niemals aufgegeben haben. Sie wurden damit konfrontiert, dass sie plötzlich auf der Straße stehen könnten. Wir sagten ihnen: 'Wir wissen nicht, was passiert. Wir brauchen aber eure Unterstützung, denn wenn es klappt, dann sind wir ohne eure Hilfe schlichtweg aufgeschmissen.' Also blieben sie am Ball."

"Wir hatten nur das Geld für ein Jahr. Überleben war also der erste Gedanke." Ross Brawn

Frage: "Welche Hoffnungen hattest du damals für die Saison?"
Brawn: "Überleben war das erste Ziel. Ordentlich überleben. Es ging darum, zum ersten Rennen zu fahren und diese Sache auf die Beine zu stellen. Wir mussten zusehen, dass wir die Finanzierung für die Zukunft zusammenbekamen. Wir hatten schließlich nur das Geld für ein Jahr. Überleben war also der erste Gedanke."

"Du durchläufst all diese verschiedenen Phasen. Zunächst ging es da um das Überleben. Weil Nick, ich selbst und andere Mitglieder des Managements vollkommen damit beschäftigt waren, das Unternehmen am Leben zu erhalten, kümmerten sich andere Managementleute im Hintergrund um den Fortschritt auf technischer Seite und produzierten das Auto."

Frage: "Du hattest also keine Ahnung davon, wie ihr euch in dieser ersten Saison oder gar dem ersten Rennen schlagen würdet?"
Brawn: "Wir hatten wirklich keine Ahnung. Wir wussten, dass unser Auto einen großen Fortschritt im Vergleich zu den Fahrzeugen davor darstellen würde. Etwas Ermunterung verschaffte uns der Testbeginn mit dem neuen Auto."

"Wir sahen nichts, was die Leistung brachte, die man unter den neuen Regeln eigentlich erbringen sollte. Das mag zwar arrogant klingen, doch das war unsere Analyse. Das machte uns nur noch entschlossener, diese Sache auf den Weg zu bringen - wir dachten schließlich, dass wir ein gutes Auto hatten."¿pbvin|512|2079|inside|0|1pb¿

...und auf dem Auto steht "Brawn"...

Frage: "Dein Name steht nun in einer Reihe mit McLaren, Ferrari und Williams als Besitzer eines Teams, das den Herstellertitel gewonnen hat. Wie fühlt sich das an?"
Brawn: "Ferrari hat mir freundlicherweise eine Kopie der Konstrukteurstrophäe überlassen, als ich das Team verließ. Dieser Pokal steht nun in meinem Arbeitszimmer."

"Darauf sind all die kleinen Abzeichen zu sehen und die Namen von Ferrari, Lotus und McLaren. Ich dachte am Sonntag daran, dass nun auch Brawn darauf zu finden sein wird. Das ist einfach unbeschreiblich. Das ist etwas Besonderes. Alles ist so unbeschreiblich."

"Ich bin aber sehr stolz und fühle mich geehrt, dass das Team meinen Namen trägt." Ross Brawn

Frage: "Wie ist es für dich, dass dein eigener Name mit im Spiel ist?"
Brawn: "Das macht mich sehr stolz. Am Anfang war es doch etwas seltsam, den Schriftzug zu sehen. Ich bin aber sehr stolz und fühle mich geehrt, dass das Team meinen Namen trägt."

Frage: "Hätte der Teamnamen auch anders lauten können?"
Brawn: "Wir haben einige Varianten durchgespielt. 'Pure Racing' war eine der Möglichkeiten, die nicht den richtigen Klang hatten."

Frage: "Habt ihr auch über Tyrell nachgedacht?"
Brawn: "Ja, wir haben uns auch Tyrell angesehen. Mercedes-Benz war unser Partner, also wäre Pure-Mercedes nicht besonders toll gewesen. Wir haben uns darüber mit Mercedes unterhalten und Caroline McGrory, unsere Rechtsanwaltssekretärin, sagte: 'Warum gibst du dem Team nicht deinen Namen?' Und da schien es keine Einwände zu geben."

Frage: "Hattest du etwas dagegen?"
Brawn: "Wie ich schon sagte: Es fühlte sich seltsam an. Es ist einfach ungewöhnlich."

Großes Lob für Champion Button

Frage: "Jenson sprach am Sonntag vom besten Rennen seiner Karriere..."
Brawn: "Er ist ein fantastisches Rennen gefahren. Ein paar Mal war es ganz schön eng - ein bisschen mehr in die eine oder andere Richtung und es hätte durchaus auch schnell vorbei sein können. Er ist ein brillantes Rennen gefahren. Wir haben wieder einmal den Kontrast zwischen einem schlechten Qualifying und einem großartigen Rennen gesehen. Er ist ein Rennen gefahren, das eines Weltmeisters würdig ist."

Frage: "Ist er eine stärkere Persönlichkeit, als die Leute ihm das zugestehen wollen?"
Brawn: "Wie ich schon sagte: Es ist diese Persönlichkeit, welche die Leute sehen. Am Samstag war er am Boden zerstört. Er wusste, dass er gemeinsam mit dem Team einen schlechten Job gemacht hatte."

"Am Rennmorgen kam er sehr entschlossen in die Box und das hat mich beeindruckt." Ross Brawn

"Es war eine goldene Möglichkeit. Er überlegte sich, wie er den Spieß noch einmal herumdrehen und wie er sich doch noch in eine Position bringen könnte, die WM zu gewinnen. Am Rennmorgen kam er sehr entschlossen in die Box und das hat mich beeindruckt."

Frage: "Hast du ihn schon derart geschätzt, als du noch bei Ferrari warst oder hast du bei Brawn etwas Neues an ihm entdeckt?"
Brawn: "Das kann man nicht, bis man mit jemandem zusammenarbeitet. Man hat nur eine oberflächliche Meinung von jemandem. 2004 hat er uns bei Ferrari das Leben schwer gemacht. Wir hatten ein sensationelles Jahr, doch er war immer da und uns auf den Fersen. Damals hat er uns beeindruckt. Er hat damals einen guten Eindruck hinterlassen. Aber das ist nur schwer einzuschätzen solange man nicht mit den Leuten zusammenarbeitet."

"Im vergangenen Jahr war eine Zusammenarbeit sehr schwierig, weil wir schlechtes Material hatten. Viele Jungs aus dem Team, die ich sehr respektiere, sagten mir damals, dass ich dabei bleiben sollte, weil er einfach außergewöhnlich sei. Diese absolut verblüffende erste Saisonhälfte und der schwierige zweite Jahresabschnitt dürften bei Jensons Charakter eine recht große Entwicklung darstellen."

Das Fahrerduo als Schlüsselpunkt

Frage: "Wenn Jenson in Abu Dhabi nun hervorragend abschneidet, wird ihn das nicht in ein schlechtes Licht rücken? So gesehen würde das unterstreichen, dass ihn der Druck während des Jahres schwer mitgenommen hat..."
Brawn: "Das ist eine interessante Sichtweise. Er ist ein Kerl, der niemals zuvor in einen WM-Titelkampf verwickelt war. Er hatte eine große Führung und alle anderen haben an seinem Vorsprung geknabbert. Letztendlich ist er damit klargekommen. Er hat es geschafft und ist Weltmeister. Unter diesen Umständen wird er wohl deutlich stärker sein."

"Jetzt können wir uns zusammensetzen und uns dieser Frage widmen." Ross Brawn

Frage: "Wird Jenson auch im kommenden Jahr bei euch fahren?"
Brawn: "Jetzt können wir uns zusammensetzen und uns dieser Frage widmen. Wir haben das Möglichkeitsfenster im Sommer verpasst. Nun, da die WM gelaufen ist, werden Nick und ich dieses Thema angehen und in den kommenden Wochen mit den Fahrern sprechen."

Frage: "Deine beiden Fahrer haben um die WM gekämpft. Hast du deine Aufmerksamkeit zweigeteilt?"
Brawn: "Sie haben das bei bester Stimmung erledigt. Diese Stimmung zwischen zwei Fahrern ist in der Formel 1 sicherlich außergewöhnlich."

Frage: "Das hat man auch nach dem Rennen gesehen, als Rubens der Erste war, der Jenson nach der Zielankunft gratulierte..."
Brawn: "Die beiden respektieren sich einfach sehr. Das ist nicht nur oberflächlich. Sie haben einen harten Kampf ausgefochten und die Karten lagen stets offen auf dem Tisch. Ich war etwas traurig für Rubens, denn ich dachte, dass er am Sonntag wirklich eine Chance haben würde. Der zweite Reifensatz war aber nicht wirklich gut und er hatte auch noch einen Plattfuß. Sein brasilianischer Fluch hat wieder zugeschlagen."