• 01.11.2008 23:28

  • von Christian Nimmervoll & Dieter Rencken

Von teuren Zehnteln und Verschwörungstheorien

Ron Dennis erklärt, was hinter dem teuersten Zehntel der McLaren-Geschichte steckt, und Norbert Haug hat Angst vor einem Rammstoß

(Motorsport-Total.com) - Nach den Grand Prix von China zogen die Logistiker der Formel-1-Teams direkt nach Brasilien weiter. Dadurch müssten die Autos beim Saisonfinale eigentlich unverändert sein, könnte man meinen, doch dem ist keineswegs so. Speziell McLaren-Mercedes hat zu Hause in Woking noch einmal alles in die Waagschale geworfen, um erstmals seit 1999 Weltmeister zu werden.

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton

Lewis Hamilton greift morgen nach dem größten Erfolg seiner Karriere

Resultat dieses intensiven Entwicklungsprogramms ist vor allem ein neuer Heckflügel, der sich an diesem Wochenende schon positiv ausgewirkt hat. Denn Lewis Hamilton und Heikki Kovalainen waren in Sachen Topspeed stets um etwa drei km/h schneller als Felipe Massa im an und für sich speziell auf den Geraden stets schnellen Ferrari. Dieser Trendwechsel liegt nicht nur an der flacheren Flügeleinstellung der Silberpfeile.#w1#

Seit Shanghai 0,15 Sekunden gefunden

"Das war das teuerste Zehntel, das wir je produziert haben." Ron Dennis

Beeindruckend ist vor allem, dass die Ingenieure in der Fabrik in Woking zwischen Shanghai und São Paulo noch einmal 0,15 Sekunden gefunden haben. Der dafür betriebene Aufwand war enorm: "Das war das teuerste Zehntel, das wir je produziert haben", erklärte Teamchef Ron Dennis. Doch man habe nicht nur auf die schiere Performance Wert gelegt, sondern auch auf die Optimierung der so entscheidenden Zuverlässigkeit.

Nicht nur bei Hamilton stand die Zuverlässigkeit im Vordergrund, sondern auch bei Kovalainen, der heute einen neuen Mercedes-V8-Motor in seinen MP4-23 einbauen durfte. Jenes Aggregat wurde nach der gleichen Spezifikation wie der Hamilton-Motor zusammengebaut und es wurden auf dem Prüfstand in Brixworth 1.500 Kilometer absolviert, um sicherzugehen, dass kein unerwünschter Materialfehler vorliegen kann.

Vor allem hat sich Dennis' Team aber damit beschäftigt, alle möglichen Szenarien durchzuspielen, um für jeden nur erdenklichen Zwischenfall die passende Reaktion parat zu haben und nicht erst darüber nachdenken zu müssen. Diese Lektion haben die Silberpfeile vor einem Jahr gelernt, als Hamilton sieben Punkte Vorsprung auf den späteren Weltmeister Kimi Räikkönen hatte, aber durch einen Fehler in der ersten Runde und durch einen Defekt weit nach hinten geworfen wurde.

Hunderte Szenarien durchgespielt

"Wir sind jedes einzelne Szenario durchgegangen, das uns eingefallen ist." Ron Dennis

"Wir sind jedes einzelne Szenario durchgegangen, das uns eingefallen ist", erklärte Dennis. Dazu gehören Überlegungen wie: Welche Reaktion erfordert ein Reifenschaden? Ab welchem Zeitverlust wegen einer beschädigten Aerodynamik macht es Sinn, an der Box die Nase zu wechseln? Ab welchem Feuchtigkeitsgrad sind Regenreifen schneller? Hamiltons Crew hat hunderte solche Szenarien intensiv durchgespielt.

In Sachen Strategie hat sich McLaren-Mercedes für eine konservative Herangehensweise entschieden, was heute den vierten Startplatz einbrachte. Hamilton wird dafür morgen voraussichtlich um sechs bis acht Runden länger draußen bleiben können als Massa. Für diese Entscheidung spricht, dass man nicht von Regen oder einer Safety-Car-Phase überrascht werden kann. Dagegen spricht, dass man am Start weiter hinten, näher an der heißen Zone, steht.

Aber: "Die Dreistoppstrategie ist extrem riskant, wenn zwei Faktoren eintreten: Regen oder Safety-Car. Wir wollten diese Risiken eliminieren", erläuterte Dennis. "Toyota sehen wir nicht als Bedrohung und Massa müssen wir nicht schlagen. Wir müssen uns aus Zwischenfällen heraushalten, diszipliniert fahren, dann wird unsere Strategie für alle klar. Es wäre ein viel zu großes Risiko gewesen, auch so leicht zu gehen, eben wegen der Möglichkeit von einsetzendem Regen."

Die Angst vor dem Safety-Car

Ron Dennis

Ron Dennis und sein Team gehen perfekt vorbereitet in das Saisonfinale Zoom

Vor allem die Angst vor einer Safety-Car-Phase war für McLaren-Mercedes ein Argument für einen langen ersten Stint, vom Reifenmanagement während des Rennens einmal ganz abgesehen. Denn: "All diese Jungs, die dann nicht an die Box kommen müssen, wenn das Safety-Car auf die Strecke geht, wären vor uns. Das ist ein inakzeptables Risiko", so Dennis. Mercedes-Sportchef Norbert Haug legte nach, man habe "mit Hirn" so entschieden und nicht aus Vorsicht.

"Ganz egal, wie es morgen ausgehen wird: Unsere Entscheidung war absolut richtig. Die werden wir nicht bereuen, denn wir haben unser Bestes gegeben. Wenn das nicht reicht und man dann zurückschaut, dann muss man sich sagen können: Wir hätten nicht mehr tun können", sagte Dennis und fügte an: "Ganz egal, wer morgen Weltmeister wird: Ich hoffe, dass die Entscheidung nicht durch einen anderen Fahrer fällt."

Dass bei Landsmann Hamilton noch einmal wie im Vorjahr die Nerven flattern werden, glaubt der Brite nicht: "Lewis ist seither reifer geworden. Er hat gelernt, das Auto auch mal so zu fahren, dass er nur ins Ziel kommt und die Punkte mitnimmt. Das ist der Hauptunterschied zum vergangenen Jahr. Ich finde, er ist jetzt ein besserer Rennfahrer als vor einem Jahr", gab der McLaren-Mercedes-Teamchef zu Protokoll.

Haug hat gewisse Zweifel

"Wenn es schon angekündigt wird, dass man es uns schwer machen wird, dann muss man mit so etwas rechnen." Norbert Haug

Doch das hilft alles nichts, wenn ein anderer Fahrer in den WM-Kampf eingreift und Hamilton abschießt. Verschwörungstheorie so glaubwürdig wie eine Akte-X-Folge, sagen Sie? Vielleicht. Aber Haug ist sich nicht ganz sicher, dass alles mit rechten Dingen ablaufen wird: "Wenn es schon angekündigt wird, dass man es uns schwer machen wird, dann muss man mit so etwas rechnen", zeigte er sich im Interview mit 'Premiere' verunsichert.

"Ich hoffe, dass da nicht irgendwo eine Abmachung läuft. Und ich hoffe, dass die Alonsos, die angekündigt haben, was alles passieren wird, sich so aufführen werden, wie sich das gehört", so der Deutsche. Fernando Alonso hat im Vorfeld des Rennwochenendes keinen Hehl daraus gemacht, dass er McLaren-Mercedes nichts Gutes wünscht. Allerdings betonte er auch immer, dass er mit Hamilton kein Problem habe.

Eine weitere Verschwörungstheorie kam erst heute auf. Zur Vorgeschichte: Dennis enthüllte gestern, dass Toyota als einziges Team nicht plant, in Melbourne 2009 mit KERS zu fahren. Die Japaner sind deswegen sauer - Dennis habe vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit gegeben. Morgen wird ausgerechnet Jarno Trulli als Zweiter ins Rennen gehen. Nur: Der Italiener ist sicher viel zu fair, um Räikkönen durchzulassen und vor Hamilton die rollende Schikane zu spielen...


Fotos: McLaren-Mercedes, Großer Preis von Brasilien