• 21.09.2005 08:09

São Paulo: Brasilianischer Samba zwischen den Seen

Die Formel 1 geht in die drittletzte Runde 2005 - Vorschau auf die Buckelpiste von Interlagos und das Ayrton-Senna-Land Brasilien

(Motorsport-Total.com) - Auf der Strecke "zwischen den Seen", wie das brasilianische Interlagos wörtlich übersetzt heißt, geht die Formel 1 am kommenden Sonntag beim Grand Prix von Brasilien in die 17. und drittletzte Runde der diesjährigen Weltmeisterschaft. Start im 'Autodromo José Carlos Pace' ist um 14:00 Uhr Ortszeit (19:00 Uhr MESZ), also zur besten Sendezeit in Europa. Für Teams wie Fahrer stellt der brasilianische Grand Prix immer wieder eine besondere Herausforderung dar.

Titel-Bild zur News: Verkehr in São Paulo

Der chaotische Verkehr gehört zu São Paulo wie die Formel 1 zu Interlagos

Besondere Brisanz liegt diesmal in der Luft, weil erstmals in der Geschichte des Grand-Prix-Sports die WM-Entscheidung in Brasilien fallen könnte: Fernando Alonso (Renault) reicht in São Paulo bereits ein dritter Platz, um - unabhängig von Kimi Räikkönens (McLaren-Mercedes) Abschneiden - den Titel nach Hause zu fahren. Wesentlich spannender sieht es hingegen in der Konstrukteurs-WM aus, wo Renault nur sechs Zähler Vorsprung über die letzten drei Runden retten muss.#w1#

Körperliche Fitness in Interlagos mehr denn je gefragt

Für die Fahrer heißt es in Interlagos, körperlich absolut fit zu sein, da nicht nur die heißen Temperaturen in Südamerika und die hohe Luftfeuchtigkeit ihren Tribut zollen, obwohl das Rennen gegenüber früher um ein halbes Jahr nach hinten verlegt wurde. Ganz besonders die vielen Unebenheiten im Belag und die Tatsache, dass die 4,309 Kilometer lange Strecke als einzige neben Imola und Istanbul gegen den Uhrzeigersinn gefahren wird, machen selbst dem durchtrainiertesten Nacken schwer zu schaffen. Die Teams müssen nicht nur aus diesem Grund eine sehr gute Abstimmung für die Autos finden, um Probleme mit abgeschmirgelten Unterböden und verrutschten Frontflügeln - wie bei David Coulthards McLaren-Mercedes 1999 geschehen - zu vermeiden. Peter Sauber musste 2000 gar beide Autos vom Rennen zurückziehen, weil die Heckflügel weichgeklopft wurden.

Bei Fahrern und Teams gehört der Grand Prix von Brasilien zumindest wegen der Stadt São Paulo nicht unbedingt zu den Favoriten. Ralf Schumacher meinte sogar einmal: "Nur wer seine Frau loswerden will, nimmt sie mit nach Brasilien." Leider gehört die Stadt neben Mexiko City und Tokio nicht nur zu den drei größten Städten der Welt, sondern aufgrund der extremen Unterschiede zwischen Arm und Reich auch zu jenen mit der höchsten Kriminalitätsrate. Die Slums rund um die 13 Kilometer von Interlagos entfernte Stadt passen so gar nicht zum Image der glamourösen Formel 1.

Vorsicht ist also auf jeden Fall angebracht, denn auch der Straßenverkehr ist gewöhnungsbedürftig: In einer 20-Millionen-Stadt - Sao Paulo liegt etwa 800 Meter über dem Meeresspiegel, 80 Kilometer vom Atlantik entfernt -, in der täglich über fünf Millionen Autos die Straßen in ein heilloses Chaos verwandeln, tut man als Besucher gut daran, sich in die geübten Hände der Taxifahrer zu begeben. Das spart jede Menge Nerven und ist durchaus erschwinglich.

Verkehrschaos gehört zum Alltag in São Paulo

Man sollte - je nachdem, wo man wohnt - aber trotzdem genügend Zeit für die tägliche Anfahrt zur Strecke einplanen, da eine Stunde Fahrtzeit für zehn Kilometer in São Paulo nicht unüblich ist. Fans, die ihre Stars aus der Nähe sehen wollen, sowie Autogrammjäger haben es in Brasilien relativ einfach. Die meisten Fahrer wohnen im Hotel 'Transamerica', wo Michael Schumacher am Donnerstag eine Pressekonferenz für Ferrari-Partner 'Shell' geben wird. Nur die McLaren-Mercedes-Mannschaft nächtigt traditionell im 'Melia'.

Abends trifft man den einen oder anderen auch schon mal beim gemütlichen Essen in der Churrascheria 'Fogo do Chao', im 'Baby Beef' oder der 'La Vecchia Cucina' an, und Sonntagabend geht's zum Tanzen ins 'Love Story' oder ins 'Charlie's'. Für ausgedehnte Einkaufstouren empfiehlt sich das Shopping Center im Stadtteil Morumbi, übrigens ganz in der Nähe des Friedhofs Morumbi, auf dem Ayrton Senna begraben ist - für Fans sicher ein Muss.

Michael Schumacher erfolgreichster Fahrer in Interlagos

71 Runden sind am Renntag im 'Autodromo José Carlos Pace' von Interlagos, einem Vorort von São Paulo, zu absolvieren. Bei einer Streckenlänge von 4,309 Kilometern entspricht dies einer Renndistanz von 305,909 Kilometern. Mit vier Siegen (1994, 1995, 2000 und 2002) ist Michael Schumacher der mit Abstand erfolgreichste aktive Formel-1-Fahrer in Brasilien, doch auch Jacques Villeneuve (1997), David Coulthard (2001), Giancarlo Fisichella (2003) und Juan-Pablo Montoya (2004) haben dort schon gewonnen. Erfolgreichster Pilot überhaupt beim Brasilien-Grand-Prix war jedoch Alain Prost mit sechs Siegen (1982, 1984, 1985, 1987, 1988 und 1990), der allerdings das Gros seiner Erfolge in Rio de Janeiro einfuhr.

Jahr für Jahr fordern die heißen Temperaturen und die wellige Piste nicht nur die Fahrer, sondern auch die Autos, was zu vielen Ausfällen führt. Lokalmatador Rubens Barrichello, der nur unweit der Rennstrecke aufgewachsen ist, kann ein Lied davon singen: Ausgerechnet er sah bei zwölf Starts bisher erst zweimal die Zielflagge, nämlich 2004 als Dritter und 1994 als Vierter. Die Ausfallsrate ist traditionell hoch. Obwohl die Veranstalter immer wieder neu asphaltieren, bekommen sie die Bodenwellen nicht in den Griff. Das liegt daran, dass der Untergrund, auf dem die Rennstrecke errichtet wurde, so sehr nachgibt, dass hier keine Häuser gebaut werden dürfen.

Wegen der hohen Kriminalität, dem schlechten Zustand der Boxenanlagen und der Piste sowie den chaotischen Verhältnissen um die Rennstrecke herum - immer wieder werden Teammitglieder auf offener Straße ausgeraubt - wurden Rufe laut, das Rennen aus dem Kalender zu streichen. Doch was wäre die Formel 1 ohne ein Rennen auf brasilianischem Boden?

Senna holte den Grand Prix wieder nach Interlagos

Einst war es Volksheld Ayrton Senna zu Beginn der 90er, der wie Rubens Barrichello, Cristiano da Matta und Antonio Pizzonia ein Paulista ist und das Rennen wieder von Rio de Janeiro nach Sao Paulo lockte, auch wenn sicherlich die Tatsache, dass der Franzose Philippe Streiff im Jahr davor nach einem Unfall wegen mangelhafter Hilfeleistung durch das Streckenpersonal eine Querschnittslähmung davontrug, dem Streckenwechsel nachhalf.

Es war 1973, als der Grand Prix von Brasilien erstmals in Interlagos stattfand, bevor man 1979 das Rennen über einige Jahre hinweg in Jacarepaguá in der Nähe von Rio de Janeiro austrug. 1990 kehrte das Rennen nach Interlagos zurück, nachdem die Strecke modernisiert wurde. Übrigens stammt ein Teil des Streckendesigns aus dem Kopf des legendären Nationalhelden Ayrton Senna, was erklärt, warum der Streckenverlauf den Fahrern zumeist gefällt und der Kurs fahrerisch recht anspruchsvoll ist.

Ungewöhnlich ist in Brasilien vor allem die Start- und Zielgerade, die nicht eben ist und die Autos am Start leicht ins Rollen geraten lässt. Ferner liegt sie niedriger als die Boxengasse, was dazu führt, dass die Teamchefs auf ihren Kommandoständen wie in einer Theaterloge auf ihre Fahrer schauen können. Für die nicht nummerierte Haupttribüne stehen viele Fans eine ganze Nacht Schlange, was vor den Eingängen zu chaotischen Zuständen führt. Dem Europäer, der nicht selten unter dem Verkehrschaos, dem Smog und oftmals auch einer Magenverstimmung wegen des Essens leidet, ein wenig erholsames Erlebnis...

In Sachen Setup ist ein Kompromiss gefragt

Die Strecke selbst sorgt dafür, dass die Fahrer und ihre Ingenieure beim Abstimmen der Autos tüchtig ins Schwitzen kommen. Im Qualifying wurde nach altem Reglement für eine schnelle Runde mit viel Flügel gefahren, im Rennen benötigte man eine völlig andere Abstimmung, um auf den langen Geraden über genügend Höchstgeschwindigkeit zu verfügen, um überholen zu können und um nicht selbst überholt zu werden. Mit dem neuen Reglement ist das freilich hinfällig, da das Setup ja nach dem Qualifying nicht mehr angerührt werden darf. Laut Pat Symonds von Renault ist dies aber weniger gravierend als zunächst angenommen, weil die Aerodynamik wegen des geringeren atmosphärischen Drucks in der Höhenlage eine weniger bedeutende Rolle spielt als anderswo.

Los geht es auf der Start- und Zielgeraden, auf der die Piloten Tempo 310 erreichen. Das Senna-S nach Start und Ziel, das nur mit etwas mehr als 100 km/h durchfahren wird und nach unten abfällt, bietet eine gute Überholmöglichkeit. Der Kurvenausgang ist wichtig, um auf der folgenden Geraden möglichst schnell zu sein. Bei rund 305 km/h steigen die Piloten wieder in die Eisen, um eine mit knapp 140 km/h mittelschnelle Linkskurve zu durchfahren, die von einem sehr schnellen Linksknick gefolgt wird.

Nach diesem schnellen Teil folgt das Infield, das mit seinen drei Kurven, die mit weniger als 100 km/h durchfahren werden, eigentlich nach sehr viel Flügel verlangt. Hier gilt es, den richtigen Kompromiss zu finden. Nach der aufregenden Mergulho-Senke, die mit zirka 190 km/h durchfahren wird, geht es nach einem Linksknick zurück in Richtung Start- und Zielgerade. In der letzten Kurve gilt es aus diesem Grund, für die folgende lang gezogene Linkskurve Schwung zu holen. Ab dort geht es bis zum Senna-S mit Vollgas weiter.

2004:
Lokalmatador Rubens Barrichello (Ferrari) entscheidet auf feuchter Strecke den Start für sich, doch je trockener die Bedingungen werden, desto schneller werden die Michelin-Piloten - und ab Runde fünf waren sowieso Trockenpneus die schnellere Wahl. Zunächst hat Fernando Alonso (Renault) seine Nase vorne, doch der Spanier kann die Pace des späteren Siegerduos nicht ganz gehen: Kimi Räikkönen (McLaren-Mercedes) und Juan-Pablo Montoya (BMW WilliamsF1 Team) liefern sich in der Boxengasse ein Rad-an-Rad-Duell, welches Räikkönen zunächst für sich entscheiden kann, doch beim Anbremsen der dritten Kurve hat Montoya doch das bessere Ende für sich. Für das BMW WilliamsF1 Team ist es der erste Saisonsieg im letzten Rennen. Barrichello wird Dritter vor Alonso, Ralf Schumacher (BMW WilliamsF1 Team), Takuma Sato (BAR-Honda) und Michael Schumacher (Ferrari). Letzterer verschenkt seine Chancen zu Beginn mit einem unnötigen Dreher.

2003:
Brasilien 2003 ist das wohl actionreichste Formel-1-Rennen der letzten Jahre: Im chaotischen Regen wird der Grand Prix hinter dem Safety-Car gestartet. Früh verabschieden sich wegen eines kleinen Bächleins im Senna-S der Reihe nach einige große Favoriten - darunter auch Michael Schumacher (Ferrari) und Juan-Pablo Montoya (BMW WilliamsF1 Team). Für eine Weile sieht es dann nach einem Sieger Rubens Barrichello (Ferrari) aus, doch der Lokalmatador rollt in Führung liegend mit defekter Benzinpumpe aus. Davon profitiert David Coulthard (McLaren-Mercedes), der allerdings früher als die Konkurrenz zur Box kommen muss und dadurch einen sicheren Sieg verliert, weil nach dem Horrorunfall von Renault-Pilot Fernando Alonso endgültig abgebrochen werden muss. Auf dem Podium wird zunächst Kimi Räikkönen (McLaren-Mercedes) als Sieger gefeiert, ein paar Tage später erklärt die FIA aber Giancarlo Fisichella (Jordan-Ford) nachträglich zum Sieger.

2002:
Titelverteidiger Michael Schumacher tritt nach einer empfindlichen Niederlage früher als geplant erstmals mit dem neuen F2002 an, während Teamkollege Barrichello noch mit dem Vorjahreswagen Vorlieb nehmen muss. Letzterer scheidet ohne Chance auf den Sieg aus, Schumacher aber fährt nach einer für ihn folgenlosen Kollision mit Montoya am Start ein cleveres Rennen. In den letzten Runden setzt er sich erfolgreich gegen Bruder Ralf im offensichtlich schnelleren Williams BMW FW24 zur Wehr, weil er aus der letzten Kurve heraus die bessere Traktion hat und so nicht zu überholen ist.

2001:
Mitten im Rennen geht ein Regenschauer nieder, der dafür sorgt, dass das Klassement gewaltig durcheinander gewirbelt wird. Doch schon davor geht es drunter und drüber: Zuerst knallt Ferrari-Pilot Rubens Barrichello Ralf Schumacher ins Heck, dann der überrundete Jos Verstappen Juan-Pablo Montoya im zweiten Auto des BMW WilliamsF1 Teams. Das Rennen kann nach einer tollen Fahrt David Coulthard im McLaren-Mercedes für sich entscheiden - damit ist die Statistik, die seit 1994 gegolten hatte, dass jener Fahrer, der in Brasilien gewinnt, auch Weltmeister wird, ungültig. Michael Schumacher rettet noch einen zweiten Platz vor Nick Heidfeld, der im Sauber-Petronas seinen ersten Podiumsplatz einfahren kann. Von den 22 gestarteten Fahrern sehen zwölf die Zielflagge nicht.

2000:
Mit rund vier Sekunden Vorsprung sichert sich Michael Schumacher seinen zweiten Saisonsieg vor McLaren-Mercedes-Pilot David Coulthard, der aber nach dem Rennen wegen eines zu niedrigen Frontflügels disqualifiziert wird. Benetton-Pilot Giancarlo Fisichella rückt deshalb auf den zweiten Platz vor, Heinz-Harald Frentzen im Jordan-Mugen-Honda wird Dritter. Jenson Button wird Sechster und holt mit seinen 20 Jahren als jüngster Brite aller Zeiten seinen ersten WM-Punkt. Das Sauber-Team zieht beide Autos bereits vor dem Qualifying zurück, nachdem zwei Heckflügel an beiden Autos von den Bodenwellen weichgeklopft worden waren.

1999:
Für Mika Häkkinen ist es der zweite Sieg in Folge auf dem anspruchvollen Kurs von Interlagos, und anschließend sollte er auch seinen zweiten WM-Titel gewinnen. Der Finne hat Glück, denn ein Getriebeproblem lässt ihn zunächst weit zurückfallen, doch das lahmende Auto repariert sich wie von Geisterhand von selbst. Michael Schumacher kann überholen, einer liegt jedoch überraschend noch weiter vorne: Rubens Barrichello. Doch kurze Zeit später ist mit der wundersamen Führung Schluss, als der Ford-Motor im Stewart des Brasilianers verraucht.

1998:
Die dominierenden McLaren-Mercedes belegen die komplette erste Startreihe für sich und geben die Doppelführung auch nicht mehr ab, Mika Häkkinen siegt so vor David Coulthard. Die größte Überraschung des Rennens ist Alexander Wurz, der ein tolles Rennen mit vielen Überholmanövern fährt und auf den vierten Platz kommt.

1997:
Glück für Jacques Villeneuve: Nach einer Beinahekollision mit Michael Schumacher in der ersten Kurve muss der Kanadier durch die Wiese fahren und verliert viel Zeit, kann aber wieder von vorne starten, als die Rennleitung das Rennen nach einem Unfall noch in der ersten Runde abbricht. Der in der Schlussphase stark aufgeigende Benetton-Pilot Gerhard Berger kann nur noch Platz zwei für sich beanspruchen. Villeneuve gewinnt das Rennen und wird später Weltmeister.

1996:
Damon Hill zeigt in Brasilien mit seinem zweiten Saisonsieg, dass er auch im Regen gut fahren kann. Mit mehr als 17 Sekunden Vorsprung kommt der spätere Weltmeister vor Jean Alesi im Benetton ins Ziel. Lokalmatador Rubens Barrichello liegt auf Platz drei, bevor er sich kurz vor Ende des Rennens von der Strecke dreht. Mika Salo kann seinen Tyrrell überraschend auf den fünften Platz ins Ziel bringen.

1995:
Im Qualifying landet Michael Schumacher mit seinem Benetton mit rund 220 km/h in einer Mauer, und das Team kündigt an, dass man den amtierenden Weltmeister nur dann ins Rennen schicken werde, wenn der Grund für das Unglück geklärt sei. Das kann man, und so stürmte Schumacher vor WilliamsF1-Pilot David Coulthard auf das Podium. Beide Fahrer werden nach dem Rennen jedoch wegen illegalen Sprits aus der Wertung genommen, nach einer Nachverhandlung aber doch wieder gewertet, wohingegen den Teams die Punkte aberkannt werden.