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Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Warum Sergio Perez bei Force India rausfliegen könnte und welchen Plan B wir Pascal Wehrlein für die Motorsport-Saison 2018 ans Herz legen

Liebe Leser,

selten zuvor in der Geschichte dieser Kolumne gab es so viele Kandidaten, die letzte Nacht im metaphorischen Sinn schlecht geschlafen haben könnten. Selbst nach langem Hin und Her schaffte ich es nicht, einen Verlierer des Wochenendes herauszupicken, der über (oder unter, je nach Betrachtungsweise) allen anderen steht. Also wollen wir diesmal die brenzlige Situation von gleich zwei Fahrern etwas genauer (und wie immer rein subjektiv) unter die Lupe nehmen.

Da wäre einmal natürlich Sergio Perez. Der Shitstorm, den der Mexikaner nach seinem zweimaligen Abdrängen von Teamkollege Esteban Ocon ertragen muss, ist vielfältig. "So blöd" dürfe man einfach nicht fahren, findet Niki Lauda. Toto Wolff beschreibt Perez' Aktion als "dämlich". Und für Jacques Villeneuve, selbst nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, war sie einfach nur "schmutzig und gefährlich". Da fällt es selbst Force Indias Otmar Szafnauer schwer, Perez noch zu verteidigen.

Dabei finde ich: So eindeutig, wie die Schuldfrage der Ocon-Karambolagen gestern in Spa von manchen beurteilt wird, ist sie nicht. Natürlich - und darüber gibt es keine Diskussion - ist Perez der, der die Aktion verbrochen hat. Aber man darf durchaus auch hinterfragen, ob Ocon unbedingt vor Eau Rouge auf Biegen und Brechen riskieren musste, oder ob es nicht klüger gewesen wäre, ausgerechnet den Teamkollegen ein paar Meter weiter locker-leicht mit Windschatten und DRS zu überholen. Die brutale Attacke vor Eau Rouge muss Perez überrascht haben.

Die Kontroverse kommt zu einem strategisch äußerst ungünstigen Zeitpunkt für den Mexikaner. Force India hat die Fahrer für 2018 noch nicht bestätigt, und (nicht erst) seit Spa zeichnet sich ab: Perez und Ocon in einem Team, das geht nicht. Wenn nicht ein Wunder geschieht und die beiden Streithähne unter Kontrolle gebracht werden können, muss einer gehen. Und wenn einer gehen muss, wird es Perez sein.

Perez hat sich um Force India sehr verdient gemacht, aber mit diesem Wissen verhandelt er auch selbstbewusst. Radio Fahrerlager meldet, dass er sich für 2018 eine Jahresgage in der Höhe zwischen sieben und neun Millionen US-Dollar vorstellt. Das ist ganz schön viel für einen, der noch nie einen Grand Prix gewonnen hat. Wobei er natürlich, zugegeben, auf der anderen Seite Sponsorengelder in größerer Höhe mitbringt.

Aber Ocon, da ist man sich bei Force India einig, ist ein Versprechen für die Zukunft. Er hat mehr Potenzial, mittelfristig noch besser zu werden, als sein Teamkollege. Ocon ist die Gage (fast) egal. Und Ocon ist Mercedes-Junior. Wenn es darum geht, mit Toto Wolff über einen etwaigen Rabatt bei den Motorenzahlungen zu sprechen, ist Perez kein Argument. Ocon schon.

Perez' Karriere ist dennoch nicht akut gefährdet. Er hat zwei Ausstiegsoptionen. Renault ist immer noch an mehreren Fahrern dran: Sainz, Ocon, Kubica kommen in Frage, hört man. Sollte es mit keinem davon klappen (und das ist nicht ausgeschlossen), wäre Perez der Nächste auf der Liste.

Die zweite Variante ist Williams. Das Erfolgsteam vergangener Jahre steckt bei der Fahrersuche an einem kritischen Punkt. Lance Stroll ist wegen der Millionen seines Vaters gesetzt. Fernando Alonso war nie ein ernstes Thema, auch wenn in Spa entsprechende Gerüchte gestreut wurden. Übrigens dem Hörensagen nach von Toto Wolff. Praktisch, dass sich danach kaum noch jemand für die Geschichte um die Ölverbrennung in der von Mercedes vorgezogenen Motorenspezifikation interessierte ...

Kandidaten wie Sainz oder Ocon könnte man sich auch bei Williams gut vorstellen. Aber weil sie zu jung sind, geht das nicht mit Hauptsponsor Martini zusammen. Der hat in seinem Vertrag stehen, dass mindestens ein Fahrer 25 Jahre alt sein muss, um als glaubwürdiger Werbeträger für globale Kampagnen aufzutreten. Perez wird in Melbourne 28 sein. Und dass er für Martini glaubwürdig werben könnte, hat er schon bei einigen Grand-Prix-Partys bewiesen.

Selbst wenn sich der eine oder andere Perez-Sponsor mit einem bestehenden Williams-Sponsor spießen würde: Er wäre eine gute Wahl für die Phase, in der sich das Team momentan befindet. Er würde Lawrence Stroll gefallen, der sich für seinen Sohn einen erfahrenen Teamkollegen wünscht, von dem Lance lernen kann, der ihn aber gleichzeitig nicht in Grund und Boden fährt.


Großer Preis von Belgien

Das hat immer gegen die Geschichte gesprochen, dass Stroll sen. den Alonso-Deal mitfinanzieren würde. Was für ein Interesse sollte er daran haben, sein Portemonnaie für einen Superstar zu öffnen, der um Welten besser ist als sein Sohn? Jeder vernünftige Mensch würde in Strolls Position lieber in die Weiterentwicklung der Technik investieren. Von einem schnelleren Auto kann Lances Karriere mehr profitieren.

Perez wäre mit seiner Mitgift aus Williams-Sicht trotz Gage immer noch ein Nettogewinn von rund fünf Millionen US-Dollar; er ist erfahren und ausgewiesen schnell - immerhin ist es keine Kleinigkeit, gegen Nico Hülkenberg zu bestehen. Und er wäre zwar ein guter Referenzpunkt und Lehrmeister für Stroll jun., aber nicht ganz so unerreichbar wie einer vom Kaliber Alonso.

Zumal Felipe Massa nicht jünger wird und ziemlich teuer ist. Als er nach dem völlig überraschenden Bottas-Wechsel zu Mercedes plötzlich als Notnagel gebraucht wurde, ließ er sich das mutmaßlich mit einem goldenen Vertrag honorieren. Und Massa, das dämmert vor allem Paddy Lowe langsam, hat den Zenit seiner Karriere überschritten.

Daniil Kwjat, Felipe Massa, Stoffel Vandoorne, Pascal Wehrlein

Pascal Wehrlein gehen in der Formel 1 nach und nach die Möglichkeiten aus Zoom

Der zweite Fahrer, der momentan keinen ruhigen Schlaf haben kann, ist Pascal Wehrlein. In Spa hat er erstmals ausgesprochen, was Beobachtern schon länger klar ist: Es wird eng für ihn in der Formel 1. Denn bei Sauber wird man ihm einen der beiden Ferrari-Junioren Leclerc oder Giovinazzi vorziehen, und sonst sind freie Cockpits rar gesät.

Als Mercedes-Junior wäre eigentlich Williams eine naheliegende Option, aber mit 22 Jahren ist Wehrlein als Martini-Werbeträger zu jung. Und dass Mercedes so viel drauflegt, damit Einbußen aus dem Martini-Budget zur Nullrechnung werden, ist unwahrscheinlich.

Und sonst? Gehen wir alle denkbaren Varianten der Reihe nach durch.

Das Mercedes-Werksteam ist keine Option. Wehrlein war zwar nahe dran, anstelle von Bottas zum Rosberg-Nachfolger ernannt zu werden; aber vom Silberpfeil ist er momentan viel weiter weg als im Dezember 2016. Bottas hat seine Aufgabe als untadelige Nummer 2 für Hamilton fast perfekt erfüllt und kaum Fehler gemacht, während Wehrlein zeitweise sogar gegen Marcus Ericsson schlecht aussieht, der nicht gerade als kommender Weltmeister gilt. Auch wenn das sicher in den meisten Fällen gute Gründe hatte.

Force India hat kein Interesse an Wehrlein. Aus Sicht von Mercedes wäre es mit Sicherheit spannend, die beiden Junioren Head to Head miteinander vergleichen zu können, auf gleichem Material. Aber bei Force India gibt es Aversionen gegen den jungen Deutschen, seit er bei diversen Tests bei Ingenieuren und Mechanikern einen überheblichen Eindruck hinterlassen hat. Wehrlein hat daraus seine Lehren gezogen und sich verändert. Vermutlich zu spät, um bei Mallya, Fernley und Szafnauer in Erwägung gezogen zu werden.

Renault sucht zwar nach einem Fahrer, aber zwei Deutsche wären aus Marketingsicht schlecht. Und McLaren wird Alonso wenn überhaupt, dann eher durch Eigenbau-Junior Lando Norris ersetzen. Zumal derzeit alles darauf hindeutet, dass der spanische Superstar ein weiteres Jahr dranhängt. Das soll bei einem Frühstück mit Zak Brown am Samstagmorgen in Spa geregelt worden sein, hören wir. Vor der Unterschrift geht es nur noch um Details.

Insofern wäre Wehrlein wohl gut beraten, bei Toto Wolff anzuklopfen, ob man ihn denn in der Formel E parken könnte, bis Mercedes werksseitig dort einsteigt. Wenn sich die Formel E weiterhin so positiv entwickelt wie jetzt, könnte er auf diese Weise doch noch zum großen Gewinner werden.

Das Thema Formel 1 scheint nämlich abgehakt zu sein. Zumindest vorerst.

Wer sonst noch schlecht geschlafen hat:

Max Verstappen: Ausgerechnet vor 40.000 "Oranjes" zum sechsten Mal einen solchen Ausfall ertragen zu müssen, treibt den Star der Zukunft an die Grenzen seiner Geduld. Auf die Frage, wie lange er das noch aushält, entgegnete er gegenüber niederländischen Medien: Gar nicht mehr! Red Bulls Glück ist, dass Mercedes und Ferrari keine Cockpits mehr haben. Es sei denn, Toto Wolff schmeißt Bottas doch raus. Aber dafür gibt es keinen plausiblen Grund.

Valtteri Bottas: Mit 41 Punkten Rückstand ist der Finne zwar noch nicht aus dem WM-Rennen, aber seine eher bescheidene Vorstellung in Spa kam genau zum falschen Zeitpunkt. Spätestens seit Ungarn denkt Mercedes akut darüber nach, Hamilton zur Nummer 1 zu deklarieren. Bottas' fünfter Platz gestern ist zumindest kein Argument, das dafür spricht, auf Hamiltons Seite im Zweifelsfall weitere Punkte leichtfertig zu riskieren.

Jolyon Palmer: Der Brite, immerhin GP2-Champion, kann einem leidtun. Das ganze Jahr kommt er nicht in die Gänge, diverse unglückliche Umstände verschwören sich gegen ihn - und wenn er Hülkenberg dann mal ein Wochenende lang im Griff hat, lässt ihn die Technik im Stich. Spa hätte sein Befreiungsschlag werden können. Und langsam läuft ihm die Zeit davon, genau wie 2016 auf den letzten Drücker zu beweisen, was potenziell in ihm steckt.

Ihr

Christian Nimmervoll

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