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Nach Domenicali-Kontroverse: Ist die W-Serie gescheitert?

Eine Aussage von Stefano Domenicali über die F1-Chancen von Frauen sorgt für Diskussionen: Hat die W-Serie ihre Daseinsbereichtigung verloren?

(Motorsport-Total.com) - Formel-1-CEO Stefano Domenicali sorgte kürzlich für Schlagzeilen. Am Ende der Sommerpause der Formel 1 sprach er in einer Medienrunde offen über seine Vision des Weges, der notwendig ist, um eine Frau in die Königsklasse des Motorsports zu bringen. Und meinte in diesem Zusammenhang, dass es wahrscheinlich noch mindestens fünf Jahre dauern wird, bis eine Frau in der Formel 1 fahren wird.

Titel-Bild zur News: Beitske Visser, Jamie Chadwick, Belen Garcia, Nerea Marti

Bisher hat die W-Serie noch keine Frau in die Formel 1 gebracht Zoom

Wörtlich sagt Domenicali: "Realistisch betrachtet gehe ich nicht davon aus, dass wir in den nächsten fünf Jahren ein Mädchen in der Formel 1 sehen werden. Es sei denn, es schlägt wie ein Meteorit auf der Erde ein."

Diese Aussage brachte dem Formel-1-Boss eine Menge Kritik ein, wenig überraschend vor allem von weiblicher Seite. Allerdings ging in der Diskussion über diesen Teil seiner Aussage der Kontext von Domenicalis Ausführungen über die nach wie vor bestehenden Schwierigkeiten für weibliche Formel-1-Hoffnungen ein wenig verloren.

Superlizenzpunkte sind das formale Hindernis

Schauen wir zunächst einmal auf die harten Fakten, konkret das Superlizenz-Punktesystem der Formel 1. Der Fall Colton Herta zeigt, dass Formel 1 und Automobil-Weltverband FIA hier nicht zu Ausnahmen bereit sind. In Anbetracht der Tatsache, dass es weder in der Formel 2 noch in der Formel 3 oder anderen Top-Serien Spitzenfahrerinnen gibt, ist Domenicalis Zeitfenster allein aus formalen Gründen alles andere als Abwegig. Es ist schlicht keine Fahrerin in Sicht, die nährer Zukunft realistisch gesehen die notwendigen 40 Punkte einfahren kann.

Der Grund, warum Domenicalis Kommentare so viel Aufsehen erregt haben, liegt in der Tatsache begründet, dass sie im Gegensatz zu der unglaublich positiven Dynamik stehen, die in den letzten Jahren für Frauen im Motorsport entstanden ist. Insbesondere seit sich die W-Serie etabliert hat.

Stefano Domenicali

Stefano Domenicali sieht kurzfristig keine Frau in der Formel 1 Zoom

Drehen wir die Zeit ein paar Jahre zurück: Bevor die reine Frauenrennserie Ende 2018 geschaffen wurde, gab es einen deutlichen Mangel an weiblichen Rennfahrern und Repräsentanten im Sport - wobei diejenigen in Führungspositionen eher die Ausnahme als die Regel waren. Heute sind in den Fahrerlagern auf der ganzen Welt, einschließlich der Formel 1, viel mehr Frauen vertreten.

W-Serie-CEO zeigt Verständnis für Domenicalis Aussagen

Auch die W-Serie selbst hat sich als eine Kategorie etabliert, die sowohl von den Fans zu Hause als auch von der Branche beachtet wird. Die Gründerin und Geschäftsführerin der W-Serie, Catherine Bond-Muir, empfindet den Wirbel um Domenicalis Äußerungen jedoch nicht Affront gegenüber Rennfahrerinnen, sondern zeigt vielmehr Verständnis dafür.

Denn trotz der hohen Ziele, die sie für ihre Serie hat, und trotz ihrer eigenen Hoffnungen, die sie in W-Serie-Star Jamie Chadwick setzt, ist sich Bond-Muir der Tatsache bewusst, dass es eine langwierige Aufgabe ist, eine konkurrenzfähige Frau in die Formel 1 zu bringen.

"Ich glaube nicht, dass Stefano und ich jemals unterschiedliche Ansichten darüber hatten, wie sich Frauen weiterentwickeln", sagt sie gegenüber der englischsprachigen Ausgabe von 'Motorsport.com'.

W-Serie-CEO Catherine Bond-Muir

Catherine Bond-Muir, Gründerin und CEO der W-Serie Zoom

"Man muss sieben- und achtjährige Fahrerinnen haben, die jetzt anfangen. Sie müssen unter den gleichen Voraussetzungen beginnen, die gleiche Menge an Geld haben und genau so viel Zeit im Kart und in den Autos verbringen."

"Aber ich werde Jamie noch nicht abschreiben. Es steckt so viel Schwung hinter ihr. Und ich glaube wirklich, dass der Frauensport ein gutes Momentum hat. Ich meine, ich bin unglaublich optimistisch, wie die W Series wachsen und das ausweiten wird", so Bond-Muir weiter.

Hatte Domenicali Unrecht, als er von einem Zeitrahmen von fünf Jahren sprach? Realistisch betrachtet ist Chadwick, bisher unbestreitbar die qualifizierteste Hoffnungsträgerin, immer noch zwei Schritte von einer Chance auf die Formel 1 entfernt.

Jamie Chadwick könnte die Zeit davonlaufen

Sie ist auf dem besten Weg, ihren dritten Titel in der W-Serie zu gewinnen. Auf dem Weg in die Formel 1 wird ihr das formell aber nicht weiterhelfen, denn die Regeln der FIA besagem, dass man für eine Titelverteidigung in der Serie keine zusätzlichen Superlizenzpunkte bekommt.

Derzeit hat sie 25 Punkte - 15 Punkte für den Sieg in der W-Serie 2021 und zehn Punkte für den vierten Platz in der asiatischen Formel 3 2019/20. Damit fehlen ihr noch 15 Punkte für den "Formel-1-Führerschein". (Nebenbei bemerkt, der Internationale Sportkodex der FIA spricht bei der Beantragung einer Superlizenz nur von "er"...)

Jamie Chadwick

Selbst W-Serie-Dominatorin Jamie Chadwick fällt der Aufstieg schwer Zoom

Viel Zeit, die notwendigen 15 Punkte zu holen, bleibt ihr nicht, denn für die Superlizenz werden nur die Ergebnisse aus den vergangenen drei Saisons gewertet. Wenn es ihr in der Saison 2023 nicht gelingt, droht die Angelegenheit viel langwierigerer zu werden. Um ihre derzeitigen 25 Punkte in die magischen 40 zu verwandeln, müsste sie im nächsten Jahr entweder die Indy Lights gewinnen oder Vierte in der Formel 3 werden.

Das Problem muss an der Wurzel angefasst werden

Sollte sie dieses Ziel jedoch 2023 verfehlen, würde sie zur Saison 2024 die zehn Punkte aus der asiatischen Fromel 3 verlieren - und damit möglicherweise auf lange Sicht noch mehr Punkte benötigen. Abgesehen von Chadwick ist die realistischste weibliche Kandidatin eine, die erst noch die Formel 3 und die Formel 2 durchlaufen und möglicherweise eine oder zwei Saisons in der Fromel 1 testen muss. Hier scheint ein Zeitrahmen von fünf Jahren am realistischsten.

Im Getöße über Domenicalis 5-Jahres-Prespektive gingen einige seiner beachtenswerten Aussagen ein wenig unter. "Wir versuchen zu verstehen, wie wir die richtige Pyramide vorbereiten können, damit auch die Mädchen im richtigen Alter mit dem richtigen Auto in die Pyramide kommen", sagte der Formel-1-Boss. "Das ist der entscheidende Punkt."

"Wir sind sehr glücklich über die Zusammenarbeit mit der [W-Serie], aber wir glauben, dass wir den Mädchen die Chance geben müssen, auf demselben Niveau wie die Jungs zu fahren. Sie müssen mehr oder weniger im selben Alter sein, in dem sie auf der Rennstrecke auf dem Niveau der Formel 3 und der Formel 2 kämpfen können."

W-Serie im TV erfolgreicher als Formel 2 und Formel 3

"Wir arbeiten also daran, um zu sehen, was wir tun können, um das System zu verbessern, und Sie werden bald einige Maßnahmen sehen", versprach Domenicali.

Nach ihrer Gründung wurde die W-Serie, auch von Rennfahrerinnen, kritisiert. Eine reine Frauen-Rennsiere würde Pilotinnen vom direkten Wettbewerb mit Männern ausgrenzen. Trotz der Kritik hat sich die W-Serie aber etabliert und fährt mittlerweile regelmäßig im Rahmenprogramm der Formel 1. Laut Bond-Muir ist das vor allem ein Verdienst des früheren Formel-1-CEO Chase Carey, der die W-Serie von der DTM zur Formel 1 holte.

Die TV-Zahlen belegen den Erfolg der W-Serie. Die Live-Zuschauerzahlen sind in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr um 13 Prozent gestiegen. In Großbritannien ist sie die meistgesehene Motorsport-Serie außerhalb der Formel 1, noch vor Formel 2 und Formel 3. Außerdem ist sie die meistgesehene weibliche Sportart bei Sky im Vereinigten Königreich.

Kurzfristiger Aufstieg einer Frau war wenig realistisch

Doch trotz aller Erfolge der W-Serie bei den Zuschauern hat die Serie ihr Hauptziel bisher noch nicht erfüllt: Eine Frau in die Formel 1 bringen. Vielmehr ist es bisher noch keiner W-Serie-Fahrerin gelungen, einen Stammplatz in der Formel 3 oder Formel 2 zu ergattern und so der Königsklasse - auch mit Blick auf die Superlizenzpunkte - einen Schritt näher zu kommen.

Während einige Beobachter die W-Serie damit bereits als gescheitert ansehen, ist sich Bond-Muir darüber im Klaren, dass es nicht realistisch gewesen wäre zu erwarten, dass die Serie dieses Ziel in so kurzer Zeit erreicht.

"Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut", sagt sie. "Als ich 2016 mit der Entwicklung der Idee begann, gab es vielleicht eine Frau, die die ganze Saison über in einer [hochkarätigen] Formel-Meisterschaft fuhr. In Indy oder anderen Rennserien gab es gelegentlich eine Frau. Ich glaube nicht, dass es realistisch ist zu sagen, dass wir von 2016 bis 2022 eine Frau [in die Formel 1] hätten bringen sollen."

Was wäre, wenn Chadwick wie Norris oder Russell gefördert worden wäre?

"Dies ist unsere dritte Saison: Die Probleme und die Gründe, warum es nicht mehr Fahrerinnen gibt, sind komplex, aber auch tief verwurzelt und liegen zum Teil lange zurück. Wir brauchen siebenjährige Mädchen, die sagen: Ich will Kart fahren wie die Jungs, und die dann auf Augenhöhe mit den Jungs anfangen. Es gibt also diese beiden Wege [sowohl lang- als auch kurzfristig]."

"Natürlich wollen wir, dass eine unserer Fahrerinnen so schnell wie möglich in die Formel 1 kommt, aber ich denke, wir müssen realistisch sein", so Bond-Muir.

Gerade die Hürden, die die Entstehung der W-Serie begünstigt haben - wie fehlende Möglichkeiten und Investitionen in junge Mädchen, die mit dem Sport beginnen - sind nicht so einfach zu beseitigen. Bond-Muir fragt sich zum Beispiel, wie weit Chadwick schon gekommen wäre, wenn sie die gleiche Unterstützung wie Lando Norris und George Russell gehabt hätte.


NDR-Doukmentation: Frauen für die Formel 1

Lenkkräfte in der Formel 2 viel höher als in der Formel 1

"Niemand kennt die Antwort, aber ich vermute, dass sie hundertmal so viele Stunden in einem Rennwagen oder bei Tests verbracht haben wie Jamie", sagte sie. "Und genau darin liegt der Unterschied."

"Ich denke, Jamie ist eine fantastisch begabte Fahrerin, aber die Frage ist, ob sie zu spät und mit zu wenig angefangen hat. Was wäre, wenn sie mit ihrem Talent den gleichen Karriereweg wie Lando und George gehabt hätte? Keiner von uns kennt die Antwort darauf, aber man kann sich durchaus fragen, ob sie jetzt mit ihnen konkurrieren würde?"

Auch der physische Aspekt des Rennsports - vor allem in Bezug auf die Servolenkung in einigen Kategorien - darf nicht außer Acht gelassen werden. "Ich weiß, dass in letzter Zeit einige Untersuchungen über die Lenkkräfte durchgeführt wurden, und die Lenkkräfte in einem Formel-2-Auto sind um ein Vielfaches höher als in einem Formel-1-Auto", fügt Bond-Muir hinzu.

"Die Frage ist also: Hat eine Frau dadurch einen Nachteil? Wir haben die Daten nicht, und auf die müssen wir hören. Aber es ist eine gute Sache, dass die FIA anfängt, diesen Bereich zu erforschen."

Es eröffnen sich jedoch immer mehr Möglichkeiten für Frauen. In der Formel 3 wurde kürzlich ein weiterer Test für vier Frauen durchgeführt, und Chadwick absolvierte einen Test in einem Indy-Lights-Renner von Andretti.

Das mögen im Moment nur kleine Schritte sein, aber in der W-Serie war man sich schon immer darüer im Klaren, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, die Einstellung zu ändern und dafür zu sorgen, dass die nächste Generation von Rennfahrerinnen bessere Chancen hat.

Weg für Frauen war "einfach zugewachsen"

Letztendlich sieht Bond-Muir den Erfolg der W-Serie darin, dass Äußerungen wie die von Domenicali, der einen Zeitrahmen von fünf Jahren für den Aufstieg von Frauen in die Formel 1 nennt, nun als etwas angesehen werden, das gegen den Strich geht.

Noch vor einigen Jahren hätte man manche Leute für verrückt erklärt, wenn sie auch nur einen Fünfjahreszeitraum für möglich gehalten hätten. Aber jetzt ist diese Chance für eine Frau klarer zu erkennen. Es müssen nur die richtigen Umstände zusammenkommen, die richtigen weiblichen Talente ausgewählt und früh genug in ihrer Karriere unterstützt werden, damit der Weg an die Spitze klar ist.

"Historisch gesehen ist es 42 Jahre her, seit Frauen in der Formel 1 gefahren sind. Deshalb ging kein einziges [Sponsoren-]Geld an die Fahrerinnen", sagt Bond-Muir. "Ich würde es als einen Weg beschreiben, der einfach zugewachsen ist, weil niemand sah, dass er für Frauen offen sein könnte."

"Ich denke, das Wichtigste, was die W-Serie bewirkt hat, ist, dass die Leute erkannt haben, dass Frauen in Formelautos gut fahren können. Und ich denke, wir brauchen einfach mehr Fahrerinnen. Dann können sie bessere Rennen fahren und sich weiter verbessern und schneller werden."

Die Formel-1-Chance für eine Frau wird nicht morgen kommen, aber wo sie bis vor kurzem noch völlig blockiert schien, öffnet sich jetzt zumindest der Weg.