• 05.04.2002 15:15

Vasselon: "Haben keine Proteste zu befürchten"

Michelin-Formel-1-Projektleiter Pascal Vasselon spricht über die Reifenentwicklung, die Zusammenarbeit mit den Teams und vieles mehr

(Motorsport-Total.com) - Vor der Rückkehr der Formel 1 nach Europa kann Michelin im Jahr zwei des neuen Grand-Prix-Engagements eine zufriedenstellende Zwischenbilanz vorweisen: Mit dem Sieg von Ralf Schumacher und BMW-Williams in Malaysia, der Pole Position von dessen kolumbianischen Teamkollegen Juan-Pablo Montoya in Brasilien sowie schnellsten Rennrunden bei jedem der drei bisher ausgetragenen Großen Preise (Australien: Kimi Räikkönen, McLaren-Mercedes; Malaysia und Brasilien: Montoya) hat der französische Reifenspezialist seine Konkurrenzfähigkeit klar unter Beweis gestellt. Im Zwischenklassement der Konstrukteursweltmeisterschaft verteidigen Michelin und BMW-Williams sogar die Führung. Formel-1-Projektleiter Pascal Vasselon gibt im Interview interessante Hintergründe und Detailinformationen preis.

Titel-Bild zur News: Pascal Vasselon

Pascal Vasselon: "Jedes Auto bekommt bei Tests einen Ingenieur von uns"

Frage: "Die Zeiten der ersten drei Saisonrennen lagen etwa auf Vorjahresniveau. Werden wir in dieser Saison keine so großen Zeitsprünge mehr erleben wie von 2000 auf 2001?"
Pascal Vasselon: "In Malaysia waren wir im Qualifying langsamer als 2001, im Rennen zwei Sekunden schneller. In Melbourne und Brasilien verhielt es sich umgekehrt. Das lag aber an den wechselnden Wetterbedingungen. Ich denke, dass die Rundenzeiten dieses Jahr im Schnitt um eine Sekunde pro Runde sinken werden."

Frage: "Wie viel davon geht auf das Konto der Reifen?"
Vasselon: "Das ist prozentual schwierig zu sagen, denn diese knappen Zeitunterschiede hängen von vielen Bedingungen ab."

Frage: "Im Gegensatz zum Vorjahr kennen sie nun alle Strecken und können auf Erfahrungswerte zurückgreifen. Gehen sie 2002 weniger konservativ vor?"
Vasselon: "Dieses Jahr ist unsere Arbeit insofern angenehmer, da auf jedem Grand-Prix-Kurs das Ziel klarer ist. Einfacher wird unser Leben angesichts der großen Konkurrenz dadurch aber nicht."

"Wollen mehr Grip und die Reifen-Innentemperatur senken"

Frage: "Worauf konzentriert sich Michelin derzeit?"
Vasselon: "Die vorrangigen Ziele lauten, mehr Grip zu erreichen und zugleich die Reifen-Innentemperatur zu senken. Bei Tests in Barcelona haben wir zudem das Abnutzungsverhalten erproben können, weil diese Strecke die Reifen am härtesten fordert."

Frage: "Welche Grand-Prix-Kurse gelten noch als besonders hart für die Reifen?"
Vasselon: "In Barcelona beanspruchen die langgezogenen Kurven vor allem die Vorderreifen extrem. Auch Silverstone und Suzuka ? beides Kurse mit hohen Querbeschleunigungen ? fordern die Pneus sehr hart."

Frage: "Welchen Input liefern die Fahrer bei Reifentests?"
Vasselon: "Natürlich achten wir darauf, wie die Piloten das Verhalten der Pneus beschreiben. Da das Setup der Rennwagen aber von sehr vielen Variablen abhängt, steht für uns die Auswertung der gesammelten Daten im Vordergrund. Aber letztlich entscheidet immer die Rundenzeit und Konstanz über die Qualität eines Reifens."

Ein Michelin-Reifen setzt sich aus Kautschuk, Stahldraht und Kunstfasern sowie etwa 300 Chemikalien zusammen

Frage: "Erfordern neue Reifentypen ein Anpassen des Fahrstils, oder verhält es sich umgekehrt?"
Vasselon: "Der Fahrer muss sich grundsätzlich dem Charakter des Pneus anpassen. Die Reifen der beiden Hersteller in der Formel 1 scheinen sich komplett unterschiedlich anzufühlen. Michelin-Pneus zum Beispiel erfordern eine sehr sensible Behandlung, die Piloten bezahlen für jeden Fehler. Insgesamt bieten sie dafür aber auch Vorteile. Aber auch neue Reifenkonstruktionen erfordern Einfühlungsvermögen. Die Fahrer brauchen also nicht nur Können, sondern auch Köpfchen. Beides zu besitzen, zeichnet die wirklich guten Piloten aus. Wer beides hat, gewinnt Rennen."

Frage: "Aus wie vielen Zutaten besteht ein Formel-1-Reifen von Michelin?"
Vasselon: "Neben den offenkundigen Bestandteilen Kautschuk, Stahldraht und Kunstfasern kommen etwa 300 Chemikalien hinzu."

Frage: "Wie schnell kann Michelin auf veränderte Bedingungen reagieren?"
Vasselon: "Erkenntnisse, die wir bei Testfahrten bis Freitag Abend ? also sechs Tage vor dem Beginn des nächsten Grand-Prix-Wochenendes ? gewinnen, setzen wir so schnell um, dass die neuen Reifen rechtzeitig am Mittwoch vor dem Rennen an der Strecke bereitliegen."

Über Nacht können 60 Reifen produziert werden

Frage: "Und bei Reifentests?"
Vasselon: "Über Nacht können wir bis zu 60 neue Reifen fertigen und zur Rennstrecke bringen."

Frage: "Wie viele verschiedene Konstruktionen und Mischungen setzt Michelin pro Saison ein?"
Vasselon: "Wir haben zu jedem Rennen neue Entwicklungen dabei. Das macht bei 17 Rennen und zwei Mischungen pro Grand Prix über 30 verschiedene Versionen. Dazu kommen natürlich noch die bei Tests eingesetzten Reifentypen, die wir wieder verwerfen."

Frage: "Wie geht die Weiterentwicklung vor sich?"
Vasselon: "Als Basis der Entwicklung dient immer der Reifen vom jeweils zurückliegenden Rennen. Diese Version stellt für uns die Referenz dar, von der aus wir weiterentwickeln."

"Michelin will immer das Optimum erreichen"

Frage: "Wie stehen sie zu den aktuellen Testregularien?"
Vasselon: "Wir begrüßen, dass es weniger Restriktionen gibt."

Frage: "Heizt der Wettkampf auf dem Reifensektor die Kosten nicht zusätzlich an?"
Vasselon: "Nein, denn ebenso wie unser Mitbewerber suchen wir sowieso immer das Optimum. Daran würden mehr oder weniger Tests nichts ändern."

Frage: "Wie groß ist die Formel-1-Entwicklungsabteilung von Michelin?"
Vasselon: "Die Motorsportabteilung von Pierre Dupasquier in Clermont-Ferrand umfasst etwa 160 Mitarbeiter. Dazu zählen aber nicht nur Formel-1-Spezialisten, sondern auch die Rallye-, Sport- und Tourenwagen-Experten sowie die Männer von der Motorrad-Division. Der Aufwand von Michelin für den Motorsport liegt jedoch noch darüber, da wir viel Input aus der Forschungs- und Entwicklungsabteilung bekommen."

In Melbourne erwartete Michelin heißere Temperaturen

Frage: "Wie viele Spezialisten stellt Michelin den Formel-1-Teams zur Seite?"
Vasselon: "Beim Grand Prix erhält jedes Team exklusiv einen Ingenieur und zwei Assistenten. Bei Testfahrten wird sogar jedes Auto von einem eigenen Ingenieur betreut ? egal, ob es sich dabei um Minardi, McLaren oder Williams handelt."

Frage: "Traf in Sepang und Brasilien das Klischee zu, dass die Michelin-Reifen bei Hitze umso besser funktionieren ? oder gilt dies in dieser Saison nicht mehr?"
Vasselon: "Das Rennen von Spa-Francorchamps 2001 ? als Giancarlo Fisichella im Benetton mit unseren Reifen einen Podiumsplatz holte ? ist der beste Beweis, dass wir auch mit kühlen Temperaturen klarkommen. Dieses Jahr in Melbourne hatten wir schlicht mir mehr Hitze gerechnet und die Reifen dementsprechend ausgelegt. Und in Brasilien lag die Streckentemperatur am Sonntag um zehn Grad unter der beim Qualifying ? dennoch besaßen wir eine reelle Siegchance. Im Umkehrschluss könnte man genauso gut die Behauptung aufstellen, die Reifen unseres Mitbewerbers würden nur bei kalter Witterung funktionieren. In Malaysia hätten deren Pneus niemals die Einstoppstrategie ausgehalten, mit der Ralf Schumacher gesiegt hat."

Frage: "Die Michelin-Piloten bekommen beim Boxenstopp nicht nur angefahrene Reifen aufgezogen, diese sehen auch oft so aus, als wären sie nicht vom Pick-up ? aufgesammelten Gummiresten ? befreit. Wieso nicht?"
Vasselon: "Unsere Reifen funktionieren optimal, wenn sie zehn bis zwölf Runden angefahren werden. Vor einem erneuten Einsatz reinigen wir sie natürlich. Ihr besonderer Charakter besteht darin, in den ersten beiden Runden extrem schnell Grip aufzubauen, der dann etwas nachlässt. Nach dieser Phase arbeiten sie aber sehr lange konstant, ohne ? wie bei Rennreifen sonst üblich ? in ihrer Performance nachzulassen. Diese spezifische Charakteristik besaßen Michelin-Pneus übrigens schon immer ? im Tourenwagen ebenso wie bei den Sportprototypen."

BMW-Williams hat gegenüber McLaren-Mercedes Vorteile

Frage: "Oft sehen die gebrauchten Michelin-Reifen extrem abgenutzt aus. Müssen sie nicht einen Protest befürchten?"
Vasselon: "Nein: Unsere Pneus haben die Eigenschaft, in der Auslaufrunde extrem viel Reifenabrieb ? den so genannten Pick-up ? aufzunehmen. Wird der abgehobelt, sind die Rillen darunter deutlich zu erkennen."

Frage: "Mit welchen Daten haben sie McLaren im Voraus versorgt, und wie kam dieses neue Partnerteam bei den ersten Tests mit Michelin-Pneus zurecht?"
Vasselon: "Wir haben so viele Daten wie möglich herausgegeben, auch die Computerberechnungen aus der Konstruktion, damit sie bereits in Simulationen ihr Auto auf unsere Pneus abstimmen konnten. Letztlich ersetzt aber keine Simulation einen echten Test oder Renneinsatz. In diesem Erfahrungsvorsprung liegt zur Zeit der Vorteil von BMW-Williams."

Frage: "McLaren-Testfahrer Alexander Wurz ist bei Tests immer noch mit Temperatursensoren an den Rädern unterwegs. Was lernen sie und McLaren daraus?"
Vasselon: "Diese Sensoren ? die übrigens auch Williams verwendet, nur in anderer Form ? liefern nicht nur Erkenntnisse über das Arbeiten des Reifens. Auch in puncto Chassis-Setup liefern sie wertvolle Anhaltspunkte."

Michelin wird die asymmetrischen Reifen nicht einsetzen

Frage: "Vor der Saison hat Michelin Rennreifen mit umstrittenen asymmetrischen Rillen getestet. Wie sahen diese aus, und welche Vorteile versprechen Sie sich davon?"
Vasselon: "Im sportlichen Reglement steht, dass sich die Rillen gleichmäßig verjüngen müssen. Unsere Auslegung dieser Regel sah so aus, dass ein 'Hang' des 'Rillentals' senkrecht steht, der andere dafür flacher abfällt. Ziel war es, durch bessere Abstützung der dazwischen liegenden Profilblöcke die Abnutzung der Reifen zu verringern und die Konstanz zu erhöhen. Ralf Schumacher zum Beispiel hat diese Reifen getestet und einen spürbaren Vorteil festgestellt. Da die FIA mit unserer Auslegung nicht einverstanden war und uns dies mitgeteilt hat, werden wir diese Reifen nicht einsetzen ? obwohl wir sie nach wie vor für eine legale und sinnvolle Innovation halten."