Krise trotz Boom: Der seltsame Status Quo von IndyCar

Ein riesiges Feld, gesunde Teams, interessierte Neueinsteiger - Eigentlich stimmt bei IndyCar alles, doch plötzlich wird klar, dass man in eine Krise schlafgewandelt ist

(Motorsport-Total.com) - 27 Vollzeitautos, spannende Rennen, die besten TV-Quoten seit dem Rücktritt von Danica Patrick und weitere interessierte Teams. IndyCar scheint in guter Verfassung zu sein. Doch hinter den Kulissen war die Stimmung zuletzt erstaunlich aufgeladen und IndyCar droht an seinem eigenen Konservatismus zugrunde zu gehen.

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Sportlich ist IndyCar gesund, doch hinter den Kulissen brodelt es Zoom

Zuerst die gute Nachricht: Auch 2024 werden bei jedem Rennen mindestens 27 Autos an den Start gehen, wie 2023. Seit der Wiedervereinigung von CART und IRL im Jahr 2008 waren noch nie so viele Autos am Start.

Und es könnte noch mehr werden, was IndyCar vor ein Luxusproblem stellen würde. Mit Pratt and Miller, seit einem Vierteljahrhundert unter dem Namen "Corvette Racing" in der Sportwagenszene als Entwickler der Corvette-Rennwagen bekannt, und Prema gibt es zwei hochkarätige Interessenten für einen Einstieg.

Zudem erhöht IndyCar-Eigentümer Penske Entertainment die Subventionen für die ersten 22 Teams der Meisterschaft, den sogenannten "Leaders Circle Contract". Dieser war 2023 gekürzt worden, um mehr Geld ins Marketing stecken zu können, soll nun aber wieder in etwa auf das alte Niveau angehoben werden.

Vier Horror-Wochen Ende 2023

Eigentlich sah alles rosig aus, bis im November und Dezember eine Bombe nach der anderen platzte und IndyCar jäh in eine Krise stürzte, die keinen wirklichen Auslöser hatte. Den Anfang machte Mitte November die Ankündigung, dass das offizielle IndyCar-Spiel nicht erscheinen würde.

Am 4. Dezember entlud sich der Frust über den technischen Stillstand bei IndyCar bei Patricio "Pato" O'Ward, der in nie dagewesener Deutlichkeit IndyCar öffentlich vorwarf, den Anschluss zu verlieren. Für seine Worte erhielt er viel Zuspruch.

Nur drei Tage später musste IndyCar einräumen, dass der Hybridantrieb nicht wie geplant Anfang 2024 eingeführt werden kann, sondern auf die Zeit nach dem Indianapolis 500 verschoben wird. Ob dieser Termin gehalten werden kann, bleibt abzuwarten.

Und dann zündete Honda die Bombe und drohte offen mit Ausstieg aus der IndyCar-Serie nach 2026. Und anders als zu erwarten, stellte sich Chevrolet nicht sofort hinter IndyCar, sondern sagte in bester PR-Manier mit vielen Worten gar nichts. Ein Bekenntnis, das für IndyCar in dieser kritischen Situation lebenswichtig gewesen wäre, blieb aus.


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Stattdessen lobte Jim Campbell, Leiter Performance und Motorsport bei General Motors, in einem bizarren Statement die Anzahl der Überholmanöver in der Saison 2023, die Direkteinspritzung der Motoren und betonte die Wichtigkeit von Social Media und multidimensionalen Geschichten. Immerhin sagte Campbell in dem Statement, dass man stolz sei, IndyCar zu betreiben.

Ein klares Ja zur Serie fehlte allerdings. Stattdessen nahm Honda das Heft in die Hand und schlug vor, einen Spec-Motor von Ilmor einzusetzen. Auch diesbezüglich redete Campbell um den heißen Brei herum und betonte lediglich, dass die Kosten ein stetiges Thema seien. Nicht unbedingt eine bahnbrechende Erkenntnis.

Nichts falsch, aber zu wenig richtig gemacht

IndyCar wurde unsanft aus einem Dornröschenschlaf geweckt. Anders als beim Split, als Tony George 1994 beim Indianapolis 500 mit einem Paukenschlag die Gründung einer eigenen Rennserie ankündigte, ist IndyCar in diese Krise quasi schlafwandelnd hineingetaumelt.

Das Problem ist vielmehr, was nicht passiert ist. Denn während seit 2017 in allen sportlichen Belangen zweifellos ein stetiger Aufschwung zu verzeichnen ist, stagniert IndyCar in allen anderen Belangen völlig. Chassis und Motoren stammen von 2012, das Aero-Kit von 2018, die letzte große Veränderung war der Aeroscreen 2020. Stillstand bedeutet Rückschritt, diese Weisheit ist im Motorsport bekannt.

Der Kalender ist nach wie vor komplett auf die USA beschränkt, obwohl IndyCar in Südamerika eine große Fangemeinde hat. Der Kontinent wurde seit zehn Jahren nicht mehr besucht. Auch Mexiko fehlt trotz des populären O'Ward.

Immerhin prüft IndyCar derzeit ein Rennen in Argentinien, das nicht zur Meisterschaft zählt. Treibende Kraft ist hier Agustin Canapino, der als mehrfacher argentinischer Tourenwagenmeister eine große Fangemeinde im Land mobilisiert. Doch auch hier ist das Wort "Verschiebung" schon mehr als einmal gefallen.


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Der Kurs der Risikoscheu, fast schon Ängstlichkeit, etwas auszuprobieren, fällt IndyCar nun auf die Füße. Denn das größte Problem ist, dass es IndyCar nicht gelungen ist, einen dritten Motorenhersteller an Land zu ziehen. Man war kurz davor, Alfa Romeo zu gewinnen, aber dann starb Sergio Marchionne 2018 und der Plan wurde nicht weiter verfolgt.

O'Ward: Ihr lebt wie vor 30 Jahren

IndyCar ist plötzlich in der Defensive, obwohl der Sport funktioniert. Es gab ein eilig einberufenes Abendessen mit der Penske-Führung, an dem mehrere Fahrer teilnahmen. Brav versprachen Graham Rahal und Alexander Rossi anschließend den Medien, dass bald alles wieder gut werden würde. Von "Vertrauen in den Prozess" war die Rede und davon, dass es bald viele gute Nachrichten geben werde.

Pato O'Ward war bei diesem Treffen nicht dabei. Der Mexikaner legte aber gleich nach und erneuerte seine Kritik an der Passivität der IndyCar-Führung. Indirekt deutete er an, dass die Führung die aktuellen Zeiten vielleicht nicht verstehe.

"Ich bin erst 24 Jahre alt, es gibt also Leute, die mehr Erfahrung haben als ich. Aber aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass Wachstum immer ein wenig an der Komfortzone rüttelt. Manche Leute mögen das, andere nicht. Aber wenn man sich nicht weiterentwickelt, wenn man sich nicht verändert, gibt es kein Wachstum. Veränderung ist der einzige Weg."

"Und wie die Dinge heute wachsen, ist ganz anders als vor 30 Jahren. Ich war damals noch nicht auf der Welt, aber ich habe viel von meinen Eltern und Großeltern mitbekommen."

Pato O'Ward macht aus seiner Unzufriedenheit mit der IndyCar-Führung kein Geheimnis

Pato O'Ward macht aus seiner Unzufriedenheit mit der IndyCar-Führung kein Geheimnis Zoom

Es reiche nicht mehr aus, ein gutes Produkt zu haben. "Aber man muss auch die Leute mitnehmen", sagt er. "Die Menschen müssen Teil des Ganzen sein, nicht nur Rennwagen, die im Kreis fahren.

"Der Rennsport ist unglaublich, aber es fehlt etwas. Und das müssen wir noch entschlüsseln. Wir haben viele Beispiele im Motorsport, wie Wachstum generiert wurde. Natürlich kann man das nicht 1:1 übertragen, weil jede Serie anders ist. Aber man sieht Wachstum." Das bekannteste Beispiel ist der Formel-1-Boom in den USA.

Die positiven Zahlen reichen dem McLaren-Piloten nicht: "Ich mache keine halben Sachen. Wir haben das Potenzial, um das Doppelte und Dreifache zu wachsen, nicht nur fünf oder zehn Prozent pro Jahr. Wir verkaufen uns unter Wert. Aber wenn man [solches Wachstum] erreichen will, muss man richtig Öl ins Feuer gießen."

Wie IndyCar auf die Kritik und die allgemeine Situation reagieren wird, bleibt abzuwarten. Chassis und Motoren gehen in ihre 13. Saison, der Aeroscreen ist 2024 bereits im fünften Jahr. Zumindest ein Problem wurde schnell gelöst: Nach dem gescheiterten Spiel wird IndyCar künftig mit aktuellem Material in der Rennsimulation iRacing vertreten sein.

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