• 19.01.2009 22:29

  • von Dieter Rencken

Bell-Interview: KERS kann lebensgefährlich sein

Renault-Technikdirektor Bob Bell über die Entwicklung des neuen R29 und die Gefahren von KERS: "Es wird einige Zwischenfälle geben"

(Motorsport-Total.com) - Ein kurzer Blick auf den neuen Boliden von Fernando Alonso reicht, um zu erkennen: Renault ist beim Entwurf des neuen R29 einige ganze neue Wege gegangen. Die Nase kommt mit gewaltiger Breite und deutlichen Auswüchsen nach unten daher. Die Seitenkästen sind breit und flach, sodass man sich fragen muss, wo die zukünftigen KERS-Elemente die nötige Luft zur Kühlung hernehmen sollen. Renault-Technikdirektor Bob Bell erklärte im Interview, wie der neue Bolide entstand.

Titel-Bild zur News:

Renault-Technikchef Bob Bell erwartet Stromschläge und Zwischenfälle mit KERS

Frage: "Bob, wie sehr habt ihr CFD (Strömungsanalyse per Computer; Anm. d. Red.) beim Entwurf des neuen R29 genutzt?"
Bell: "Wir haben es nur phasenweise genutzt. Man muss nicht nur einen Supercomputer dafür bauen, sondern man benötigt auch die richtigen Leute, die ihn bedienen. In diesem Bereich sind wir noch nicht so stark besetzt. Die Abteilung war im vergangenen Jahr direkt vor dem Monza-Rennen startklar. Wir haben dort einige Arbeit bezüglich der Bremsbelüftung des R28 erledigt. Gemeinsam mit Windkanaltests kann man damit schon einmal weniger gute Ideen ausmerzen. Wir haben die Abläufe in Vorbereitung auf Windkalatests damit beschleunigt. Bisher haben wir es gut einsetzen können."#w1#

Neue Regeln erfordern neue Lösungen

Frage: "Geben die neuen Regeln schon einen neuen Radstand und eine neue Gewichtsverteilung vor?"
Bell: "Es geht immer nur darum, die Gewichtsverteilung so hinzubekommen, wie man sie haben will. Durch KERS verliert man all seinen frei platzierbaren Ballast. Das ist aber ein ganz wichtiger Faktor. Wir mussten also herausfinden, wie der Radstand und die statische Gewichtsverteilung des rohen Autos sein muss, um der optimalen Verteilung möglichst nahe zu kommen. Da ging es natürlich um grundsätzlich andere Konfigurationen."

Frage: "Ist das Abführen der heißen Luft nach dem Verbot von Lüftungsschlitzen in der Haube ein Problem?"
Bell: "Es war eine sehr große Herausforderung, mit den neuen Regeln gute Entlüftungen zu finden, die auch sofort funktionieren. Bisher konnten wir da immer unbekümmert herangehen. Wir haben viel arbeiten müssen, um die bestmögliche Lösung zu finden, aber wir haben eine gute gefunden. Insgesamt hatten wir beim Design des Autos eigentlich mehr Freiheiten als sonst, also hat das auch ganz gut funktioniert."

Renault R29

Renault präsentierte den neuen R29 bei den Tests in Portugal Zoom

Frage: "Ein weiterer wichtiger Faktor sind die neuen Reifen. Als ihr 2007 letztmals eine Umstellung in diesem Bereich hattet, gab es ein Drama. Seid ihr zuversichtlich, dass ihr solche Probleme dieses Mal nicht habt?"
Bell: "Ich hoffe es. Als wir die Slicks im vergangenen Jahr ausprobiert haben, haben wir bezüglich der Balance keine großen Probleme festgestellt. Das war kaum verändert. Natürlich kann es bei all den Regeländerungen im Bereich Aerodynamik und bei der Einführung von KERS durchaus auch Probleme mit den Reifen geben. Aber wenn der Umstieg von Michelin auf Bridgestone auf einer Schwierigkeitsskala von 1 bis 10 eine 10 war, dann ist das jetzt eine 2. Wirklich kein großes Problem."

Schon in Melbourne mit Extra-Schub?

Frage: "Könnt ihr euer Auto mit und ohne KERS betreiben?"
Bell: "Es kann in beiden Konfigurationen fahren. Unser Ziel ist es aber, es zu nutzen. Darauf Zielen wir ab. Aber wenn alle Stricke reißen, dann können wir auch ohne KERS fahren."

Frage: "Müsstet ihr dafür große Kompromisse eingehen?"
Bell: "Wenn du von vornherein ein Auto ohne KERS entworfen hättest, wäre vielleicht ein Hauch mehr drin, aber wirklich nicht allzu viel."

Frage: "Wollt ihr es schon in Melbourne eim Auto haben?"
Bell: "Ja."

Frage: "Fahrt ihr beim aktuellen Test damit?"
Bell: "Es ist drin, aber nicht aktiviert. Wir haben all die nötige Hardware an Bord, aber eben nicht in Betrieb. Wir wollen zunächst ausprobieren, ob die Teile den normalen Belastungen im Auto standhalten. Wir gehen es Schritt für Schritt an, während andere Teams sofort ins kalte Wasser springen und es einbauen und sofort damit loslegen. Dann wundern sie sich womöglich, dass sie nicht viele Runden schaffen."

Frage: "Ihr nutzt das System von 'Magneti Marelli'. Auch andere Teams arbeiten mit denen zusammen. Gibt es Unterschiede bei den Systemen?"
Bell: "Sie versorgen alle Kunden mit der Motor-Generatoren-Einheit und dem entsprechenden Kontrollset. Die Kombination von Motor und Generator gibt es für alle Teams in verschiedenen Ausführungen. Die Grundstruktur ist zwar gleich, aber es wird wegen des Einbaus angepasst. Wir nutzen exakt die gleiche Einheit wie Red Bull. Das macht natürlich Sinn, weil es auch der gleiche Motor ist."


Fotos: Testfahrten in Portimão, Montag


"Die Kontrolleinheit ist bei allen Teams eigentlich gleich. Bei 'Magneti Marelli' können sie problemlos verschiedene Versionen stemmen. Der andere Punkt sind die Batterien. Hier geht jedes Team seinen eigenen Weg. Wir benutzen ein Produkt der Firma 'Saft', die die entsprechenden Zellen herstellen. Das alles wird dann zu einem funktionierenden System kombiniert. Da gehen die Teams unterschiedliche Wege."

Frage: "Sind das Lithium-Batterien?"
Bell: "Ja, soweit ich weiß, nutzen alle Lithium."

KERS eine tödliche Gefahr?

Frage: "Gibt es Sicherheitsbedenken?"
Bell: "Auf jeden Fall. Das ist für uns unbekanntes Terrain. Wir sind nicht daran gewöhnt, an unseren Autos Aufkleber zu sehen, die vor Hochspannung warnen. Ich denke, es wird in diesem Jahr einige Zwischenfälle damit geben. Das wird man kaum verhindern können. Man wird wahrscheinlich auch noch einige Mechaniker sehen, die einen elektrischen Schlag bekommen. Hoffentlich passiert nicht mehr. Auch den Streckenposten wird so etwas passieren."

"Der Sport ist immer sicherer geworden, auch für Mechaniker, Techniker und die Leute an der Strecke. Aber Risiken gibt es immer. Es geht um mehrere hundert Volt und so einige Ampere. Das kann tödlich sein. Und es ist Gleichstrom. Wenn du ihn drin hast, wirst du ihn nicht einfach so wieder los."

Frage: "Ist die Entsorgung der Batterien ein Problem?"
Bell: "Das ist ein wirkliches Problem. Wir bringen unsere Zellen zurück zu 'Saft'. Sie machen seit Jahren Lithiumzellen für Militär und andere Kunden. Sie haben ihr eigenes Entsorgungssystem. Aber man kann schon sagen, dass die Formel 1 den weltweiten Batterie-Müllberg ganz schön aufstockt."

"Es geht um mehrere hundert Volt und so einige Ampere. Das kann tödlich sein." Bob Bell

Frage: "Ist die Lebensdauer der Batterien auf ein Rennen beschränkt?"
Bell: "Das kommt darauf an. Wir gehen davon aus, dass man sie mehrere Rennen lang benutzen kann. Wenn wir vier Rennen schaffen, wäre das ein Traum. Das müssen wir aber noch entscheiden."

Frage: "Benutzt man bei jedem Rennen die gleiche Spezifikation der Batterien?"
Bell: "Die Aufladzeiten variieren von Rennen zu Rennen, aber wir verwenden nicht unterschiedliche Batterien für unterschiedliche Strecken. Schon eine einzige Batteriesorte stellt uns vor logistische Probleme, mehrere Versionen wären ein Albtraum. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die Lade- und Entladezyklen der Batterien im Auge zu behalten, sodass alle 60 Zellen immer im gleichen Status sind. Wenn du einen Ausreißer dabei hast, kann es gefährlich werden. Wir müssen das elektronisch kontrollieren und überprüfen können."

Frage: "Macht ihr das in Eigenarbeit?"
Bell: "Ja, mit Hilfe von 'Saft'."

Renault mit breiter Nase im Wind

Frage: "Gibt es beim Ladevorgang Stabilitätsprobleme an der Hinterachse?"
Bell: "Die Spezialisten für Fahrzeugdynamik haben sich das angeschaut. Das größte Problem ist es, das mit dem normalen Bremsvorgang des Piloten in Einklang zu bringen. Wenn das nicht ordentlich geschieht, dann kann es große Probleme mit der Stabilität geben. Man kann das ewig lange simulieren, aber das findet man letzt wirklich nur im realen Betrieb richtig heraus. Man kann es kaum vorhersagen. Wir haben dort viel Entwicklungsarbeit hineingesteckt."

Frage: "Die Nase eures Wagens unterscheidet sich deutlich von den Konkurrenzversionen. Seid ihr sicher, den richtigen Weg zu beschreiten?"
Bell: "Sicher ist man nie. Aufgrund der grundlegenden Regeländerungen kommen die Teams mit deutlich unterschiedlichen Lösungen. Es ist eigentlich interessant, dass sie eigentlich sogar alle recht ähnlich sind. Im Bereich Aerodyanmik kann man mit unterschiedlichen Lösungen zum Ziel kommen. Die Performance ist zu 95 Prozent gleich. Wenn die allerletzten Prozentpunkte gesucht werden, erst dann kommen eigentlich alle zum gleichen Schluss."

Frage: "Haben euch die neuen Regeln in euren guten Entwicklung des vergangenen Jahres eingebremst?"
Bell: "Die Regeln setzen die Basis irgenwie auf Null, aber sie verändern die Entwicklungskurve nicht. Wir sind vielleicht jetzt alle auf einer anderen Grundlage, aber die Teams mit dem höchsten Entwicklungstempo werden schnell wieder an den Konkurrenten vorbeiziehen können. Wir haben im vergangenen Jahr bewisen, dass wir eine gute Entwicklungsabteilung haben. Wir können ein Auto schneller weiterentwickeln als andere. Das wird auch in diesem Jahr so sein."


Fotos: Präsentation des Renault R29


Wie werden die verstellbaren Fronflügel überwacht?

Frage: "Bereiten euch die verstellbaren Elemente am Frontflügel Sorgen?"
Bell: "Aus aerodynamischer Sicht nicht. Strukturell auch nicht so wirklich. Man muss aber dafür sorgen, dass das Kontrollsystem genau das tut, was es tun soll. Die Fahrer bekommen noch einmal ein paar Knöpfe hinzu, wobei sie ohnehin schon alle Hände voll zu tun haben. Auch KERS ist da nicht anders."

Frage: "Funktioniert das System denn?"
Bell: "Kann ich nocht nicht sagen. Wir haben es zu diesem Test erstmals am Auto. Im Werk hat es gut funktioniert. Im Moment ist es ohnehin wichtiger, dass das Auto gut gekühlt ist und die Gangwechsel funktionieren, als dass jetzt irgendein kleines Flügelchen rauf und runter geht. Wir können Rennen gewinnen, falls dieses Kleinteil mal festhängt, aber wir können nicht gewinnen, wenn ein Gang stecken bleibt."

Frage: "Wird die Elektronik nach jeder Runde auf Null gestellt und dann sind wieder zwei Justierungen erlaubt?"
Bell: "Sie erlauben uns zwei Verstellvorgänge pro Runde. Ich glaube nicht, das sie es immer resetten. Es wird von der Einheitselektronik kontrolliert. Die FIA wird das wohl noch genauer vorstellen. Ich glaube aber nicht, dass das Ding nach zwei Justierungen einfach blockiert."

Frage: "Die Elemente sind um maximal sechs Grad verstelltbar. Reicht das?"
Bell: "Das ist ein zarter Anfang, wie ihn die Regeln vorschreiben."

Frage: "Die hinteren Querlenker sind neu angeordnet. Ist das eine neue Geometrie oder einfach an die Umgebung angepasst?"
Bell: "Kinematisch ändert sich dadurch nicht viel. Wir haben es neu positioniert, um es an das Getriebe und den neuen Radstand anzupassen. Es ist aber kaum verändert im Vergleich zum Vorjahr."

Frage: "Hat der neue Diffusor Auswirkungen auf das Layout der Aufhängungen?"
Bell: "Ja, ein wenig. Bei uns gar nicht einmal so, aber es wird andere Teams geben, die mit extremeren Lösungen kommen."

Wo ein Wille ist, ist auch eine Lücke

Frage: "Seit ihr vom senkrechten Luftleit-Element bei Ferrari überrascht worden?"
Bell: "Nein, wir haben auch so eines. Wir haben es jetzt nur nicht am Auto. Es gibt eine Lücke im Reglement. Daher gibt es eine Position, wo man es installieren darf."

Frage: "Euer Auto sieht so aus, als wolltet ihr mit aller Macht viel Gewicht nach vorn bekommen. Hält euch der Forntflügel davon ab, noch mehr Last nach vorn zu bringen?"
Bell: "Generell haben sich diese Frontflügel als viel Leistungsfähiger erwiesen als wir es jemals gedacht hätten. Als wir die erste Version im Windkanal getestet haben dachten wir, wir würden niemals genug Abtrieb durch den Flügel bekommen. Mittlerweile haben wir fast mehr als wir gebrauchen können. Mann muss die Last ganz weit nach vorne bekommen, um den Schwerpunkt nach vorne zu verschieben. Das werden alle versuchen."

Frage: "Fehlen euch die Elemente, die den Luftstrom beruhigen, um hinten mehr Anpressdruck zu bekommen?"
Bell: "Da sprichst du einen Bereich an, welchen wir zurzeit nur schwer in den Griff bekommen. Einige Elemente erzeugen Wirbel, die dann zum Unterboden gehen. Das ist sehr komplex und wir haben weniger Möglichkeiten, um dies in den Griff zu bekommen. Das ist aber nach wie vor unser Ziel."

Nelson Piquet

Nelson Piquet durfte die Jungfernfahrt mit dem R29 unternehmen Zoom

Frage: "Gibt es immer noch Probleme mit abbauenden Hinterreifen?"
Bell: "Es schlägt noch niemand Alarm, aber wir können es erst einschätzen, wenn diese Autos einmal unter Rennbedingungen im Trockenen gelaufen sind. Solange wir ein gut balanciertes Auto und genügend Abtrieb haben, wird das wohl kein großes Problem werden."

Frage: "Wird es bei euch Personalverschiebungen geben?"
Bell: "Wir können die Leute nicht anders einsetzen, solange wir jetzt noch den normalen Testbetrieb fahren. Wenn die Saison losgeht, werden alle Teams vor der Frage stehen, was mit den Testteams passieren soll. Es wird innerhalb der Mannschaften soziale Probleme geben, mit denen wir irgendwie umgehen müssen. Das hängt natürlich alles davon aus, wie letztlich der Renneinsatz und die Designabteilungen aussehen werden."

Frage: "Wie seht ihr den Zwang, die Werke für bestimmte Zeiten zu schließen?"
Bell: "Angeblich sollen wir die Produktion im August für zwei Wochen herunterfahren, aber nicht einmal das ist bisher sicher. Wir glauben, dass es eher neue Kosten verursacht, als dass es Kosten spart. Aber so denkt nicht die Mehrheit im Fahrerlager."