Mercedes-Doppelsieg in Spa: Taktische Meisterleistung von George Russell!

George Russell gewinnt den Grand Prix von Belgien mit einer Einstoppstrategie, die vorher keiner auf dem Zettel hatte - McLaren enttäuscht, Verstappen auf P5

(Motorsport-Total.com) - Das ist ein Ergebnis, mit dem kaum einer gerechnet hat: Mercedes feiert einen Doppelsieg beim Grand Prix von Belgien, das favorisierte McLaren-Duo hat letztendlich keine Chance auf den Sieg, und Max Verstappens Aufholjagd endet auf Platz 5. Der große Triumphator ist letztendlich George Russell - und zwar mit einer taktischen Meisterleistung.

Titel-Bild zur News: Lewis Hamilton, George Russell, Oscar Piastri

George Russell hat den Grand Prix von Belgien 2024 überraschend gewonnen Zoom

In den letzten Runden verteidigte sich der Brite mit den unterlegenen Reifen gegen seinen eigenen Teamkollegen Lewis Hamilton, in einem Rennen, in dem keine Teamorder ausgesprochen wurde. Auf der Ziellinie hatte Russell gerade mal 0,5 Sekunden Vorsprung auf Hamilton und 1,2 Sekunden auf McLaren-Pilot Oscar Piastri.

Russells Einstoppstrategie hatte vor dem Rennen kaum jemand auf dem Schirm. Seitens Reifenhersteller Pirelli wurden zwei Stopps für wahrscheinlich gehalten, drei Stopps für möglich. Aber ein Einstopprennen hatte kaum jemand auf dem Zettel, und auch Russell musste sich mit der Idee dazu gegen seinen eher verhalten reagierenden Kommandostand durchsetzen.

Ein Sieg, der für viele überraschend kam. Auch für ServusTV-Experte Philipp Brändle, einen ehemaligen Mercedes-Mitarbeiter. Er meinte während der Live-Übertragung des Rennens: "Gestern hat irgendein Experte gesagt, dass er nicht glaubt, dass ein Mercedes auf dem Podium steht. Ich weiß nicht, was für ein Experte das war. Aber der hatte offenbar keine Ahnung!" Der Experte war nämlich er selbst.

Vierter wurde Charles Leclerc (Ferrari), vor Max Verstappen (Red Bull), Lando Norris (McLaren), Carlos Sainz (Ferrari) und Sergio Perez (Red Bull). Letzterer sicherte sich in der allerletzten Runde noch den Bonuspunkt für die schnellste Rennrunde (1:44.701 Minuten).

Trotzdem hat der Mexikaner damit wohl nicht den Kopf aus der Schlinge gezogen: "Das ist nicht, was wir uns von ihm erwartet haben. Er ist vor allem im letzten Stint komplett eingebrochen", analysiert Helmut Marko im Interview mit ServusTV.

Über Verstappens Rennen sagt er: "Wir sind negativ überrascht. Es hat sich herausgestellt, dass das Überholen gleich schwer wie in Ungarn war. Wenn Max in Sektor 2 zu nah am Vordermann dran war, ist das zu Lasten der Vorderreifen gegangen. Aber es fehlte uns auch an Topspeed. Das Positive ist: Wir haben wieder zwei Punkte auf Lando gutgemacht."

Fernando Alonso (Aston Martin) und Esteban Ocon (Alpine) rundeten die Top 10 ab. Nico Hülkenberg (Haas) wurde 19. Guanyu Zhou (Sauber) schied aus.

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Warum kam McLaren nicht schneller nach vorn?

Leclerc konnte seine Pole sicher in die Führung umwandeln und diese auch bis zum kritischen Punkt bei Les Combes verteidigen. Danach hatte er erstmal ein bisschen Zeit zum Durchatmen, mit Hamilton und Perez hinter sich. Hamilton hatte sich Perez schon vor Eau Rouge geschnappt.

Für McLaren, auf Basis der Freitagsdaten das Favoritenteam, lief die Startphase hingegen nicht wie erhofft. Norris verlor in der ersten Runde drei Positionen und kam als Siebter aus der ersten Runde zurück. Er fuhr ausgangs La Source zu weit nach draußen, es staubte mächtig, und so verlor er Momentum auf dem Weg runter zu Eau Rouge.

"Ich habe mich einfach verschätzt", gibt Norris zu. "Ich wollte in Kurve 1 nicht abgeräumt werden, also habe ich mehr Platz gelassen. Dabei habe ich mich am Ausgang einfach verschätzt. Das hat mich ein paar Positionen gekostet, und danach war es unmöglich zu überholen."

In der zweiten Runde hatte Norris schon den von P11 gestarteten Verstappen im Rückspiegel. Verstappens Renningenieur Gianpiero Lambiase funkte: "Bleib geduldig, Max." Und: "Geh vernünftig mit den Reifen um."

Praktisch das komplette Spitzenfeld startete auf Mediumreifen. Nur Sainz hatte die harten Pirellis drauf, und verbesserte sich damit gleich mal um eine Position. Er lag zu Beginn auf P6.

In Runde 3 dann der erste Führungswechsel: In der ersten Runde, in der Hamilton DRS aufklappen durfte, ging er bei Kemmel relativ mühelos an Leclerc vorbei. Nach fünf Runden hatte Hamilton erstmals mehr als eine Sekunde Vorsprung und damit den Ferrari aus der DRS-Sekunde abgeschüttelt.

Nach acht Runden führte Hamilton 1,7 Sekunden vor Leclerc, 3,8 vor Perez, 5,1 vor Piastri, 6,5 vor Russell, 7,1 vor Sainz, 7,8 vor Norris und 8,2 vor Verstappen. Das Rennen entwickelte sich zunächst zu einer Prozession. Und die vier Topteams lagen auf den ersten acht Positionen.

Neunter war Alonso im Aston Martin. Bereits mit fast fünf Sekunden Rückstand auf Verstappen. Zweiklassengesellschaft in der Formel 1.

Wann begannen die Topteams mit den Boxenstopps?

Russell und Verstappen waren die Ersten aus den Top 8, die von Medium auf Hard umsteckten. Sie fielen zunächst auf P13/14 zurück. Eine Runde später kamen Hamilton, Perez und Piastri rein. Piastri fiel durch den späteren Stopp zunächst hinter Russell zurück, korrigierte das aber noch in der gleichen Runde mit einem DRS-Überholmanöver vor Les Combes.

Leclerc war da noch draußen, und funkte an seinen Kommandostand: "Wenn wir jetzt undercuttet werden, dann fahren wir lang." Eine Idee, die vom Team abgelehnt wurde: In Runde 12 kam auch der in Führung liegende Ferrari-Fahrer rein.

Jetzt führte Sainz mit den harten Reifen vor Norris mit den weichen, weil die beiden noch nicht gestoppt hatten. Dahinter lag Hamilton vor Leclerc, Piastri und Perez. McLaren fing jetzt langsam an, jenen Speed zu zeigen, mit dem sie schon am Freitag beeindruckt hatten.

Norris kam in Runde 15 rein und hatte nach seinem Stopp 5,9 Sekunden Rückstand auf Verstappen.

Wie lang blieb Sainz noch draußen?

Sainz lag in Runde 20 immer noch 2,8 Sekunden vor Hamilton in Führung. Auch wenn Pirelli vor dem Rennen erklärt hatte, Spa sei ein Zwei- oder Dreistopprennen, schien Sainz die Tür zu einer Einstoppstrategie zumindest offen zu lassen.

Ende der 20. Runde wechselte Sainz von Hard auf Medium. Er hatte jetzt zwei Optionen: entweder einen Medium mit Samthandschuhen ins Ziel tragen - oder zwei kurze Stints mit hoher Intensität fahren.

Sainz fiel durch den späten Stopp auf Platz 8 zurück, fünf Sekunden hinter Norris. Dafür hatte er jetzt die frischesten Reifen der Spitzengruppe. Und es stellte sich heraus: Es sollten noch zwei Stints werden.

Bereinigt lag jetzt wieder Hamilton in Führung, 1,9 Sekunden vor Leclerc und 4,8 Sekunden vor Piastri, dessen zwischenzeitlich sehr hohes Tempo sich wieder normalisiert hatte.

Was veränderte sich durch die zweite Boxenstoppserie?

In Runde 25 wurde Leclerc zum zweiten Boxenstopp reingeholt, um einen Undercut gegen Hamilton zu versuchen. Er steckte von Hard auf einen frischen Hard um, bei einer mäßigen Standzeit von 3,4 Sekunden wegen eines kleinen Problems links hinten.

Mercedes reagierte eine Runde später. Hamilton wechselte ebenfalls von Hard auf Hard, und er kam hinter Sainz, aber 2,5 Sekunden vor Leclerc wieder auf die Strecke.

Zeitgleich funkte Russell: "Denkt über eine Einstoppstrategie nach!" Russell lag mit 15 Runden alten Hards an zweiter Position, fünf Sekunden hinter Piastri und 8,6 Sekunden vor Hamilton. Piastri fuhr in jener Phase die schnellste Runde im Rennen und wurde von seinem Renningenieur angefeuert: "Das sieht gut aus, Oscar, let's go!"

In Runde 30 kam es zum Positionswechsel im Hause Red Bull: Verstappen überholte Perez mit den frischeren Reifen - der Niederländer hatte für den dritten Stint Mediums aufziehen lassen. Damit lag er jetzt an fünfter Position, und die Boxenstopps von Piastri und Russell waren noch ausständig.

Piastri kam am Ende der 30. Runde rein, zog einen Satz frischer Hards auf und stand 4,4 Sekunden, weil er zu spät bremste und sein Auto für den Boxenstopp nicht gut positionierte. "Das ist das zweite oder dritte Mal, dass ich den 'Jackman' über den Haufen gefahren habe. Ich werde versuchen, das nicht mehr zu wiederholen", räumt Piastri den Fehler ein.

Verstappen sollte bis zum Ende Fünfter bleiben, und er bewertet das so: "Die letzten paar Rennen waren wir nicht die Schnellsten, und wenn du von Platz 11 losfährst, ist Platz 5 das Maximum. Auch mit der Reifenstrategie, die wir hatten. Hätten wir noch einen harten Satz mehr gehabt, wäre vielleicht Platz 4 möglich gewesen."

Wie wurde das Duell um den Sieg entschieden?

Damit war von den Topfahrern nur noch Russell ohne zweiten Boxenstopp. Als Mercedes von ihm wissen wollte, ob er die Einstoppstrategie wirklich durchziehen will, antwortete er: "Ja, copy."

Russell hatte jetzt sieben Sekunden Vorsprung auf Hamilton, aber die um 16 Runden älteren Reifen. Und noch 13 Runden zu je 7,004 Kilometern zu fahren. Der Mercedes-Computer spuckte aus: Mit einer Zweistoppstrategie würde Russell Fünfter werden.

Zehn Runden vor Schluss führte Russell noch 5,3 Sekunden vor Hamilton. Der wollte wissen, ob er mit seinen Rundenzeiten im Soll sei, um Russell zu schlagen. Antwort vom Kommandostand: "Es wird knapp."

Inzwischen war klar: Spa 2024 wird ein Mercedes-Doppelsieg, und Russell und Hamilton kämpfen um den ersten Platz. Leclerc auf Platz 3 hatte bereits 8,9 Sekunden Rückstand.

In der 40. von 44 Runden begann der finale Showdown. Hamilton war jetzt dran an Russell, innerhalb der DRS-Sekunde, und er hatte die frischeren Reifen auf seiner Seite. "Stellt nur sicher, dass ihr einander genug Platz lasst", gab's noch die Warnung am Boxenfunk.

In Runde 42 war Hamilton vor Les Combes erstmals im Windschatten von Russell. Es reichte aber nicht ganz für eine Attacke. Und: Von hinten kam Piastri immer näher. Er hatte jetzt nur noch 2,9 Sekunden Rückstand auf Russell und mit den um 20 Runden frischeren Reifen den klar besseren Speed.

In Runde 43 traf Hamilton La Source nicht perfekt, sodass ihm am Ende der Kemmelgerade die entscheidenden Meter fehlten. Jetzt blieb ihm de facto nur noch ein Versuch, in der letzten Runde. Als die begann, lag Russell 0,6 Sekunden vor Hamilton und 1,1 vor Piastri.

Russell behielt die Nerven und fuhr den Sieg vor Hamilton und Piastri nach Hause. Piastri ärgert sich: "Ich habe ein paar Runden gebraucht, um an Charles vorbeizukommen, und dabei sind die Reifen überhitzt. Aber George hat es goldrichtig gemacht, mit dem harten Satz draußen zu bleiben. Wir hatten einfach nicht genug Pace, um ihn wegzumähen."

Und auch Hamilton trauert dem Sieg nach, den er gegen Rennmitte in Griffweite wähnte: "Ich versuchte näher ranzufahren, aber George hat einen fantastischen Job mit diesen Reifen gemacht. Ich hatte auch in jedem Stint noch Reifen übrig, aber sie haben mich halt reingeholt. Schade. Einer dieser Tage."

Wie geht's nach Belgien weiter?

Selbst für die, die das Rennen bei RTL live gesehen haben, gibt's am Sonntagabend noch einen perfekten Ausklang zum Grand Prix von Belgien, in Form der Rennanalyse mit Kevin Scheuren und Christian Nimmervoll auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de. Diese beginnt um 21:30 Uhr und bereitet alle Infos auf, die unser Rechercheteam vor Ort herausgefunden hat. (Kanal jetzt kostenlos abonnieren und kein neues Formel-1-Video verpassen!)


Wer den Stream nicht live sehen kann, kann das Video natürlich auch als Re-Live schauen, zum Beispiel zum Formel-1-Frühstück am Montagmorgen. Nachteil: Nur während des Streams haben Kanalmitglieder die Möglichkeit, unserem Team im Livechat Fragen zu stellen. (Jetzt Kanalmitglied werden!)

Belgien war der 14. von 24 Grands Prix der Formel-1-Saison 2024, die jetzt erstmal in ihre Sommerpause geht. Vier Wochen ist Pause, ehe es am 25. August mit dem Grand Prix der Niederlande in Zandvoort weitergeht. Zwei der vier Wochen müssen die Teams die Arbeit in den Fabriken komplett niederlegen und in einen sogenannten "Shutdown" gehen. (Hier geht's zum kompletten Formel-1-Kalender 2024!)