Ferrari und der Fluch der "Schumi"-Ära

Warum Ferrari in Italien keine Religion mehr ist, was in den vergangenen Jahren schieflief und wieso für Stefano Domenicali kein potenzieller Nachfolger in Sicht ist

(Motorsport-Total.com) - Das italienische Selbstbewusstsein hat in den letzten Jahren gelitten: Die Wirtschaftskrise hat die einst so stolze Nation fest im Würgegriff, die Eskapaden des ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi haben dem Ansehen geschadet - und der ganze Stolz der Tifosi, die Scuderia Ferrari, läuft seit Kimi Räikkönen 2007 einem Fahrer-WM-Titel nach. Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, dass die Roten aus Maranello von 2000 bis 2007 in acht Jahren nur zwei Mal scheiterten.

Titel-Bild zur News: Fernando Alonso

Ferrari, quo vadis? Gelingt 2012 nicht der Titel, drohen in Maranello Turbulenzen

Doch 2008 war das Jahr, als Stefano Domenicali bei Ferrari das Ruder übernahm. Da liegt es nahe, dem Mann aus Bologna die Schuld für die Titelflaute in die Schuhe zu schieben. Doch so ganz stimmt das nicht, denn viele vergessen, dass Ferrari 2008 immerhin die Konstrukteurs-WM für sich entschied (Formel-1-Datenbank: die Ära Domenicali in Zahlen).

Montezemolo: Bittere Scherze über Domenicali-Nachfolge

Als sicher gilt allerdings, dass Domenicali vor einem entscheidenden Jahr steht. Bereits nach den anfänglichen Pleiten im Vorjahr spürte der 46-jährige Nachfolger von Jean Todt, dass er nicht mehr tatenlos zusehen darf, wenn er weiterhin fest im Sattel sitzen möchte. Und so opferte er seinen langjährigen Technikchef Aldo Costa und ersetzte ihn durch Ex-McLaren-Mann Pat Fry.

Der Druck, der auf dem Briten lastet, ist enorm. Gelingt Ferrari dieses Jahr kein großer Wurf, dann könnte sogar der oberste Kopf in Maranello rollen - der von Teamchef Domenicali. Noch verpackt Montezemolo solche Botschaften aber in kleine Scherze. Da China inzwischen nach den USA für Ferrari der zweitgrößte Markt ist, meint er: "Man kann sagen, dass Domenicalis Nachfolger bereits gefunden wurde: Er wird aus China stammen..." Für den Teamchef keine angenehme Ansage.

Stefano Domenicali (Teamchef)

Teamchef Stefano Domenicali gibt sich nach außen locker Zoom

Weniger Druck durch Wirtschaftskrise?

Doch es ist bekannt, dass man in Maranello eine dicke Haut haben muss, denn die gesamte Nation hängt an seinem Nationalteam. Oder doch nicht? Pino Alievi - Italiens Formel-1-Reporterlegende von der 'Gazzetta dello Sport' - ist der Meinung, dass sich die Zeiten geändert haben. "Natürlich steht Domenicali unter Druck, denn Ferrari präsentierte sich im Vorjahr nicht wie Ferrari", verweist er auf die schwache Saison mit nur einem Sieg durch Fernando Alonso.

"Nach Räikkönen haben sie in allen Saisons versagt. Den Autos der vergangenen fünf, sechs Jahre fehlte es an Abtrieb. Aber der Druck, der auf Ferrari lastet, ist nicht so groß. Außerhalb von Italien denken viele, dass alle Italiener große Ferrari-Fans sind, das ist aber nicht wahr. Wir haben viele wirtschaftliche Probleme, wir haben eine Krise, wir haben politische Probleme. Das Interesse an Ferrari und an der Formel 1 ist also nicht mehr so groß wie vor zehn Jahren. Wenn Ferrari also gewinnt, dann umso besser, wenn nicht, dann kümmert es auch niemanden."

"Schumi"-Ära als Fluch

Doch genau diese oberflächliche Betrachtungsweise des italienischen Volks könnte für Ferrari auch zum Problem werden. Denn die enormen Erfolge der Scuderia Anfang des Jahrtausends trieben die TV-Zuseherzahlen in die Höhe, die Italiener erwarten Triumphe. Stella Bruni - Boxengassen-Reporterin für den TV-Sender 'RAI Sport' - erkennt folgendes Phänomen: "Ferrari hat sein Herz den Menschen in den vergangenen Jahren nicht gezeigt."

Für sie ist klar, dass Domenicali unter Druck ist, "denn Ferrari ist nicht dabei, um mitzufahren, sondern um zu gewinnen. Sie haben zu lange nicht gewonnen. Und der Druck ist auch so groß, weil es die Italiener gewohnt sind, dass Ferrari konkurrenzfähig ist."

"Über einen Zeitraum von 20 Jahren haben sie Verständnis gehabt, denn die Zeiten waren anders, das Publikum war kleiner. Es war ein sehr kleiner Kreis, aber es waren Leute mit Leidenschaft", spielt sie auf die Durstrecke zwischen Jody Scheckters Titelgewinn 1979 und Michael Schumachers erstem Ferrari-Titel 2000 an.

Michael Schumacher (Ferrari F2004)

Die "Schumi"-Ära machte Ferrari in Italien wieder zum Massenphänomen Zoom

"Jetzt ist es anders. Wenn man die Formel 1 mit Leidenschaft verfolgt, dann versteht man sie besser, dann versteht man, dass man gewinnt und verliert. Wenn aber plötzlich zehn Millionen Menschen zuschauen, dann muss man gewinnen. Es ist sehr schwierig für die normalen Zuschauer, zu verstehen, welche Probleme Ferrari hatte."

Wie der italienische Masterplan scheiterte

Besonders bitter für die italienische Volksseele: Nach den großen Triumphen mit Michael Schumacher plante man bei Ferrari, ähnliche Erfolge mit einer durch und durch italienischen Truppe zu erlangen. Größen wie Ross Brawn, Rory Byrne oder auch der wegen der Spionage-Affäre umstrittene Chefmechaniker Nigel Stepney wurden durch Italiener ersetzt, mit Domenicali übernahm ein heimischer Teamchef. Und sogar die Piloten Alonso und Felipe Massa sprachen plötzlich fließend Italienisch.

Doch mit dem Vorurteil, mit den Italienern würde auch wieder das Chaos nach Maranello zurückkehren, konnte man nicht aufräumen. Gerhard Berger, der das "Grande Casino" bei der Scuderia jahrelang als Fahrer hautnah miterlebt hatte, sagte schon vor einigen Jahren gegenüber 'auto motor und sport': "Leute wie Todt, Brawn und Byrne findest du nicht auf der Straße. Mir kommt es fast so vor, als kehrten die Sünden der Vergangenheit zurück."

Felipe Massa, Stefano Domenicali (Teamchef), Fernando Alonso

Bisher hinter den Erwartungen: Domenicali mit Massa und Alonso Zoom

Journalist Allievi, der Enzo Ferrari persönlich kannte und auch als Buch-Autor Karriere machte, erinnert sich an den gescheiterten Versuch, eine italienische Erfolgstruppe zu basteln: "Mit Costa versuchten sie es mit einem italienischen Technikchef und irgendetwas funktionierte nicht - eher in politischer als in praktischer Hinsicht."

Köpferollen unter Ausschluss der Öffentlichkeit

Doch Costas Rauswurf war nur die Spitze zahlreicher personeller Umstellungen in Maranello, die von außerhalb aber kaum sichtbar waren: "Domenicali tauscht nach wie vor Leute in Toppositionen aus. Dieses Jahr sorgte er in fünf, sechs Toppositionen für Veränderungen. Davor war alles mehr oder weniger gleich geblieben. Viele Veränderungen finden in Bereichen statt, wo man es nicht wahrnimmt, denn es handelt sich nicht um Leute in der Öffentlichkeit. Er steht unter Druck, denn er muss Ergebnisse liefern."

Vom italienischen Masterplan ist man längst abgerückt: Neben Fry stieß mit Ex-Bridgestone-Reifenchef Hirohide Hamashima zuletzt auch ein Japaner zur Truppe aus Maranello. Der für die Umbesetzungen Verantwortliche gibt sich nach außen weiterhin gelassen. "Mit Bedenken in eine Saison zu gehen, hilft nicht. Es ist daher sinnlos, gestresst zu sein", sagt Domenicali.

Luca di Montezemolo (Präsident)

Kann Pat Fry Ferrari-Boss Luca di Montezemolo glücklich machen? Zoom

"Dennoch wissen wir, dass diese Saison wichtig und aus vielerlei Hinsicht heikel ist, aber so ist dieser Sport eben und speziell diese Saison passt zum Rahmen, in dem sich Ferrari immer bewegt hat. Natürlich gibt es Erwartungen, mit denen wir bestmöglich umgehen müssen. Auch die emotionelle Seite ist sehr wichtig, vor allem in unserem Team und in unserem alltäglichen Rahmen. Daher ist es meine Herangehensweise, auf die ich immer gesetzt habe, ruhig, entspannt und entschlossen an die Dinge heranzugehen. Ich werde mich nicht demotivieren lassen, sollte es zu Beginn nicht perfekt laufen, aber auch nicht euphorisch werden, wenn zu Beginn alles funktioniert."

Kein potenzieller Nachfolger für Domenicali in Sicht

Doch wer sollte den 46-jährigen Sohn eines Bankiers wirklich ersetzen, sollte es auch zu Saisonende bei Ferrari noch nicht laufen? Alberto Antonini - Formel-1-Redakteur beim Fachmagazin 'Autosprint' - sieht diesbezüglich ein Problem auf Montezemolo zukommen: "Stefano muss einerseits Leistung abliefern, andererseits gibt es bei Ferrari keinen Ersatz für ihn, außer man nimmt jemanden von Fiat, der keine Erfahrung besitzt."

Der italienische Journalist würde auf "einen externen Mann" setzen, "denn im Team besitzt niemand die Fähigkeit und das Wissen." Doch wird es wirklich soweit kommen? "Es hängt davon ab, auf welche Art und Weise sie die Weltmeisterschaft verlieren. Wenn sie eine Saison wie im Vorjahr haben, dann würde die Position und die Rolle von Domenicali in Frage gestellt werden", glaubt Allievi. "Ohne Zweifel."

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