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"Populäre Entscheidungen": Palmer übt scharfe Kritik an Rennkommissaren

Entscheiden die Rennkommissare in der Formel 1 häufig nicht im Sinne des Sports? Ex-Renault-Pilot Jolyon Palmer übt nach dem Rennen in Monza heftige Kritik

(Motorsport-Total.com) - Haben sich die Rennkommissare in Monza nicht getraut, Charles Leclerc eine Strafe zu geben? Das deutet zumindest Ex-Formel-1-Pilot Jolyon Palmer in seiner aktuellen Kolumne für die 'BBC' an. "Charles Leclerc ist wunderbar gefahren", hält er zunächst fest. "Aber er hätte eine Strafe dafür bekommen sollen, dass er Lewis Hamilton in der zweiten Schikane von der Strecke gedrängt hat", stellt er klar.

Titel-Bild zur News: Charles Leclerc, Valtteri Bottas, Lewis Hamilton

Haben die Rennkommissare in Monza bewusst pro Charles Leclerc entschieden? Zoom

"Zunächst einmal ist das kein faires Racing von Leclerc", erklärt er. Die Formel-1-Regeln besagen, dass man einem anderen Auto eigentlich eine Wagenbreite Platz lassen muss. Das hat Leclerc in der besagten Szene gegen Hamilton nicht getan. "Leclerc hat sich während des Bremsens nach rechts bewegt und Hamilton von der Strecke gedrängt. Hamilton konnte nichts dagegen tun", erinnert Palmer.

Hamilton habe die Wahl gehabt: crashen oder ausweichen. Er entschied sich für letzteres. Leclerc wurde dafür nur mit der schwarz-weißen Flagge verwarnt. "Rennleiter Michael Masi vergleicht es mit einer gelben Karte im Fußball. Aber effektiv ist das nichts anderes als ein Klaps auf die Finger", winkt Palmer ab und erklärt: "Der Fall war meiner Meinung nach klar."

"Ich wollte keine Strafe sehen, weil es das Rennen ruiniert hätte. Aber Regeln sind Regeln", erinnert Palmer, der vermutet, dass Leclerc hier die äußerem Umstände geholfen zu haben. Zum einen hätte eine Strafe - wie von ihm angesprochen - in den Kampf um den Sieg eingegriffen. Zum anderen fand das Rennen in Italien statt. Es handelte sich somit um das Heimrennen von Ferrari.

Palmer fürchtet "Präzedenzfall"

Palmer vergleicht die Situation mit einem Fußballspiel. Dort könne man einer Mannschaft auch keinen klaren Elfmeter und eine rote Karte verweigern. "Man kann sie nicht einfach nicht geben, nur weil alle ein ausgeglicheneres Spiel sehen wollen", erinnert er. In der Formel 1 sei es ähnlich. "Ich fand es extrem unangenehm, wie Masi nach dem Rennen versucht hat, die Situation zu erklären", so Palmer.

Masi erklärte unter anderem, dass man die schwarz-weiße Flagge in Zukunft häufiger einsetzen werde, um härteres Racing zu ermöglichen. "Aber welchen Präzedenzfall schafft das jetzt?", fragt er - und schickt die Antwort gleich hinterher: "Es bedeutet, dass die Fahrer sich ein Vergehen im Rennen leisten können und damit davonkommen. Welche Art des Racings entsteht dadurch? Und wie ist das ethisch oder fair?"

"[Max] Verstappen ist in Österreich mit einem fragwürdigen Manöver gegen Leclerc durchgekommen, das zum Rennsieg führte. Das hat einen Präzedenzfall dafür geschaffen, dass man andere Fahrer am Kurvenausgang rausdrängen kann. Aber Verstappens Fall war noch leichter zu verteidigen als Leclercs." Denn der Leclerc-Fall führe nun dazu, dass man einen Fahrer bereits vor einer Kurve abdrängen könne.

"Wenn das so ist, dann besteht das Risiko, dass man gar nicht mehr außen herum überholen kann, wenn ein Auto nicht bereits vor der Kurve fast schon komplett vorne ist", warnt er. Zudem ist er mit der Begründung, dass es keine härtere Strafe gegeben habe, weil es keinen Kontakt gab, nicht glücklich. "Auf den ersten Blick ergibt das Sinn", räumt der ehemalige Renault-Pilot ein.

Suchen Piloten ab jetzt den Kontakt?

"Aber die Wahrheit ist, dass es dieses Mal nur keinen Kontakt gab, weil Hamilton ausgewichen ist", erklärt er. 2018 gab es in Monza eine ähnliche Situation zwischen Max Verstappen und Valtteri Bottas. Damals gab es eine Berührung - und eine Strafe gegen den Niederländer. Palmer sieht darin ein weiteres Problem. Denn ab sofort werden die Piloten den Kontakt in solchen Fällen seiner Meinung nach suchen.

"Fahrer werden immer alles tun, um einen Vorteil zu haben", erinnert er und erklärt: "Wenn sie plötzlich damit durchkommen, einen anderen Fahrer einmal pro Rennen abzudrängen, dann werden sie es machen. Und wenn der andere Fahrer einen Vorteil daraus ziehen kann, dass es eine kleine Berührung gibt, dann wird er sie suchen." Denn so könne man eine Strafe für den Gegner forcieren.

Für Palmer ist das gerade in der aktuellen Situation extrem problematisch. Denn durch den Tod von Formel-2-Pilot Anthoine Hubert in Spa stehe die Sicherheit momentan besonders im Fokus. "Es wirkt idiotisch oder komplett unverantwortlich - oder sogar beides", findet er deutliche Worte. "Das Problem ist meiner Meinung nach, dass die Entscheidungen nicht konstant sind", ergänzt er.

Er habe das Gefühl, dass Entscheidungen häufig so getroffen werden, dass sie möglichst populär sind. Das sei aber nicht im Sinne des Sports. Er erinnert daran, dass Daniil Kwjat zu Saisonbeginn in China eine Durchfahrtsstrafe bekam, die von vielen als zu hart eingestuft wurde. "Hätte Leclerc die gleiche Strafe bekommen? Da habe ich meine Zweifel.", grübelt Palmer.

Warum bekam Leclerc keine "gelb-rote Karte"?

Der Unterschied: Kwjat habe aufgrund seiner Vorgeschichte einen eher schlechten Ruf, während Leclerc ein "sehr populärer Fahrer" sei. In Monza habe sich der 21-Jährige nach seinem Manöver gegen Hamilton sogar noch weitere Situationen geleistet, in den er "am Limit" des Erlaubten gewesen sei. In Kurve 1 kürzte er anschließend einmal ab, und in der Curva Grande vollzog er einen aggressiven Spurwechsel.

"Für sich genommen kann ich verstehen, dass man es durchgehen lässt", erklärt Palmer. Aber nachdem er für die Aktion gegen Hamilton bereits die "gelbe Karte" gesehen habe, seien diese Zwischenfälle ein "zweites Vergehen" gewesen, für das man im Fußball dann die gelb-rote Karte sehen würde. Auch in den beiden Situationen gab es aber keine Sanktion gegen Leclerc.

Für Palmer ist das "problematisch", weil Urteile der Rennkommissare so nicht absehbar seien. Ein Punkt, den nach dem Rennen auch Hamilton kritisierte. "Meiner Meinung nach braucht die Formel 1 bei den Regeln einen kompletten Neustart. Es ist eine kontroverse Idee, aber ich glaube, dass der Sport permanente Rennkommissare oder ein Team braucht, das die gleichen oder ähnliche Ansichten teilt", so Palmer.


Fotostrecke: Italien: Fahrernoten der Redaktion

Man müsse sicherstellen, dass die Regeln glasklar sind, und dass absolute Klarheit darüber herrsche, was im Zweikampf erlaubt ist. "Das wird kurzfristig natürlich zu einigen unbequemen und unpopulären Momenten führen. Aber sobald man eine Konstanz erreicht hat und die Fahrer ganz genau wissen, was erlaubt ist und was nicht, wird die Formel 1 fairer, sicherer und besser sein", glaubt Palmer.

Auch Rosberg fordert einheitliche Linie

Ex-Weltmeister Nico Rosberg sieht die Situation übrigens anders als Palmer. Im neuen Video auf seinem YouTube-Kanal erklärt er: "In den Regeln steht, dass man eine Autobreite Platz lassen muss. Das ist sehr klar. Laut den Regeln hätte es also zu 100 Prozent eine Strafe [gegen Leclerc] erfordert, weil die Wagenbreite nicht da war. Daran besteht kein Zweifel."

Gleichzeitig verweist er aber auf Masi und dessen Aussagen bezüglich der schwarz-weißen Flagge. "Das ist auch das, was wir alle nach Montreal wollten", erinnert Rosberg. Damals bekam Sebastian Vettel für eine ähnliche Aktion gegen Hamilton eine Fünf-Sekunden-Strafe, die von vielen kritisiert wurde. Nur wenige - darunter übrigens auch Palmer - hielten die Strafe für richtig.

Anschließend verständigte man sich darauf, den Fahrern in Zukunft wieder mehr Freiheiten im Zweikampf zu erlauben. "Solches Racing wollen wir sehen. Wir wollen hartes Racing am Limit", erinnert Rosberg und erklärt: "Natürlich ist es eine schmale Grenze, denn es darf nicht zu gefährlich werden - und Leclerc war defintiv an dieser Grenze. Ein bisschen mehr wäre definitiv zu viel gewesen."


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Grundsätzlich sei es im Sinne der neuen Herangehensweise aber die "richtige Entscheidung" gewesen, Leclerc nicht zu bestrafen. Bei einer Sache stimmt Rosberg Palmer jedoch zu. Auch er ist der Meinung, dass es unbedingt Konstanz bei den Entscheidungen geben muss. "Es muss immer gleich sein", fordert der Ex-Champion. Ob man die aktuelle Linie beibehält, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten zeigen.

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