Wie die Formel 1 ins Fernsehen kommt

Wo die TV-Bilder der Formel 1 produziert werden und mit welchem Aufwand, wer den Boxenfunk überwacht und wer die Hoheit über Wiederholungen und Einspieler hat

(Motorsport-Total.com) - Etwa sechs Sekunden vergehen zwischen dem Moment, in dem die TV-Kameras der Formel 1 Max Verstappen beim Überqueren der Ziellinie filmen, und der Ausstrahlung dieser TV-Aufnahmen auf Bildschirmen in aller Welt. Diese Übertragungsleistung ist das Ergebnis eines zehntägigen Prozesses.

Titel-Bild zur News: Formel-1-TV-Zentrale in Biggin Hill in England

Formel-1-TV-Zentrale in Biggin Hill in England Zoom

Denn lange bevor die Fahrer und Teams in den sozialen Medien die Nachricht "Es ist Rennwoche" verbreiten, trifft ein Bautrupp an einer Grand-Prix-Strecke ein, um das Zelt des "Event Technical Centre" zu errichten.

Fünf Tage werden benötigt, um diese 375 Quadratmeter große, temporäre Medienzentrale aufzubauen. Wenn sie fertig ist, kann sie 500 Terabyte an Daten pro Rennen übertragen - 50 Mal mehr als das Hubble-Weltraumteleskop in einem Jahr!

Neun Tage vor dem Rennen werden rund 58 Kilometer Kabel an der Rennstrecke verlegt und 38 Antennen installiert, um bis zu 120 Videos gleichzeitig von der Rennstrecke zum Fernsehen zu übertragen. Vier Tage später werden 28 ultrahochauflösende Kameras ausgepackt, um sie in den Banden und an den Randsteinen einzubauen. Außerdem kommen 147 Mikrofone und 30 Zeitmessschleifen zum Einsatz.

Das Ergebnis ist das "F1 World Feed", das sogenannte Weltsignal: jeder Blickwinkel auf jeden größeren Zwischenfall, jeder Schaltvorgang mit dem dazu passenden Motorensound und eine Fülle von Zeitmessdaten und grafischen Einblendungen.

Ein neues Leben für Biggin Hill

Angesichts der umfangreichen Arbeiten, die erforderlich sind, um die Anforderungen von 74 Fernsehsendern in aller Welt zu erfüllen, entsendet die Formel 1 zu jedem Rennen ein 130-köpfiges TV-Produktionsteam.

Dieses Team erhält Unterstützung von 170 Kollegen, die im renovierten Medien- und Technologiezentrum in Biggin Hill in Großbritannien untergebracht sind. Von diesem berühmten Standort aus bedient die Formel 1 ein weltweites Publikum von 1,5 Milliarden Menschen.

Das Herzstück in Biggin Hill ist ein Raum, der mit 415 Multiview-Monitoren ausgestattet ist, die Informationen liefern, für die sonst Tausende Bildschirme notwendig wären. Dieser Raum wurde für die Saison 2023 neu gebaut. Die Bauarbeiten hatten am Montag nach dem Finale in Abu Dhabi um 6 Uhr früh begonnen, damit der Raum zum Auftaktrennen in Bahrain fertiggestellt sein würde.

Formel-1-TV-Zentrale in Biggin Hill in England

Formel-1-TV-Zentrale in Biggin Hill in England Zoom

Die Mitarbeiter in diesem Raum müssen während eines Rennwochenendes zwischen bis zu 60 Stimmen unterscheiden, die gleichzeitig in ihre Headsets sprechen, um sicherzustellen, dass die Produktion der Shows vor und nach den einzelnen Einheiten sowie die Live-Übertragungen so reibungslos wie möglich ablaufen.

Und jeder einzelne Mitarbeiter kennt die sanfte Stimme von Dean Locke, der seit 1997 dabei ist und in den zurückliegenden fünf Jahren als Leiter Broadcast und Medien für die Formel 1 gearbeitet hat.

Die Leiter der Hauptsendungen sind ähnlich erfahren. So können sie gut einschätzen, wann sie auf eine dezentere Totale umschalten sollten und wann es angebracht ist, Wiederholungen einzubauen, sobald zum Beispiel alle Beteiligten nach dem Feuerunfall von Romain Grosjean oder dem Überschlag von Guanyu Zhou für unversehrt erklärt werden.

Die Mitarbeiter in Biggin Hill arbeiten mit einer Verzögerung von 180 bis 250 Millisekunden gegenüber den Aufnahmen der einzelnen Kameraleute an jeder Kurve. Für die Fans, die auf die Bildschirme an der Strecke schauen, bedeutet dies eine Latenz von 1,5 Sekunden. Für diejenigen, die zu Hause Sky Sports F1 einschalten, liegen die Bilder sechs oder sieben Sekunden hinter dem realen Geschehen zurück.

Wie die TV-Grafiken der Formel 1 entstehen

Locke vergleicht das Einfangen des Geschehens im gesamten Formel-1-Feld mit der Überwachung von "20 Bällen auf einem wirklich großen Spielfeld, die alle ihr eigenes Ding machen - im Gegensatz zum Fußball, wo es nur ein Ball auf einem kleinen Spielfeld ist".

Wenn ein bestimmter Punkt angewählt wird, kann das Weltbild einige der 15 bis 20 grafischen Overlays einblenden, beispielsweise die Ganganzeige, den Drehzahlmesser und die Geschwindigkeitsanzeigen, die über den Halo-Cockpitschutz projiziert werden. Diese werden durch die 60 Datenpunkte unterstützt, die pro Sekunde von der Strecke nach Biggin Hill übertragen werden.

Diese Fülle an Informationen bildet auch die Grundlage für die verschlüsselte Telemetrie, die jedem Team zur Verfügung gestellt wird, da es für jedes Team zu ineffizient wäre, eigene Datenlogger zu installieren. Die Leistungsdaten der Fahrzeuge, die der TV-Übertragung zugrunde liegen, stehen übrigens auch der FIA zur Verfügung.

Formel-1-TV-Zentrale in Biggin Hill in England

Formel-1-TV-Zentrale in Biggin Hill in England Zoom

Während sich die Konkurrenten und der Dachverband auf die Fülle der Daten verlassen, müssen die Mitarbeiter des Remote Technology Centre diese Daten etwas filtern, um den unterschiedlichen Altersgruppen und dem unterschiedlichen Kenntnisstand der Formel 1 gerecht zu werden, da sie sonst Gefahr laufen, einige Zuschauer zu verprellen.

Diese Flexibilität wird auch dadurch unterstrichen, dass das TV-Weltsignal für jede Region angepasst wird. Maßgeschneiderte Werbung kann ergänzt werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass der Sponsor, der digital auf eine Rasenfläche projiziert wird, in England anders aussehen kann als für einen Zuschauer aus dem Nahen Osten.

Die Formel 1 kann auf diese Weise mehr kommerzielle Partner bedienen und sich obendrein den Transport zusätzlicher Werbebanden zu jeder Veranstaltung sparen.

Wie der Boxenfunk inszeniert wird

Die Bilder erzählen nur einen Teil der Geschichte: Neben dem Hauptraum in Biggin Hill befindet sich der Raum für den Boxenfunk. Hier müssen die Mitarbeiter auch mit richtig vielen Gesprächen gleichzeitig fertig werden, denn sie fangen sämtliche Funksprüche zwischen den Fahrern und ihren Renningenieuren ab.

Die Übertragung ist völlig ungefiltert - mit allen Schimpfwörtern und Flüchen. Bei der Auswahl der zu übertragenden Clips transkribiert das Team manuell (wenn es die Kommentatoren nicht unterbrechen will) und markiert etwaige anstößige Stellen mit Sternchen.

Es gibt Ausnahmen, beispielsweise das Abwarten auf ein Abflauen der Action nach der ersten Runde oder man lässt eine eingespielte Wiederholung zu Ende laufen. Aber die allgemeine Regel lautet, dass die Funksprüche "die Wahrheit sagen" und innerhalb einer Runde gesendet werden müssen.

Formel-1-TV-Zentrale in Biggin Hill in England

Formel-1-TV-Zentrale in Biggin Hill in England Zoom

Dieses Vorgehen schützt Biggin Hill vor Anschuldigungen, bestimmte Mitteilungen könnten aus dem Zusammenhang gerissen worden sein, um ein bestimmtes Narrativ zu verbreiten. Den Mitarbeitern im Formel-1-TV-Zentrum aber liegt es fern, falsche Fakten zu senden.

Das schließt jedoch ein Eingreifen in bestimmten Momenten nicht aus: Wenn sich ein Fahrer zu sehr beschwert und flucht, sodass er sich wiederholt und weinerlich wird, oder wenn das, was er gesagt hat, im Falle einer Ausstrahlung politische Konsequenzen nach sich ziehen könnte, wird der betreffende Funkspruch nicht gesendet.

Wie die Onboard-Aufnahmen ins Fernsehen gelangen

Im hinteren Teil der Anlagen in Biggin Hill befindet sich die Werkstatt, in der die Bordkameras entwickelt und gewartet werden. In den 20 Fahrzeugen sind insgesamt 90 Kameras installiert, von denen bis zu 24 gleichzeitig aktiviert werden können, um ein Kopf-an-Kopf-Rennen perfekt zu übertragen.

Das Videomaterial wird kodiert und mit einem Zeitstempel versehen, sodass es perfekt mit dem entsprechenden Audiomaterial synchronisiert werden kann, das von zwei Richtmikrofonen aufgenommen wird. Eines davon ist außen neben dem Auspuff angebracht, um die vergleichsweise leisen 1,6-Liter-Hybrid-V6-Motoren zu verstärken.

Jedes Fahrzeug kann mit bis zu fünf Kameras ausgestattet werden, die zusammen 1,7 kg wiegen. Obwohl dieses Gewicht für alle Fahrzeuge gleich ist, zögern die Teams, noch mehr Kameras zuzulassen, da jede zusätzliche Ausrüstung die Gewichtsverteilung beeinträchtigen und sich auf den Luftstrom auswirken könnte.

Zu den bevorzugten Positionen gehörten eine nach vorn und eine nach hinten gerichtete Kamera am Überrollbügel und eine am Halo, die auf den Helm des Fahrers zurückblickt - in einer Rennserie, in der die Hauptdarsteller größtenteils in ihrem "Nest" aus Kohlefaser versteckt sind.

Die Kreiselkamera am Ferrari von Carlos Sainz

Die Kreiselkamera am Ferrari von Carlos Sainz Zoom

Eine Kamera an der Seite der Frontpartie oder seitlich am Chassis sorgt für ein größeres Geschwindigkeitsgefühl. Einsatz- und Ersatzauto des Safety-Cars sind ebenfalls mit Kameras versehen.

Wie schon seit der Erprobung der ersten Onboards im Jahr 1989 wird diese Technologie heute größtenteils intern entwickelt. Die einzigartigen Anforderungen der Formel 1 bedeuten, dass sich die Ingenieure nicht auf Komponenten von der Stange verlassen können.

Die Meisterschaft ist aber bestrebt, mehr externe Technologie zu übernehmen, und inzwischen gibt es einen engen Austausch und einen umfangreichen Technologietransfer mit der MotoGP und NASCAR.

Die Zukunft der Formel-1-Übertragungen

In den vier Rennen vor der jüngsten Sommerpause wurden drei neue Kamera-Feeds (einschließlich einer überarbeiteten Pedalkamera) erprobt. Die Übertragung wird ständig weiterentwickelt. Und für die kurz- bis mittelfristige Zukunft der Formel-1-Produktion scheint es, als ob dieser kontinuierliche evolutionäre - und nicht revolutionäre - Ansatz an der Tagesordnung bleiben wird.

Zum einen hat die Formel 1 keine unmittelbaren Pläne, auf eine 8k-Auflösung umzusteigen. Die Rennserie hat erst kürzlich auf 4k aufgerüstet, und der Ausgleich für die zusätzlichen Daten, die für das schärfere Bild benötigt werden, ist eine geringere Latenzzeit.

Unabhängig von der Aufnahmequalität ist geplant, dass die Bediener menschlich bleiben. Trotz der Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz ist Locke der festen Überzeugung, dass seine echten Kollegen die besseren Aufnahmen machen können und ein besseres Urteilsvermögen haben, wenn es darum geht, instinktiv auf dramatische Situationen in der ersten Runde und auf Unfälle zu reagieren. Außerdem ist es einfacher, menschliche Kollegen zu bitten, einen Lappen herauszuholen und eine verschmutzte Linse zu reinigen.

Die Formel-1-TV-Zentrale in Biggin Hill in England

Die Formel-1-TV-Zentrale in Biggin Hill in England Zoom

Anders als in der Champions-League oder in Wimbledon, wo man sich auf wechselnde freie Mitarbeiter stützt, sind in der Formel 1 festangestellte Kameraleute tätig, die sich für 18 Rennen pro Saison verpflichten.

Es besteht auch Skepsis darüber, wie intensiv Drohnen in das Set-up integriert werden können. Die Formel 1 ist zu schnell für diese Maschinen, deren Geschwindigkeit oft auf 120 km/h begrenzt ist. Außerdem ist die Lebensdauer der Akkus begrenzt und es ist kaum praktikabel, jedem Zuschauer auf den Tribünen, über die eine Drohne hinwegfliegen würde, eine Sicherheitseinweisung zu geben. Noch dazu ist die Formel 1 in Sachen Anzahl der Funkfrequenzen auf engstem Raum eine bereits sehr ausgelastete Sportart.

Stattdessen werden Drohnen vorerst für die saudi-arabischen Lichtshows nach dem Rennen reserviert sein, bevor sie nach und nach in das Filmen von Fahrerparaden, Formationsrunden und vielleicht auch in das eine oder andere geschwindigkeitsbegrenzte Techtelmechtel in der Boxengasse integriert werden.

Premiere der besonderen Art: Las Vegas

Schon bald muss sich die Formel 1 indes mit einem völlig neuen Rennen auseinandersetzen: dem Grand Prix von Las Vegas. Die Rennserie war in den 1980er-Jahren schon zweimal in "Sin City" zu Gast gewesen. Dieses Mal gibt es viel mehr neonbeleuchtetes Material, mit dem man arbeiten kann, da die Kulisse nicht ein trister Parkplatz ist.

In Vorbereitung auf die Veranstaltung hat das Produktionsteam mehrere Begehungen durchgeführt, um herauszufinden, wie sich die fertiggestellten Boxengebäude in die Aufnahmen einfügen und wo die besten Kamerastellplätze liegen.

Da es sich um einen Straßenkurs handelt, müssen bei der Planung der Verkabelung auch 13 Streckenöffnungen für den öffentlichen Zugang berücksichtigt werden. Da Las Vegas ganz anders aufgebaut ist als zum Beispiel der Red-Bull-Ring, der in einer natürlichen Senke liegt und durch Anliegerstraßen verbunden ist, haben die Funkfrequenzen in der Glücksspiel-Metropole eine viel kürzere Sichtlinie, sodass mehr Ausrüstung benötigt wird, um die gleiche Leistung zu erzielen.

Außerdem gibt es keine weniger gut besuchten Nebenrennen, bei denen man die richtigen Winkel testen und effektiv proben kann, bevor das millionenschwere Hauptereignis beginnt.

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