Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Das Melbourne-Wochenende hatte viele Verlierer, aber die unruhigste Nacht von Sonntag auf Montag müsste unserer Meinung nach Kimi Räikkönen gehabt haben

Titel-Bild zur News: Kimi Räikkönen

Unser negativer "Man of the Race" beim Grand Prix von Australien Kimi Räikkönen Zoom

Liebe Leser,

bei vielen Konkurrenzmedien ist es üblich, nach jedem Grand Prix den "Man of the Race" auszuzeichnen - also jemanden, der durch eine besonders gute Leistung besonders positiv aufgefallen ist, ohne das Rennen zwangsläufig gewonnen zu haben. Wir wollen einen anderen Weg gehen und ab 2014 jeden Montag beleuchten, wer - und das muss nicht unbedingt ein Fahrer sein - in der Nacht nach dem Rennen am schlechtesten geschlafen haben könnte, wer also ein besonders schlechtes Wochenende hatte. Ein negativer "Man of the Race" sozusagen.

Nach dem Grand Prix von Australien wurden bei uns in der Redaktion mehrere Namen diskutiert, denen man diese zweifelhafte Ehre zukommen lassen könnte. Daniel Ricciardo zum Beispiel, dem der hochverdiente zweite Platz wegen eines fehlerhaften Benzinverbrauch-Sensors weggenommen wurde. Aber der Sonnyboy hatte gestern eigentlich einen tollen Tag, hat selbst nichts falsch gemacht - und er hat ja schon beim Verlassen des Paddocks kurz vor Mitternacht, noch vor Bekanntwerden des FIA-Urteils, gesagt: "Was auch immer dabei rauskommt: Ich bin sehr stolz auf das, was ich heute erreicht habe. Es überwiegen die positiven Seiten."

Räikkönen bei weitem nicht der einzige Kandidat

Auch der Chef der Firma Gill Sensors, die das Debakel mit den Fuel-Flow-Meters letztendlich zu verantworten hat, hatte wahrscheinlich keine besonders ruhige Nacht. Sebastian Vettel und Lewis Hamilton könnte man genauso in die Schublade Melbourne-Verlierer stecken, aber die beiden dürfen sich wenigstens über schnelle Autos und damit eine gute Grundlage für den Rest der Saison freuen. Und Pastor Maldonado könnte einem einfallen. Er hat mit seinen Partnern aus Venezuela viel Geld locker gemacht, um von Williams zu Lotus wechseln zu können. Jetzt fährt ihm sein Ex-Team um die Ohren.

Aber der, der wahrscheinlich am schlechtesten geschlafen hat (vorausgesetzt er hat seinen missglückten Saisonauftakt nicht mit ein paar Cocktails hinuntergespült), ist Kimi Räikkönen. Wir sind jedenfalls der Meinung: Der "Iceman" hat nach seinem Auftritt im Albert Park am vergangenen Wochenende genug zu grübeln. Auch wenn man ihm zumindest eines positiv anrechnen muss: Die Entscheidung, Lotus zu verlassen und stattdessen zu Ferrari zurückzukehren, war von der Konkurrenzfähigkeit des Materials her eine richtige.

Christian Nimmervoll

Chefredakteur Christian Nimmervoll ist eigentlich ein Fan von Kimi Räikkönen Zoom

Aber: In drei Freien Trainings und zwei Qualifying-Segmenten war er immer langsamer als Teamkollege Fernando Alonso, und zwar im Durchschnitt um 0,985 Sekunden. Auch beim Vergleich der schnellsten Rennrunde blieb er um 1,075 Sekunden hinter dem Spanier. Das von vielen erwartete Gigantenduell bei der Scuderia war also zumindest am ersten Rennwochenende 2014 noch weit und breit nicht zu sehen - im Gegenteil: Oberflächlich betrachtet war da sogar Felipe Massa näher an Alonso dran.

Alles richtig gemacht, zumindest bis zur ersten Kurve

Im Rennen hatte Räikkönen dann seinen Vorjahressieg zu verteidigen, und tatsächlich erwischte er nach den enttäuschenden Trainings einen guten Start. Vom elften Platz schob er sich gleich in der ersten Kurve auf Rang acht nach vorne. Alles richtig gemacht: Gut vom Fleck weggekommen, innen in der ersten Kurve eine enge Linie gefunden, sich aus allem Ärger herausgehalten. Und schon wenig später war er sogar Sechster, weil Hamilton ausgeschieden war und er Jean-Eric Vergne überholt hatte. Tadellos!

Doch das war's dann auch schon mit Räikkönen'schen Glanztaten am gestrigen Renntag. Gleich nach ein paar Runden musste er ausgerechnet seinen um zehn Jahre jüngeren Landsmann Valtteri Bottas vorbeilassen, und in Runde 35 wiederholte sich dieses Spiel. Diesmal mit tatkräftiger Unterstützung des Ferrari-Routiniers, der sich verbremste und somit die Tür offen ließ. Bottas sagte danke. Davor hatte sich Räikkönen auch schon mal verbremst und so den Anschluss zur Gruppe Hülkenberg/Alonso/Button/Vergne verloren - und die kämpfte bekanntlich, wie wir im Nachhinein wissen, um einen Podestplatz.


Fotostrecke: GP Australien, Highlights 2014

2007 auf Ferrari zum bisher letzten Mal Weltmeister

Räikkönen wurde am Ende Siebter, und das auch nur dank der Ricciardo-Disqualifikation und weil ihn Vergne in der Schlussphase mit einem Verbremser artig zum Überholen einlud. So ein Geschenk nimmt ein ehemaliger Weltmeister natürlich dankend an. Aber Weltmeister, das ist schon eine Weile her. 2007 hat der "Iceman" im Albert Park gleich seinen ersten Ferrari-Grand-Prix gewonnen - und dann mit einem dramatischen Schlussspurt auch den Titel. Aber 2008 und 2009 konnte er an diese Erfolge nicht mehr anknüpfen.

Bis er von der Formel 1 genug hatte, sich von Ferrari gegen ein Schmerzensgeld in der Höhe von 17 Millionen Euro rausschmeißen ließ (damit die Italiener Alonso verpflichten konnten) und ein bisschen Rallye fuhr. Das Comeback in der Königsklasse war dann umjubelt: Im Vergleich zur Rückkehr von Michael Schumacher sah jene von Räikkönen wesentlich besser aus. Nur: Nico Rosberg ist - das weiß man spätestens seit dem direkten Vergleich mit Überflieger Hamilton - wohl eine härtere Nuss als Romain Grosjean. Räikkönen hatte die leichtere Aufgabe als Schumacher.

Valtteri Bottas, Kimi Räikkönen

Wachablöse in Finnland? Valtteri Bottas hatte gestern das bessere Ende für sich... Zoom

So genau kann bis heute eigentlich niemand einschätzen, wie gut der Finne wirklich noch ist. Grosjean war ein unbeschriebenes Blatt, als er in die Formel 1 kam, hatte 2009 bei Renault gegen Alonso gnadenlos abgestunken. Ist er seither wirklich so viel besser geworden, wie die meisten Experten vermuten? Oder wird man Räikkönens Comeback erst nach der Ferrari-Saison an der Seite von Alonso neu bewerten müssen? Das Urteil ist noch lange nicht gefällt, Melbourne war bestenfalls eine Momentaufnahme. Aber auch, und das ist Tatsache: ein schlechter Anfang.

Noch lange nicht aller Tage Abend

Zur Ehrenrettung des 34-Jährigen sei gesagt, dass er beim Grand Prix von Australien sicher nicht sein ganzes Potenzial zeigen konnte. Die elektronische Bremse ("Brake by Wire") bereitet ihm ebenso Kopfzerbrechen wie das Setup des F14 T, das noch nicht seinem Geschmack entspricht. Dafür waren sechs Testtage im Winter zu wenig. Teamkollege Alonso ist schon länger bei Ferrari und konnte den Ingenieuren im Vorjahr besser auftragen, wie er das Auto haben möchte. Daher muss man Räikkönen eine Schonfrist gewähren.

Aber es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn Alonso einen Teamkollegen ins Herz schließt. "Mit Kimi und mir wird es hervorragend funktionieren. Wir werden sehr gut sein", sagt er. Ähnlich lobende Worte fand er früher für Massa, der ihm nie gefährlich werden konnte, immer eine bequeme Nummer 2 war. Hamilton hingegen stand bei ihm weit weniger hoch im Kurs, als er ihm 2007 bei McLaren das Leben schwer machte...

Fernando Alonso, Kimi Räikkönen

Fernando Alonso hat derzeit mehr Grund zu lachen als Teamkollege Kimi Räikkönen Zoom

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir halten Räikkönen nicht für eine Sekunde langsamer als Alonso, wir halten ihn nicht für einen Zufalls-Weltmeister, sondern ganz im Gegenteil für einen der begnadetsten Rennfahrer, den die Formel 1 je erlebt hat. Aber in Melbourne hat er sich nicht mit Ruhm bekleckert. Hoffentlich ändert sich das bald - und das trauen wir ihm zu. Denn wenn nicht, wirft er vielleicht wieder einmal entnervt und lustlos das Handtuch. Und dann würde die Königsklasse einen ihrer coolsten und charismatischsten Typen verlieren.

Ihr

Christian Nimmervoll