Kommentar zum Hamilton-Wechsel: "Das hat echt Eier, Lewis!"

Kommentar von Chefredakteur Christian Nimmervoll: Wie es zu Lewis Hamiltons Transferbombe kam und wie schwierig sein Gespräch mit Toto Wolff war

Titel-Bild zur News: Fotomontage: Lewis Hamilton im Ferrari-Overall

Fotomontage mit Blick ins Jahr 2025: Lewis Hamilton im Ferrari-Overall Zoom

Liebe Leserinnen und Leser,

es ist in der Branche kein Geheimnis, dass Ferrari-Chef John Elkann und Piero Ferrari schon seit Jahren davon geträumt haben, Lewis Hamilton unter Vertrag zu nehmen. Dass ihnen das eines Tages wirklich gelingen könnte, habe zumindest ich, da bin ich ganz ehrlich, nicht geglaubt. Insbesondere nicht nach Hamiltons letzter Vertragsverlängerung bei Mercedes, am 31. August 2023.

Und genau dahin, in den letzten Sommer, müssen wir das Rad der Zeit zurückdrehen, um das zu verstehen, was jetzt passiert ist.

Denn wie unsere Recherchen am späten Donnerstagabend, teilweise noch während unseres Livestreams zum Hamilton-Sensationstransfer auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de (übrigens mit unserem Experten Marc Surer), ergeben haben, war die Sache mit Hamilton und Mercedes ein bisschen so wie im Sommer 2022 mit Fernando Alonso zu Alpine.

Alonso und Alpine: Was im Sommer 2022 passiert ist

Zur Erinnerung: Alonso wollte damals einen mehrjährigen Vertrag haben, Alpine wollte ihm aber nur ein Jahr fest garantieren. Was zu einer Kurzschlussreaktion des Spaniers und zum Wechsel zu Aston Martin führte.

Jetzt hat sich herausgestellt: Auch Hamilton wollte eigentlich direkt für drei Jahre verlängern, doch das wollte Mercedes nicht. Man einigte sich auf einen Kompromiss: zwei Jahre. "Lewis wird auch in den Jahren 2024 und 2025 für das Team fahren", lautet eine Zeile aus der damaligen Mercedes-Pressemitteilung im Originalwortlaut.

Was damals geheim gehalten wurde: Vereinbart wurde auch eine Ausstiegsklausel, die es Hamilton ermöglichen sollte, Mercedes schon nach einem Jahr zu verlassen.

Toto Wolff interpretierte diese mutmaßlich so: Wenn Lewis Anfang 2024 sieht, dass er mit uns wieder nicht Weltmeister werden kann, dann wird er sich vielleicht irgendwann im zweiten oder dritten Quartal entscheiden, es doch nochmal woanders zu probieren.

Dass Hamilton schon jetzt die Reißleine zieht, noch bevor das erste Rennen gefahren ist, kommt für viele überraschend. Für Wolff, so hört man das aus England, auch.

Wie Hamilton Wolff am Mittwoch informiert hat

Für Mittwochmorgen war ein reguläres Meeting zwischen Wolff und Hamilton angesetzt. Eigentlich keine große Sache, einfach ein "Catch-up" nach einem Winter, in dem man sich seltener als während einer Rennsaison gesehen hatte.

Es war kein Telefonat und auch kein Online-Meeting, sondern ein persönliches Gespräch, Face to Face, und es soll für Hamilton, so wird uns das zumindest beschrieben, "ein sehr schwieriges Gespräch" gewesen sein.

Kein Wunder: Es ist erst ein paar Monate her, dass sich der siebenmalige Weltmeister vor die versammelte Mercedes-Mannschaft gestellt und erklärt hat, Mercedes, das sei für ihn ein Bund fürs Leben, eine Familie.

Heute wissen wir: Fürs Leben, das kann in der Formel 1 eben auch mal nur ein paar Wochen bedeuten.

Mercedes: Von Hamiltons Abschied kalt erwischt

Bei Mercedes räumt man offen ein, von Hamiltons plötzlichem Sinneswandel kalt erwischt worden zu sein. Das wird auch dadurch belegt, dass Wolff am Donnerstag nicht persönlich in Brackley und/oder Brixworth sein konnte, um die Belegschaft zu informieren.

Er war am Donnerstagnachmittag um 14 Uhr englischer Zeit in Mailand, wegen eines schon länger geplanten Geschäftstermins, der mit Hamilton und Ferrari nichts zu tun hatte. Und ließ sich online zuschalten, um seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zerknirscht mitzuteilen, dass Hamiltons ewiges Bekenntnis zu Mercedes letztendlich wohl doch nicht ganz so ewig gemeint war.


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Die ganze Pressekonferenz mit Toto Wolff am Tag nach Bekanntwerden des Sensationstransfers von Lewis Hamilton zu Ferrari. Weitere Formel-1-Videos

Dabei hatten sich die Vertragsverhandlungen ganz unkompliziert gestaltet. Als die Sache mit der Laufzeit einmal aus der Welt diskutiert war, einigte man sich schnell per Handschlag auf eine Fortsetzung der Zusammenarbeit. Das war Ende April, Anfang Mai. Dann waren die Rechtsanwälte am Zug, um den Papierkram zu erledigen. Ende August war der Spuk vorbei, und Hamilton für 2024 und 2025 offiziell bestätigt.

Dass Hamilton die Ausstiegsklausel ziehen würde, noch bevor das erste Rennen seines neuen Vertrags gefahren ist, hat das komplette Formel-1-Business völlig überrascht.

Wolff war immer klar, dass Hamilton vielleicht darüber nachdenken würde, zu Ferrari zu wechseln, sollte der neue Mercedes nicht erfolgreich sein. Aber wenn, dann eher zur Sommerpause - und nicht schon vor dem ersten Grand Prix 2024.

Gerüchte, wonach Hamiltons Ausstiegsklausel nur bis zum 31. Januar gezogen werden konnte, stimmen übrigens nicht. Er hätte sich mit seiner Entscheidung also mehr Zeit lassen können. Hat er aber nicht.

Hamilton: Fehlte ihm das Vertrauen in Mercedes?

Was die Gründe dafür sind, darüber kann zum jetzigen Zeitpunkt nur spekuliert werden. Klar ist: Hätte das, was er vom neuen Mercedes schon gesehen hat, ihm Zuversicht gegeben, 2024 Weltmeister werden zu können, hätte er jetzt wahrscheinlich noch nicht bei Ferrari unterschrieben. Das sagt einem die Logik.

So gesehen ist sein Wechsel definitiv kein gutes Omen für alle Mercedes-Fans, die nach zwei denkbar schwierigen Jahren hoffen, dass die Silberpfeile 2024 endlich wieder auf die Siegerstraße einbiegen.

Unser Experte Marc Surer hat im Livestream zur Hamilton-News auch spekuliert: Vielleicht weiß Hamilton schon was, was wir alle nicht wissen? Vielleicht kommt ein Ingenieur vom Schlag eines Adrian Newey ebenfalls zu Ferrari? Er wird jedenfalls seine Gründe haben.

Ist Hamilton jetzt wieder der bestbezahlte Fahrer?

Auch wenn wir es nicht mit Sicherheit wissen: Wir können davon ausgehen, dass Ferrari Hamilton finanziell ein attraktives Angebot unterbreitet hat. Wenn das stimmt, was manche sagen, nämlich dass ihn der Ferrari-Vertrag wieder zum Bestverdiener in der Formel 1 macht, dann würde das seine Jahresgage auf astronomische 80 Millionen Euro (oder sogar noch mehr) schrauben.

Die soll Max Verstappen nämlich in seinem Red-Bull-Vertrag verankert haben. Verschachtelt in ein komplexes System aus Bonuszahlungen und Prämien, wie das heutzutage in der Formel 1 üblich ist.

Geld, das Ferrari zwar nicht aus der Portokasse zahlen wird, das man sich in Maranello aber sicher leisten kann. Zumal der Finanzmarkt aus Ferrari-Sicht extrem positiv auf die Hamilton-Gerüchte reagiert.

Als der Donnerstag an der Frankfurter Börse eröffnet wurde, wurden Ferrari-Aktien zu einem Kurs von 319,60 Euro gehandelt. Kurz nach 19 Uhr erreichte die Aktie, geboostet auch durch starke Geschäftszahlen, mit 359,80 Euro ein neues Allzeithoch. Und ein sattes Tagesplus von 12,6 Prozent.


Hamilton im Mai 2023: "Mercedes ist mein Zuhause"

Hamiltons Traum von Ferrari war immer schon ein bisschen da. Erst im Mai 2023 sagte er in einem Interview mit ESPN: Als er die Ferrari-Fahrer in ihren roten Overalls gesehen habe, habe er sich schon gefragt, "wie das wäre, selbst auch einmal Rot zu tragen. Aber dann gehe ich zu meinem Team, zu Mercedes, und das ist mein Zuhause. Ich bin glücklich, wo ich bin."

Heute wissen wir: Da hatte er gerade mit Toto Wolff per Handschlag seinen neuen Vertrag klargemacht. Dass er nur neun Monate später von Wolff Abschied nehmen würde, konnte keiner ahnen. Zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich nicht einmal Hamilton selbst.

Für John Elkann ist die Unterschrift der erfolgreiche Abschluss eines jahrelangen Projekts. Schon 2019 hat er sich mehrmals mit Hamilton getroffen. Als die Gerüchte langsam den Weg in die Medien fanden, ging Wolff bei einer Pressekonferenz in Abu Dhabi - ich erinnere mich gut daran, weil ich in der ersten Reihe saß - in die Offensive.

Anstatt zu dementieren und zu leugnen, spielte Wolff mit offenen Karten, erklärte, Hamilton habe ihn über die Gespräche informiert - und überhaupt sei es nur natürlich, dass jeder Fahrer irgendwann in seiner Karriere einmal mit dem Gedanken liebäugle, für Ferrari zu fahren.

Ein smarter Move. Denn während die ganze Welt monatelang über einen möglichen Hamilton-Wechsel zu Ferrari spekuliert hätte, wäre Wolff defensiv mit den Gerüchten umgegangen, war die Katze so aus dem Sack - und die Story nicht länger spannend. Bei Mercedes kehrte Ruhe ein, und 2020 wurde man noch einmal gemeinsam Weltmeister.

Vielleicht zum letzten Mal, würde man Stand heute einwerfen.

Was Hamiltons Wechsel zu Ferrari so mutig macht

Eins muss man Lewis Hamilton schon lassen: Mit dann 40 Jahren das für ihn gemachte Nest zu verlassen und es bei Ferrari mit Charles Leclerc, einem der schnellsten Qualifyer der Formel 1 aufzunehmen, das hat echt Eier. Und spricht dafür, dass er keine Herausforderung scheut.

Hamilton hat viel zu gewinnen. Der achte WM-Titel ausgerechnet auf Ferrari, im ehemaligen Team von Michael Schumacher, wäre an historischer Bedeutung kaum zu überbieten.

Fotomontage: Lewis Hamilton im Ferrari mit der Startnummer 44

Fotomontage: Lewis Hamilton nimmt seine Startnummer 44 ab 2025 zu Ferrari mit Zoom

Aber er hat auch viel zu verlieren. Sollte er das Duell gegen Leclerc verlieren, bleibt ein Makel auf seiner Karriere hängen. Und er hätte das nicht geschafft, was Schumacher geschafft hat: Ferrari zu einem Weltmeisterteam zu formen.

Für den immer noch relativ neuen Ferrari-Teamchef Frederic Vasseur gibt's spätestens ab 2025 jedenfalls keine Ausreden mehr. Wenn Ferrari dann immer noch nicht gewinnt, liegt es definitiv nicht an den Fahrern, sondern nur am Team und an den Menschen, die für das Team arbeiten. Unter seiner Führung.

Wechselt Carlos Sainz jetzt zu Audi?

Und es stellt sich die Frage, wie es mit Carlos Sainz weitergeht. Es ist kein Geheimnis, dass sein alter Freund aus gemeinsamen McLaren-Tagen, Andreas Seidl, schon seit gut einem Jahr mit ihm in Kontakt steht. Sainz und Audi, das würde irgendwie passen. Auch, weil sein Vater, Carlos sen., gerade auf Audi die Rallye Dakar gewonnen hat.

Audi wäre gut beraten, jetzt rasch zu handeln. Konzernstrukturen funktionieren langsamer als das in so manch anderem Team der Fall ist. Und für Teams wie Aston Martin oder Alpine könnte Sainz, ein Grand-Prix-Sieger mit Ferrari-Erfahrung, Gold wert sein. Vielleicht sogar für Mercedes, als Übergangslösung, bis Supertalent Andrea Antonelli reif für die Formel 1 ist.

Doch darüber macht sich Toto Wolff heute wohl noch keine Gedanken. Sein Handy soll am Donnerstag heiß geglüht haben, hört man aus seinem Umfeld. Abgenommen hat er aber nicht. Erstmal will er sich und das Team nach dem Hamilton-Schock ordnen und die nächsten Prioritäten definieren. Dann wird man sich über einen zweiten Fahrer für 2025 Gedanken machen.

Einen wirklich starken, George Russell, hat man ja bereits unter Vertrag. Wer der zweite sein wird, das weiß im Moment wahrscheinlich nicht einmal Wolff selbst.

Holt Mercedes wieder einen deutschen Fahrer?

Gerade aus deutscher Sicht gäbe es da den einen oder anderen Kandidaten. Nico Hülkenberg ist schnell, zweifellos - aber auch nicht mehr der Jüngste. Wenn er bei Mercedes zum Zug kommen sollte, dann bestenfalls als Übergangslösung, bis einer der echten Wunschkandidaten für die Zukunft verfügbar ist.

Sebastian Vettel? Er und Wolff kennen und schätzen einander. Wolff war vor ein paar Jahren zu Vettels Geburtstagsparty eingeladen, und als es bei Ferrari nicht mehr so lief, soll sich Vettel auch mal beim Mercedes-Teamchef ausgeheult haben. Aber Vettel im Mercedes? Dafür ist der viermalige Weltmeister von seinem Leistungspeak wahrscheinlich doch schon ein, zwei Jahre zu viel entfernt.

Alles Themen, über die man vortrefflich spekulieren kann. Was wir in unserem Livestream auf dem YouTube-Kanal mit Formel1.de getan haben. Unser Experte Marc Surer findet ja: Wenn Toto Wolff uns mit seinem permanenten Lob für Mick Schumacher nicht angelogen hat, dann muss er ihn 2025 eigentlich ins Cockpit setzen.

Eine Variante, an die ich persönlich nicht glaube. Mick muss erstmal bei Alpine in der WEC beweisen, was er kann, um vielleicht für eine Rückkehr in die Formel 1 in Frage zu kommen. Und selbst wenn, dann eher nicht gleich bei einem Topteam wie Mercedes.

Klar ist: Selbst wenn Max Verstappen und Red Bull 2024 wieder alles gewinnen sollten, was es zu gewinnen gibt - zumindest die "Silly Season" abseits der Rennstrecke könnte richtig, richtig spannend werden!

Euer

Christian Nimmervoll

Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.