• 12.03.2012 14:12

Norbert Haug: "Wir wollen alle nur das eine"

Im großen Interview zum Saisonstart spricht Mercedes-Sportchef Norbert Haug über die Ziele des Teams und seine Fahrer Michael Schumacher und Nico Rosberg

(Motorsport-Total.com/SID) - Das Ziel bleibt der WM-Titel, auf dem schwierigen Weg dorthin fordert Mercedes-Sportchef Norbert Haug für die Silberpfeile aber weiterhin Geduld ein. "Man kann nicht zwei Jahre nach der Gründung und Neuausrichtung eines Teams um die Weltmeisterschaft fahren. Das haben die amtierenden Weltmeister nicht geschafft, das haben wir damals mit McLaren nicht geschafft", sagte Haug im Vorfeld des Saisonauftakts in Melbourne. "Natürlich wollen wir diese Aufbauphase so kurz wie möglich halten, aber wir müssen die Lage auch realistisch einschätzen."

Titel-Bild zur News: Norbert Haug (Mercedes-Motorsportchef), Michael Schumacher

Norbert Haug will Mercedes an die Spitze der Formel 1 führen

Frage: "Was ist für Sie im Moment die schwierigere Aufgabe: Das Team dahin zu bringen, dass das Auto die eigenen Erwartungen erfüllt, oder dem Vorstand und den Fans zu erklären, warum es eine gewisse Zeit braucht, dorthin zu kommen?"
Norbert Haug: "Die Fans, die die Szene oft aus dem Effeff kennen, wissen, dass ein neu aufgestelltes Team eine Zeit braucht, um Erfolg zu haben. Das ist bei uns im Haus natürlich auch bekannt. Mit dem vierten Platz vom letzten Jahr sind wir trotzdem nicht zufrieden. Aber wir müssen uns zunächst eine Basis bauen. Von der ausgehend wollen wir uns steigern. Insofern herrscht hier vollkommene Klarheit in unserem Haus. Von den Medien gibt es Kritik, wenn wir die Erwartungen nicht erfüllen können. Das verstehe ich vollkommen, aber wir müssen und werden trotzdem unbeirrt unseren Weg gehen."

Frage: "Michael Schumacher hat zuletzt gesagt, dass der WM-Titel von Brawn 2009 für den Aufbau des neuen Teams nicht gerade eine Hilfe war. Weil danach die Erwartungen höher waren und sich Brawn 2009 ganz lange auf den WM-Kampf hatte konzentrieren müssen und wenig Zeit hatte, das Auto für 2010 vorzubereiten."
Haug: "Das Team war damals in einer kompletten Umrüstungsphase. Es gehörte Honda, dann ist Honda ausgestiegen, und das Team musste schauen, wie es weiterkommt. Sie hatten bei uns wegen eines Motorleasings angefragt. Das Jahr 2009 war dann ein erfolgreiches mit Titelgewinn, aber schon mit einer heruntergefahrenen Mannschaft."

"Das wurde 2010 zunächst so beibehalten. Die Restriktionen, die sich die Teams damals als freiwillige Selbstbeschränkung auferlegt hatten, haben sicherlich nicht bei allen so gegriffen wie ursprünglich beabsichtigt. Wir wurden dadurch gezwungen, uns etwas anzugleichen, um die notwendigen Voraussetzungen für gute Ergebnisse zu schaffen."

Umstrukturierung braucht Zeit

Michael Schumacher

Mit dem F1 W03 will Mercedes den Anschluss an die Spitze schaffen Zoom

Frage: "Hat man bei Mercedes also etwas konservativer und restriktiver gehandelt als die Konkurrenz und musste daher jetzt wieder ein bisschen aufstocken?"
Haug: "Ich glaube nicht, dass wir restriktiver gehandelt haben. Ich glaube, dass wir im letzten Jahr mit einem treffsicheren Konzept einen etwas besseren Job hätten machen können. Aber man kann nicht zwei Jahre nach der Gründung und Neuausrichtung eines Teams um die Weltmeisterschaft fahren. Das haben die amtierenden Weltmeister nicht geschafft, das haben wir damals mit McLaren nicht geschafft. Man muss diese Aufbauzeit akzeptieren, und in dieser Zeit muss man sich dann auch kritische Fragen stellen lassen. Beides tun wir mit entspannter Konzentriertheit."

Frage: "Red Bull war nach gut fünf Jahren WM-fähig. Ist es ein Ziel, schneller zu sein als solche Vorbilder?"
Haug: "Man kann sicherlich immer sagen, dass man es so schnell wie möglich schaffen will. Wir haben es mit McLaren auch in einer kürzeren Zeitspanne geschafft. Die Phase von vor 10 oder 15 Jahren ist mit der heutigen nicht vergleichbar. Es war nie leicht, um den Titel zu fahren, es war immer ein harter Kampf. Aber wir leben im Jetzt und müssen uns mit dem beschäftigen, was jetzt Sache ist. Natürlich wollen wir diese Aufbauphase so kurz wie möglich halten, aber wir müssen die Lage auch realistisch einschätzen."

Frage: "Ihren beiden Fahrern attestieren alle Experten, dass sie in der Lage sind, Rennen zu gewinnen, wenn das Material stimmt. In den letzten beiden Jahren hat Nico Rosberg vor allem im Qualifying Schumacher doch deutlicher dominiert, als viele das erwartet hätten. Sie auch?"
Haug: "Ich glaube, man darf nicht nur das Qualifying, sondern muss hauptsächlich auch das Rennen sehen, wo es die Punkte gibt. Da hat Michael 2011 oft gleichgezogen oder war vorne. Nico ist ein sehr, sehr schneller Fahrer. Er zählt für die Experten zu den Top 5, wenn man nicht sogar den Kreis noch enger stecken kann. Er hat noch keinen Grand Prix gewonnen, aber er hat das Zeug dazu."

"Michael hat im Rennen im letzten Jahr sehr oft einen Speed auf einem Level mit Nico gezeigt, teilweise sogar besser. So zeigt sich, dass Michael die geforderte Leistung bringt. Auch die Leistung, überholen zu können. Er hat die beste Überholbilanz im ganzen Feld, nicht nur in der ersten Runde. Seine Qualifying-Performance war nicht immer auf dem Punkt, aber es ging manchmal nur um wenige Zehntel im Vergleich zu Nico, der schnell und auch schon mit großer Erfahrung ausgestattet ist. Deshalb muss man Michaels Leistung hoch bewerten."

Frage: "Wie schwer war es im vorigen Jahr, den Vertrag mit Rosberg zu verlängern? Es gab ja offenbar durchaus andere namhafte Interessenten."
Haug: "Mir ist nicht bekannt, dass es namhafte andere Interessenten gab. Wir haben den Vertrag verlängert, weil Nico das Gleiche wollte wie wir auch - mit den Mercedes-Silberpfeilen erfolgreich sein."

Verlängerung mit Schumacher kein Thema

Michael Schumacher

Michael Schumachers Vertrag läuft am Saisonende aus Zoom

Frage: "Wie sieht es mit der Zukunft von Schumacher aus? Gibt es da Bestrebungen oder Wünsche?"
Haug: "Das ist überhaupt gar kein Thema. Wir verhalten uns genauso, wie es gesagt worden ist, von Michael und von der Teamleitung. Wir kümmern uns jetzt um unser Auto und den Saisonstart. Und wenn dann irgendwann mal zur Saisonmitte Zeit ist, dann werden wir uns zusammensetzen und überlegen, wie wir die Zukunft weiter gestalten. Jetzt gibt es da gar keinen Handlungsbedarf."

Frage: "Wie wichtig ist Schumacher als Antreiber und Motivator hinter den Kulissen?"
Haug: "Der Begriff Antreiber gefällt mir nicht, das hört sich für mich ein bisschen nach Peitsche und Geschrei an. Aber das ist nicht der Fall. Michael wirkt motivierend, er bringt seine ganze Erfahrung ein und ergänzt sich hervorragend mit Nico. Mit Ross Brawn haben wir den erfolgreichsten Teamchef der Branche, der mehr Weltmeisterschaften gewonnen hat als jeder andere Teamchef. Die meisten davon mit Michael. Wir haben mit McLaren Weltmeisterschaften gewonnen. Die Techniker, die wir jetzt frisch an Bord haben, wissen auch, wie ein WM-Auto aussieht und haben Titel gewonnen. Wir haben da eine ganz gute Zusammenstellung, die aber wachsen und sich aneinander gewöhnen muss."


Fotos: Mercedes, Testfahrten in Barcelona


Frage: "Es gibt im Team durch die Neuzugänge auf Ingenieursebene jetzt gleich fünf frühere Technikchefs, die alle schon einmal selbst für ein Team verantwortlich waren. Ist es schwer, so viel Kompetenz so zu koordinieren, dass sie sich nicht gegenseitig stören oder aneinander vorbeiarbeiten?"
Haug: "Nein, überhaupt nicht. Wir haben da eine sehr gute Organisationsstruktur, totale Harmonie und eine total gleiche Zielsetzung. Wir wollen alle nur das eine. Das Team als Gesamtes steht absolut über jedem Einzel-Ego. Kein Teammitglied ist wichtiger als das Team."

Neue Organisation im Team

Nico Rosberg

Nico Rosberg fährt bis 2015 für die Silberpfeile Zoom

Frage: "Konnten sich alle Neuzugänge schon hundertprozentig in das neue Auto einbringen oder kommt die Wirkung bestimmter Leute vielleicht erst im Laufe der Saison zum Tragen?"
Haug: "Er sind vor allem organisatorische Dinge, die erweitert und gestützt werden. Was Ross vorher alles selbst überschauen musste, wird jetzt einfach aufgesplittet in Fachbereiche. Das tut der ganzen Sache gut. Klar ist, dass ein Kollege, der seit April eingebunden ist, grundsätzlich mehr mit dem neuen Auto zu tun hatte als einer, der erst im Oktober oder Dezember kam. Aber wichtig sind die organisatorischen Erweiterungen, und da haben wir sicher sehr gute Schritte gemacht."

Frage: "Braucht man bei einem Formel-1-Auto einen Geniestreich oder einen Geistesblitz, um auf einen Schlag einen deutlichen Schritt nach vorne zu machen, oder reicht dafür auch Feinschliff in allen Bereichen?"
Haug: "Mehrere Geistesblitze, die funktionieren, sind natürlich besser. Niemand hat etwas dagegen, von einem Jahr aufs nächste zwei Sekunden zu finden. Allerdings sieht es in der Praxis in aller Regel nicht so aus. Man muss schon für zwei Zehntel jede Menge tun. Da sind wir dabei, und wir glauben, dass wir mit einer systematischen Annäherung, mit einer konsequenten Handlung durchaus Verbesserungen erreicht haben. Ich kann versichern, dass wir ein besseres Auto haben. Wie weit sich die Konkurrenz gesteigert hat, kann keiner sagen, bevor man nicht unmittelbar im Renntrimm gegeneinander fährt."

Mercedes F1 W03

Über die Nase des Mercedes wurde viel spekuliert Zoom

Frage: "Gibt es am Auto die eine oder andere Idee, die vielleicht im Laufe der Saison überraschen wird? Bei den Testfahrten wurde gerne mal die Nase des Autos verdeckt. Kann man das eine oder andere innovative Detail vom Silberpfeil erwarten?"
Haug: "Man kann auch was verdecken, um die Aufmerksamkeit von einer anderen Partie wegzuziehen. Darauf würde ich nicht soviel setzen. Was verdeckt wird, steht im Fokus. Vielleicht ist der Pfiff aber ganz woanders. Ich sage nicht, dass das bei uns der Fall ist. Aber wie man so schön sagt: Tarnen und Täuschen gehört zum Geschäft. Sobald die Saison läuft, darf man nicht mehr Teile des Fahrzeugs abdecken, das lässt das Reglement nicht zu. Jetzt darf man es noch, also macht man es auch. Übrigens nicht nur wir, sondern alle. In Melbourne wird man sehen, wo jeder steht."

Frage: "Hat sich die Strategie gelohnt, mit dem neuen Auto länger zu warten als die Konkurrenz und es erst zum zweiten Test zu bringen?"
Haug: "Auch das wird man erst in Melbourne sehen. Wir denken, ja, dass wir für unseren Aufholprozess das Richtige getan haben. Den Beweis müssen wir auf der Rennstrecke antreten."

"Vettel ist der Favorit"

Frage: "Die Konkurrenz war in den letzten beiden Jahren in erster Linie Sebastian Vettel. Ist er auch 2012 wieder der Mann, den man schlagen muss, um Weltmeister zu werden?"
Haug: "Sicher. Der Weltmeister geht immer als Favorit ins nächste Jahr. Aber wir haben es mindestens mit einer Handvoll Konkurrenten zu tun gehabt, nicht nur mit Sebastian, auch mit den McLaren-Fahrern, den Ferrari-Fahrern. Es ist uns nicht regelmäßig gelungen, in die Top 6 zu kommen. Für die Zukunft wollen wir das so regelmäßig wie möglich schaffen."

Sebastian Vettel

Sebastian Vettel sind für Haug nach wie vor das Maß der Dinge Zoom

Frage: "Ist Vettel in der Lage, eine ähnliche Ära zu prägen, wie es Schumacher getan hat?"
Haug: "Das kann ich nicht sagen. Ich kann nicht in die Zukunft des Teams von Vettel schauen. Ich glaube auch nicht, dass diese Frage zu Beginn der Schumacher-Erfolgsserie jemand hätte beantworten können. Sebastian hat jetzt sicher die beste Chance, aber Dominanzen werden abgelöst, wenn ich daran denke, dass wir seinerzeit auch durch Fehler unsererseits mitgewirkt haben, dass Michael Titel gewonnen hat. Wir müssen uns auf unsere Themen konzentrieren."

Frage: "Ist Vettel mit seinem ganzen Auftreten im Moment ein würdiger Botschafter für die Formel 1, vor allem in Deutschland?"
Haug: "Das ist er allemal, und er hat sich jeden sportlichen Erfolg hart erarbeitet und verdient. Er ist ein absoluter positiver Sonderfall nicht nur für die Formel 1, sondern für den Sport allgemein."

Frage: "Schumacher hat gesagt, dass er selbst sogar ein kleines bisschen stolz auf Vettels Erfolge ist. Sie wären sicher stolz, wenn Schumacher sein Comeback mit Erfolgen bei Mercedes krönen würde. Wäre mit einem Sieg schon der Punkt erreicht, an dem man sagt: Alles richtig gemacht?"
Haug: "Ich möchte nicht in Hypothesen sprechen. Ich möchte das erreichen, was wir uns vorgenommen haben. Eine Steigerung auf der Rennstrecke, und dann sprechen wir da wieder drüber. Klar ist, dass wir uns steigern wollen. Klar ist, dass wir Aufbauzeit brauchen. Klar ist, dass wir uns absolut freuen würden, wenn wir das mit Schumacher hinbekommen. Aber wir haben keine Favoritenlösung. Ob das Rosberg oder Schumacher ist, unsere Fahrer haben gleiche Voraussetzungen. Wir wollen unseren Fahrern das Arbeitsgerät bauen, das vordere Platzierungen möglich macht und das braucht Zeit und Geduld."