Traktionskontrolle in der Formel 1: So wurde sie erfunden!

Paddy Lowe erinnert sich: Wie er den Code für die Traktionskontrolle in der Formel 1 programmiert hat und warum Testfahrer Damon Hill zuerst gar nicht begeistert war

(Motorsport-Total.com) - Die Traktionskontrolle ist eine jener technologischen Innovationen, die eine ganze Ära geprägt haben. Das erste Formel-1-Auto, das mit einer Traktionskontrolle ausgestattet war, war der Williams-Renault FW14B aus der Saison 1992. Und als einer der "Erfinder" des Systems gilt Paddy Lowe.

Titel-Bild zur News: Nigel Mansell

Nigel Mansell beim Grand Prix von San Marino 1992 mit dem Williams-Renault FW14B Zoom

Lowe war zu Beginn der 1990er-Jahre Leiter der Elektronikabteilung des Williams-Teams, das Ende der 1980er-Jahre, nach der Trennung von Motorenhersteller Honda 1987, technologisch ins Hintertreffen geraten war. Doch mit dem von Adrian Newey designten FW14 lieferte Nigel Mansell Ayrton Senna im McLaren-Honda 1991 endlich wieder einen harten Kampf um den WM-Titel.

Für 1992 entwickelte Williams kein komplett neues Auto, sondern stattete den FW14 mit einer Reihe innovativer Features aus. Das Wettrüsten mit elektronischen Fahrhilfen war in der Formel 1 in vollem Gang, und Williams hatte die Nase vorn. Mansell gewann die ersten fünf Grands Prix hintereinander - unter anderem dank der neuen aktiven Radaufhängung und der Traktionskontrolle.

Die Traktionskontrolle sei "atemberaubend" gewesen: "Es war letztendlich nur eine Zeile Programmiercode, die ich in die Software geschrieben habe", erinnert sich Lowe auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de. "Der Durchbruch lag darin, Sensoren zu finden, die die Drehgeschwindigkeit der Räder akkurat messen konnten, ohne dabei auf Lautstärkemessung zurückzugreifen."

Was ist eine Traktionskontrolle eigentlich?

Das Prinzip einer Traktionskontrolle ist schnell erklärt. Sensoren messen die Drehgeschwindigkeit der Räder und füttern diese Daten in die elektronische Steuereinheit des Autos. Sobald der Computer erkennt, dass ein Rad durchdreht und somit Grip verliert, wird ein Impuls an die Motorsteuerung geschickt, um die Gaszufuhr zu drosseln.

Dadurch wird die Geschwindigkeit der durchdrehenden Räder ("Wheelspin") so lang reduziert, bis die Haftung wieder einsetzt, und sukzessive wieder aufgebaut, ohne dabei Grip zu verlieren. Das Besondere daran ist, dass der Fahrer dabei weiterhin voll auf dem Gas bleiben kann. Das Drosseln der Gaszufuhr regelt der Computer ganz automatisch.

Traktionskontrolle gab es lang vor der Formel 1

In den frühen 1990er-Jahren war die Software eines Formel-1-Autos wenig fortschrittlich. Trotzdem war es ein Leichtes, die Steuerelektronik für eine Traktionskontrolle zu programmieren. In der Automobilindustrie wurde daran seit den 1970er-Jahren gearbeitet. Hersteller wie Toyota, BMW und Mercedes bauten das System ab den frühen 1990er-Jahren in ihre Topmodelle ein.

Die große Herausforderung in der Formel 1 lag darin, die Drehgeschwindigkeit der Räder zuverlässig zu messen. Die von Lowe geleitete Elektronikabteilung des Williams-Teams kam irgendwann im Jahr 1991 auf die Idee, dass man dafür sogenannte Hallsensoren einsetzen könnte, die sich den Halleffekt (benannt nach Edwin Hall) zunutze machen.

Plötzlich war es möglich, zuverlässige Daten in die elektronische Steuereinheit einzuspeisen und damit auch die Zeile Programmiercode, die Lowe geschrieben hatte, effektiv zu nutzen. Für Williams ein Meilenstein: Mansell gewann 1992 nicht nur die ersten fünf Rennen hintereinander, sondern stand bereits nach elf von 16 Rennen als Weltmeister fest.

Williams: Erster Test der Traktionskontrolle in Le Castellet 1991

Dabei wollten die Fahrer die Traktionskontrolle zunächst gar nicht haben. Lowe erinnert sich an den ersten Test des Systems am FW14 in Le Castellet 1991. Testfahrer Damon Hill drehte die ersten Runden mit Traktionskontrolle und berichtete danach: "Das ist nicht gut. Es hält mich zurück. Wenn ich aus den Kurven kommen, bremst mich das System."

Kein Wunder: Wenn der Fahrer voll aufs Gas steigt und dabei die Reifen beginnen durchzudrehen, sodass sie Grip verlieren und die Antriebskraft des Motors nicht mehr voll auf die Straße übertragen können, greift die Traktionskontrolle elektronisch ein und drosselt die Gaszufuhr. Das empfand Hill im ersten Moment als bremsend.

Damon Hill

Damon Hill fährt bei einem Test in Le Castellet mit Traktionskontrolle am Williams Zoom

Mit Traktionskontrolle um eine Sekunde schneller!

War es aber nicht. Lowe erinnert sich an sein erstes Feedback an Hill, nachdem er auf die Stoppuhr geschaut hatte: "Damon, was du sagst ist recht und schön - aber du warst mit Traktionskontrolle eine Sekunde schneller als ohne!" Auch wenn es sich für die Fahrer zunächst falsch anfühlte: Die Traktionskontrolle war ein Gamechanger für Williams.

1992 gewann Mansell mit dem System die Weltmeisterschaft, 1993 dann Alain Prost, ebenfalls auf Williams-Renault. Inzwischen hatten aber fast alle Teams nachgezogen und eigene Systeme entwickelt, die jedoch nicht so perfekt funktionierten wie jenes von Williams. Ein teures Entwicklungsrennen setzte ein.

1994: Traktionskontrolle von der FIA verboten

Vor Beginn der Saison 1994 schritt der Automobil-Weltverband FIA ein und formulierte ein Verbot von elektronischen Fahrhilfen in der Formel 1. Erstens aus Kosten-, zweitens aus Sicherheitsgründen. Die aktive Radaufhängung, damals noch nicht ausgereift, schickte zum Beispiel Ferrari-Pilot Gerhard Berger in Estoril 1993 in einen bizarren Unfall, der auch schlimm ausgehen hätte können.

Berger kam damals zum Reifenwechsel an die Box und fuhr danach wieder los. Am Ende der Boxenstraße glaubte seine Elektronik, der Ferrari befinde sich auf der Start- und Zielgerade, und senkte das Fahrwerk dementsprechend ab. Die Bodenwelle in der Boxenstraße hatten die Ferrari-Ingenieure nicht programmiert.

Konsequenz: Berger setzte auf der Bodenwelle auf, verlor mit den Reifen Bodenkontakt, wurde zum Passagier ohne Kontrolle und drehte sich quer über die Start- und Zielgerade, wo gerade andere Autos mit mehr als 300 km/h dahergedonnert kamen. Beinahe hätte ihn dabei Derek Warwick im Footwoork aufgespießt. Nicht auszudenken, wie so ein Crash ausgegangen wäre.

Also wurden die elektronischen Fahrhilfen ab der Saison 1994 verboten. Verdachtsmomente, dass Teams weiterhin verbotene Software in ihren Systemen verstecken könnten, gab es aber immer wieder. So konnte zum Beispiel am Benetton-Ford von Michael Schumacher nachgewiesen werden, dass nicht der komplette Code für die Traktionskontrolle gelöscht wurde.

Michael Schumacher

Michael Schumacher soll 1994 im Benetton-Ford auch mit Traktionskontrolle gewonnen haben Zoom

2001: Traktionskontrolle von der FIA erlaubt

Bis 2001 gingen die Verdächtigungen zwischen den Teams so weit, dass sich die FIA gezwungen sah, den Einsatz von Traktionskontrollen wieder zu erlauben, weil man keine Möglichkeit sah, deren Verbot treffsicher zu sanktionieren. Für die nächsten sieben Jahre wurde "Wheelspin" also nicht durch den Gasfuß der Fahrer, sondern vom Computer runtergeregelt.

Doch 2008 ging die US-Investmentbank Lehman Brothers pleite und schickte die Weltwirtschaft in die Krise. Den Folgen davon konnte sich auch die Formel 1 nicht entziehen. Automobilhersteller wie BMW, Honda und Toyota stiegen aus der Königsklasse aus. Um den Fortbestand der Formel 1 zu sichern, wurde ein rigoroser Sparkurs eingeschlagen.

2009: Traktionskontrolle von der FIA verboten

Da gerade elektronische Technologien in der Weiterentwicklung besonders kostenintensiv sind, entschloss sich die FIA dazu, das Reglement für die Saison 2009 komplett umzukrempeln und die Traktionskontrolle wieder zu verbieten. Das gelang, indem eine einheitliche Steuerelektronik eingeführt wurde, die von allen Teams verwendet werden musste. Was übrigens bis heute der Fall ist.

Paddy Lowe sprach am 24. März als Stargast beim virtuellen Stammtisch auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de über das Thema Traktionskontrolle in der Formel 1. Der nächste Stammtisch findet am Montagabend (24. April 2023 um 19 Uhr) statt. Der Stargast, dem die Kanalmitglieder via Zoom-Meeting persönlich ihre Fragen stellen können, ist diesmal Ralf Schumacher.


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