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Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Andrea Stella
Die "Papaya-Rules" und warum sie so komplex sind, und warum Andrea Stellas Problemstellung viel kniffliger ist als die, die einst Flavio Briatore lösen musste
Liebe Leserinnen und Leser,
© Motorsport Images
Luxusproblem: Andrea Stella hat zwei Nummer-1-Pferde in seinem Stall Zoom
mein Kollege Kevin Hermann hat am Sonntagabend noch die Zahlen für eine Grafik errechnet. Titel: "Die Fahrer-WM 2024 ohne Fehler von McLaren". Er wird auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de am Montagabend selbst erklären, was genau dahintersteckt (Jetzt kostenlos Kanal abonnieren und das Video nicht verpassen!). Aber die Zahlen, die auf seiner Grafik stehen, sind schon schwindelerregend.
Demnach würde Lando Norris, der in Baku ausnahmsweise nicht im Rennen, sondern im Qualifying einen Fehler gemacht hat, in einer alternativen Realität bereits mit 33 Punkten Vorsprung auf Max Verstappen führen, mit 335 statt real 254 Punkten.
Spannend auch: Für Piastri errechnet Kevin lediglich 226 alternative statt 222 realer Punkte. Der hat also sein theoretisches Potenzial besser ausgeschöpft, könnte man daraus schließen.
Rechenspiele, die McLaren-Teamchef Andrea Stella schlecht schlafen lassen. Rein metaphorisch freilich, denn Stella, da bin ich mir sicher, ist nicht der Typ, der schlecht schläft. Und es gibt ja auch genug Gründe, auf dem Langstreckenflug aus Aserbaidschan zufrieden wie ein Baby die Augen zuzumachen.
Zum Beispiel, dass McLaren am Sonntag erstmals seit Melbourne 2014 wieder die Führung in der Konstrukteurs-WM übernommen hat, mit 476 Punkten, vor Red Bull mit 456 und Ferrari mit 425.
McLaren: Das Bekenntnis zu Norris
Das 17. Rennwochenende der Saison 2024 begann am Donnerstag mit der Ansage, McLaren werde sich jetzt im Titelkampf hinter Norris stellen.
Die bis dahin nicht ausgesprochene Stallorder war im Sommer der große Elefant im Raum. Nach Piastris Sieg am Hungaroring waren es Kommentatoren wie ich, die angeregt haben, man möge doch mal drüber nachdenken, sich voll hinter Norris zu stellen, wenn man dieses Jahr schon die Fahrer-WM gewinnen möchte. Jetzt hat sich Stella also tatsächlich dazu bekannt.
Aber oft ist es halt so im Leben: Wie man's macht, macht man's falsch.
Denn kaum committet sich McLaren zu Norris, fährt Piastri den bisher wahrscheinlich besten Grand Prix seines Lebens, überholt Charles Leclerc ganz im Stile seines australischen Landsmanns Daniel Ricciardo (als der noch in seinen besten Tagen war und kein ausrangiertes Modell auf Abschiedstournee) - und behält dann unter Druck die Nerven, bis zur Zielflagge. Die Performance eines Champions.
Wie Horner in Richtung McLaren stichelt
Am Sonntagabend stichelte Christian Horner, sinngemäß: McLaren bezahle Norris fünfmal so viel wie Piastri, und jetzt bereitet Stella schlaflose Nächte, dass "der Falsche" die Rennen gewinnt.
Probleme, die man bei Red Bull nicht hat. Dort ist klar, wie die Rollen verteilt sind. Perez' wichtigste Aufgabe ist es, im WM-Kampf zu helfen. Nicht nur bei den Konstrukteuren, sondern auch bei den Fahrern, als Verstappens "Wingman".
Ein anderes Rechenspiel zeigt: Seit dem Grand Prix von Österreich am 30. Juni hat Piastri sagenhafte 135 Punkte gesammelt. Also signifikant mehr als Norris (104) und Verstappen (94).
Ist er eigentlich derjenige, auf den McLaren setzen müsste?
Die Schwierigkeit kommt daher, dass Stella für die besten Chancen in der Fahrer-WM eigentlich eine klare Nummer 1 definieren müsste, er diese aber in der Realität nicht hat. Denn Norris und Piastri sind keine Nummer 1 und Nummer 2, sondern zwei Nummer-1-Fahrer.
Was bei historischen Beispielen ganz anders war
Das ist anders als in historischen Nummer-1-Konstellationen, die funktioniert haben. In den frühen 1990er-Jahren zeichnete sich relativ schnell ab, dass Gerhard Berger Ayrton Senna doch nicht ganz das Wasser reichen kann, also wurde der Österreicher von McLaren konsequent in den Dienst des Brasilianers gestellt.
Bei Benetton war Michael Schumacher spätestens ab 1994 die unbestrittene Nummer 1, die auch besseres Material bekam als der jeweilige Teamkollege. Das setzte sich später bei Ferrari, mit Eddie Irvine und Rubens Barrichello, so fort.
Und zuletzt war Verstappen bei Red Bull so eindeutig der schnellere Fahrer, dass Perez ganz natürlich in die Rolle der Nummer 2 gedrängt wurde. Eine Rolle, die er nicht immer, aber dann, wenn's wichtig war, ganz herausragend erfüllt hat. Man denke nur an Abu Dhabi 2021 ("Checo is a legend!").
Also warum klappt das bei McLaren nicht?
Die Antwort ist denke ich einfach: Weil es bei McLaren kein natürliches Nummer-1/2-Gefälle gibt. Anders als bei Senna-Berger, anders als bei Schumacher-Verstappen, Schumacher-Herbert, Schumacher-Irvine, Schumacher-Barrichello und anders als bei allen, die sich in den vergangenen Jahren an Verstappen jun. die Zähne ausgebissen haben.
Wenn Red Bull Perez bittet, dies und jenes für Verstappen zu tun, dann muss der in der Regel nicht auf seine eigenen WM-Chancen oder Siege verzichten. Denn jedem ist klar: Unter normalen Umständen ist Verstappen ohnehin der, der das teaminterne Duell gewinnt. Eine Position, die ihm nicht durch Teamorder geschenkt wurde, sondern die er sich durch seinen herausragenden Speed erarbeitet hat.
"Norris ist nicht so gut wie Schumacher ..."
Ganz ähnlich war das früher bei Senna oder Schumacher. Aber Norris ist nicht so gut wie Schumacher, und Piastri nicht so schlecht wie Irvine, und so ergibt sich die denkbar knifflige Konstellation, dass jetzt der Fahrer rein rechnerisch die besseren WM-Chancen hat, dessen Formkurve aber seit Ende Juni die schlechtere ist.
McLaren wird manchmal dafür kritisiert, dass Stella sich offen lässt, die Präferenz für Norris von Fall zu Fall zu bewerten und nach jedem Rennwochenende neu zu evaluieren. Das sei kein klares Commitment, höre ich manchmal.
Aber es ist eine Philosophie, die in dieser sehr speziellen und komplexen Situation zumindest in Baku funktioniert hat. Dort war Piastri der Fahrer, der gewinnen konnte, und nicht Norris. Und so ergab sich zwischendurch mal die Situation, dass Norris Piastri helfen konnte, als es darum ging, Perez in der heiklen Phase der Boxenstopps ein bisschen einzubremsen.
Norris wurde gebeten, sein Bestes zu tun, Perez ein bisschen im Weg zu stehen - solange ihm das selbst nicht schade. Ein Zusatz, der für das Funktionieren der "Papaya-Rules" ganz wichtig ist.
Denn: Briatore war scheißegal, wie es um die Moral von Jos Verstappen oder Johnny Herbert bestellt war, und auch Helmut Marko kratzt es denke ich wenig, wenn Perez wieder mal meint, er sei vom Team schlechter gestellt worden. Weil keiner von den genannten Fahrern je Weltmeister werden wird. So alternativ kann eine Realität gar nicht sein.
Das ist bei Stella und McLaren anders. Die brauchen wahrscheinlich in Zukunft beide noch: Norris und Piastri. Und genau das macht die leidige Nummer-1-Frage so schwierig.
Nicht zum ersten Mal übrigens, bei McLaren. 1988/89 gab es schon mal eine ähnliche Konstellation, als Alain Prost der Platzhirsch war und Ayrton Senna das "new Kid on the Block". Wie die Geschichte ausging, ist bekannt: nicht gut.
Wobei: Wenn Stella mit Norris und Piastri irgendwann mal einen Jahrhundert-Streit managen muss, so wie einst Ron Dennis, und am Ende zwei WM-Titel in der Tasche hat, würde er das wahrscheinlich nehmen, oder?
Euer
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Oder mehr Geschichten von mir lesen, in meinem neuen Buch "Grand Prix Storys - Hinter den Kulissen der Formel 1".
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