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  • 10.10.2015 21:25

  • von Dieter Rencken & Dominik Sharaf

Lebendig begraben: Sicherheitskritik nach Sainz-Unfall

Der Pilot wohlauf, viele Fragen ungeklärt: Wie konnte Carlos Sainz' Auto unter die TecPro-Barriere rutschen? Und wieso dauerte die Bergung fast 20 Minuten?

(Motorsport-Total.com) - Das Auto fast vollkommen verschwunden, vom Helm gar nichts mehr zu sehen, der Funkkontakt abgerissen: Es waren bange Minuten, die die Formel 1 infolge des schweren Trainingsunfalls des Carlos Sainz am Samstagvormittag in Sotschi erlebte. Dem Spanier wurde kein Haar gekrümmt, doch es stellen sich viele Fragen: Wie konnte der Bolide so tief unter die Streckenbegrenzung rutschen? Sind die TecPro-Barrieren wirklich sicher? Und musste es 15 Minuten dauern, bis Sainz befreit war?

Titel-Bild zur News: Carlos Sainz

Die Bergung Sainz' nahm viel Zeit in Anspruch:Dabei ist jede Sekunde wichtig Zoom

Der Unfall wirkt emotional nach: Der Schreck saß Piloten und Verantwortlichen noch Stunden nach den Bildern in den Gliedern. Der Sainz-Unfall ereignete sich an einer der schnellsten Stellen der Strecke. Der Wagen hatte 309,4 km/h auf dem Tacho, als er sich beim Anbremsen zu Kurve 13 quer stellte - eventuell, weil sich das DRS zu spät schloss und Toro Rosso ohnehin mit zu wenig Abtrieb unterwegs war - und in die äußere Betonmauer einschlug. Nach Bruch der Achse gab es für Sainz keine Chance mehr zu verzögern. Angeblich ist er auf der Bodenplatte durch die asphaltierte Auslaufzone gerutscht.

Was danach passierte, sorgte für noch mehr Beunruhigung. Der Toro Rosso grub sich tief unter so genannte TecPro-Barriere - ein System, bei dem mit Gurten zusammengeschnallte Einzelbanden die Stoßenergie absorbieren sollen. Während die Crashstruktur des Boliden noch funktionierte, ging danach alles schief: Mit der tiefen Nase, die schon vor ihrer Wiedereinführung für Bedenken gesorgt hatte, schob sich das Auto unter die Absperrung und verkeilte. Ärzte hatten lange keinen Zugang zu Sainz.

Sebastian Vettel kritisiert TecPro-Barrieren

"Ich war geschockt, dass er so tief drinsteckte und dass er von der Bande bedeckt war", meint Sebastian Vettel. "Wir müssen das verstehen, denn es ist ja nicht der Sinn, dass die Barriere auf dir landet oder dass sich das Auto darunter schiebt." Auch Sainz' Teamkollege Max Verstappen zeigt sich besorgt: "Sie sollte nicht angehoben werden, denn dann kann sie auch seinen Kopf treffen." Der Niederländer weiß aber selbst, dass TecPro funktionieren kann: In diesem Jahr in Monaco rettete ihm die Technik bei einem Aufprall, bei den noch höhere Kräfte gewirkt haben sollen, das Leben.

Warum das System in Sainte Devote tadellos funktionierte, in Sotschi aber nicht, ist derzeit noch unklar. Für Jenson Button ist nur deutlich geworden: "Es macht nicht das, was es tun sollte. Und zwar das Auto zu verlangsamen, bevor man auf etwas Hartes stößt." Denn dadurch, dass die Energie nicht in Fahrtrichtung in die Absperrung übertragen wurde, verlangsamte das Unfallauto nicht wie gewünscht. Der Aufprall erfolgte zu großen Teilen in der Betonmauer dahinter. Und die gibt keinen Zentimeter nach.


Fotostrecke: Horror-Crash von Carlos Sainz

Button stellt fest, dass es gekracht haben muss: "Er hat die Absperrung recht deutlich verschoben." TecPro funktioniere eben nur, wenn man es seitlich treffen würde. "In so einer Situation würde man sagen, dass es bessere Optionen gibt, aber es ist eine knifflige Frage, welcher der beste Kompromiss ist", überlegt der Ex-Weltmeister. Für Fernando Alonso ist der Ausgang letztlich entscheidend: "Am Ende hat er einen heftigen Unfall überstanden, also haben Begrenzung, Strecke und das Auto gut funktioniert." Auch Kimi Räikkönen zeigt sich weniger kritisch: "Am Ende lässt sich nicht alles planen."

Jenson Button hält Plädoyer für asphaltierte Auslaufzonen

Williams-Chefingenieur Rob Smedley hingegen glaubt, eine der letzten Schwachstellen bei der Sicherheit im modernen Formel-1-Rennzirkus erkannt zu haben. "Bei sämtlichen schlimmen und tödlichen Unfällen der jüngeren Vergangenheit war es der Kopf des Piloten, der in Mitleidenschaft gezogen wurde. Daran müssen wir arbeiten." Was als Ruf nach Cockpitkanzeln verstanden werden kann, ist eine weitere Kritik an TecPro. Smedley atmet auf: "Glücklicherweise hat sie sich nicht in die Sicherheitszelle gebohrt."

Dass die Autos mittlerweile "bombensicher" sind, begrüßt der Brite. Er warnt aber: "Klar, es wird immer außergewöhnliche Situationen geben und 100-prozentige Sicherheit ist utopisch. Aber es muss noch immer etwas getan werden." An einen ähnlichen Crash, der sich im GP2-Rahmenrennen ereignete, erinnert Toto Wolff. Er schlägt vor, die TecPro-Barrieren nicht zu ersetzen, sondern zu verbessern; "Vielleicht ist es nötig, sie tiefer am Asphalt zu verankern und so zu verhindern, dass sich das Konstrukt anhebt."


Fotos: Großer Preis von Russland, Samstag


Abgesehen von der Absperrung hätte auch ein Kiesbett die Geschwindigkeit, mit der Sainz auf die Begrenzung zuraste, verringern können - meinten viele Beobachter. Doch Button widerspricht entschieden und plädiert für die auf modernen Kursen zum Standard gewordenen asphaltierten Auslaufzonen, die sich den unschmeichelhaften Ruf als "Parkplätze" erarbeitet haben, aber sehr sicher sind: "Asphalt bremst das Auto mehr als Kies, weil das Auto im Kiesbett abhebt, landet und wieder abhebt", so der McLaren-Pilot.

TV-Regie und Streckenposten für Felipe Massa zu langsam

Weiterer Kritikpunkt war die lange Bergungszeit, in der auch die Ärzte keinen Zugang zu Sainz hatten und per Funk ebenfalls keine Kommunikation möglich war. Felipe Nasr unterstreicht: "Wenn ein Auto die Reifenstapel auf diese Art und Weise trifft, macht es mir mehr Sorge, dass es so lange gedauert hat, um ihn rauszuholen. Stelle dir vor, du bist der Fahrer im Auto." Felipe Massa wünscht sich deshalb, dass an relativ neue Rennstrecken wie Sotschi routinierte Streckenposten aus dem Ausland eingeflogen werden. "Darüber und über vieles andere werden wir mit der FIA sprechen", sagt er.

Eine ganz andere Kritik übt Massa en passant: Der Brasilianer kritisiert die Weltregie dafür, dass die TV-Bilder des Unfalls erst nach Bergung eingespielt wurden - also über 20 Minuten, nachdem die ersten Aufnahmen für einen Schreckmoment gesorgt hatten. "Ich war geschockt, dass im Fernsehen nichts gezeigt wurde. Es waren nur die Menschen zu sehen, die gewartet haben. Niemand wusste Bescheid. Ich dachte an seine Familie, die keine Ahnung hatte, was los ist. Dabei ging es ihm doch gut."

Am Ende eint alle Piloten die Erleichterung darüber, dass Carlos Sainz wohlauf geblieben ist. "Das war das Worstcase-Szenario, und der Pilot ist unverletzt geblieben. Mehr geht nicht", pflichtet Rennstrecken-Architekt Hermann Tilke im Gespräch mit 'auto motor und sport' bei. Dass der Toro-Rosso-Pilot nach eigener Aussage einen Rennstart am Sonntag ins Auge gefasst hat, geht Sebastian Vettel dann aber doch zu schnell: "Er sollte nach so einem Unfall geduldig sein. Es ist weiser, sich Zeit zu nehmen."