• 10.03.2009 10:58

Klien: "Mindestens fünf Fahrer haben Titelchancen"

Christian Klien beleuchtet im Interview das aktuelle Kräfteverhältnis in der Formel 1: "Vier bis fünf Teams sollten permanent ums Podium fahren können"

(Motorsport-Total.com) - Die fünf Monate lange Winterpause der Formel 1 steht kurz vor dem Ende. Diese und nächste Woche finden in Spanien die abschließenden Testfahrten für die Saison 2009 statt. Die Wartezeit bis zum Eröffnungsrennen in Melbourne war voll von Diskussionen über neues Reglement, Finanzkrise oder Fahrerprotesten. BMW Sauber F1 Team-Testfahrer Christian Klien nimmt vor dem Abflug nach Australien Stellung zu den wichtigsten Themen bevor Beginn der 60. Formel 1-Saison.

Titel-Bild zur News: Christian KlienShanghai, Shanghai International Circuit

Christian Klien bekommt durch das Testverbot viel weniger Kilometer

Frage: "Christian, wie sind die Kräfteverhältnisse 2009?"
Christian Klien: "Die endgültige Antwort wird es erst in Melbourne geben. Eines kann man bereits jetzt sagen: Die Zeiten beim Testen sind noch näher beisammen als im vergangenen Jahr. Vier bis fünf Teams sollten permanent ums Podium mitfahren können. Zu den 'Großen Drei' Ferrari, McLaren, BMW Sauber F1 Team schaut Toyota stark aus. Auch Williams hat positiv überrascht und bei Red Bull ist was drin. Die Fans dürfen sich also freuen. Es wird sicher sehr interessant. Ich glaube, dass zumindest fünf Fahrer heuer für den WM-Titel in Frage kommen."#w1#

Endlich wieder Drifts in der Formel 1

Frage: "Welchen Unterschied machen die Slicks für die Fahrer?"
Klien: "Die Umgewöhnung von den Rillenreifen war nicht schwierig. Wir sind alle ja lange genug mit Slicks gefahren. Der Bridgestone-Reifen ist extrem haltbar. Beim Testen haben wir herausgefunden, dass er manchmal erst in der zweiten fliegenden Runde richtig Grip aufbaut. Das heißt, dass wir heuer beim Qualifying möglicherweise Doppel-Runden sehen werden. Außerdem ist der Reifen so konzipiert, dass die Autos eher zum Übersteuern neigen. Wenn man also zu ungestüm aufs Gas geht, dann ist ein Drift fast vorprogrammiert. Auch dadurch wird es heuer noch ein wenig spektakulärer."

Frage: "Welche Auswirkungen wird KERS im Rennen haben?"
Klien: "Das ist die große Unbekannte. Der Einsatz des Energierückgewinnungs-Systems ist ja 2009 nicht zwingend vorgeschrieben. Es kann sein, dass die Entscheidung erst am jeweiligen Rennwochenende selbst getroffen wird. Generell haben wir Fahrer sehr schnell gelernt, damit umzugehen. Im Kurvenausgang drückt man den KERS-Knopf und hat unmittelbar 60 kW Leistung extra zur Verfügung. Gegenüber einem Auto ohne KERS ist das natürlich ein Vorteil. Dafür kann man ohne KERS an Bord das Auto mit den Ballastgewichten besser abstimmen. Wir lernen alle noch täglich."

"Wenn man zu ungestüm aufs Gas geht, dann ist ein Drift fast vorprogrammiert." Christian Klien

Frage: "Wir in der neuen Saison mehr überholt?"
Klien: "Es gibt einige Ansätze, die dafür sprechen. Den größten Schritt in diese Richtung bringt das neue Aerodynamik-Reglement. Durch den Riesenfrontflügel und den kleinen Heckflügel produzieren die 2009er-Autos wesentlich weniger 'dirty air'. Beim Testen haben wir eindeutig herausgefunden, dass man viel näher an den Vordermann heranfahren kann. Der Abstand hat sich gegenüber 2008 tatsächlich halbiert! Damit kommt man zumindest mal in die Position, einen Gegner attackieren zu können."

"Außerdem haben wir heuer erstmals verstellbare Frontflaps, die wir zwei Mal pro Runde verstellen dürfen. Dadurch haben wir ein weiteres strategisches Werkzeug, um an jemandem vorbei zu gehen. Der beste Platz zum Überholen ist nach wie vor in der Anbremszone. Und da in der Formel 1 halt die 20 besten Piloten der Welt fahren, gibt dir da keiner einen Millimeter unnötig Platz. Wir bremsen nach der Geraden zwischen 80 und 100 Meter vor der Kurve. Und die Streuung zwischen Früh- und Spätbremsern ist maximal fünf Meter. Es bleibt also eine Heidenarbeit, an einem Konkurrenten vorbei zu kommen."

Nasenwechsel ist vorprogrammiert

Frage: "Warum ist die Angst vor Startunfällen in diesem Jahr höher als 2008?"
Klien: "Die Frontflügel sind heuer 40 Zentimeter breiter als im Vorjahr. Der Fahrer sieht ihn aber vom Cockpit aus nicht, sondern nur die obere Lauffläche des Reifens. Einen Grand Prix-Start mit Infight kann man ja beim Testen schwer simulieren. Daher rechne ich mit einigen abgefahrenen Frontflügeln zu Saisonbeginn. Wir trainieren diese Woche in Barcelona sogar das Nasenwechseln. Für die Boxencrew ist das heuer wesentlich schwieriger, weil die Nase durch das neue Design mehr Gewicht hat."

Frage: "Wie groß war der Unmut der Fahrer über die erneute Erhöhung der Superlizenz-Gebühren?"
Klien: "Je nach Einkommen trifft die rasante Erhöhung der letzten beiden Jahre manche Fahrer härter als andere. Wir sind daher alle - Einsatzfahrer und Testpiloten - gemeinsam vorgegangen, um Geschlossenheit zu zeigen. GPDA-Präsident Pedro de la Rosa hat uns Fahrer da zusammengehalten. Kein Fahrer wehrt sich gegen die Gebühren an sich, auch wenn sie im direkten Vergleich mit anderen Sportarten wie Golf, Fußball oder Tennis bei uns dramatisch höher sind."

"Wir trainieren diese Woche in Barcelona sogar das Nasenwechseln." Christian Klien

"Die scheinbar willkürliche Anhebung ohne erkennbaren Effekt auf größere Sicherheitsmaßnahmen ist vielen sauer aufgestoßen. Als Testfahrer bin ich zum Glück nicht so stark betroffen wie andere. Dennoch ist wichtig aufzuzeigen, dass es unter den Superlizenz-Inhabern nicht ausschließlich Multimillionäre mit Yachten und Privatjets gibt. Diese Zeiten sind längst vorbei."

Frage: "Wird man die Auswirkungen der aktuellen Finanzkrise in der gesamten Formel 1 spüren?"
Klien: "Die Auswirkungen spüren wir jetzt schon deutlich. Sponsoren ziehen sich zurück und nur wenigen Teams gelingt es neue an Land zu ziehen. Das Testverbot während der Saison ist nur eine logische Konsequenz, die sich die Teams selbst auferlegt haben. Ganz allgemein herrscht ein völlig neuer Spargedanke, an den sich viele wohl erst gewöhnen müssen. Ich finde es richtig und wichtig, die Zeichen der Zeit zu erkennen und Kosten zu sparen. Beim BMW Sauber F1 Team hatte Kostenbewusstsein schon immer hohe Priorität. Ein Gerücht hingegen ist es, dass sich die Fahrer deswegen ab sofort auch ein Hotelzimmer teilen müssen. Das käme bei manchen glaube ich nicht so gut an..."

100 Tage an der Rennstrecke

Frage: "Verschwindet die Formel 1 bald ganz aus Europa?"
Klien: "Acht von 17 Rennen finden heuer in Europa statt, also weniger als die Hälfte. Es gibt wohl kaum einen internationaleren Sport. Ich denke, man sollte vor allem die positiven Seiten sehen: Ein Nachtspektakel wie in Singapur wäre in Europa wohl nirgends umzusetzen gewesen. Und das alte Europa bleibt weiter die Kommandozentrale. Hier sitzen die Teams, hier finden fast alle Tests statt. Und bei den Rennen im Osten wie Australien oder Malaysia wird die Startzeit heuer extrem weit nach hinten verschoben, um in Europa zu einer guten Zeit im Fernsehen gesendet zu werden."

Frage: "Bist du eigentlich jetzt 'arbeitslos'?"
Klien: "Auf den ersten Blick könnte man meinen, ich kann mich jetzt wegen der limitierten Tests auf die faule Haut legen und warten, dass Nick Heidfeld oder Robert Kubica sich eine Fischvergiftung holen. Die Wahrheit sieht anders aus: Bis zum Herbst verbringe ich über 100 Tage an der Rennstrecke, die vollgepackt sind mit technischen Briefings, Strategie-Meetings, PR-Auftritten und so weiter. Zwischen den vielen Reisen wird eisern an der Fitness gearbeitet, denn im Ernstfall darf es keine Ausrede geben. Dazu fahre ich ja auch noch die 12 Stunden von Sebring in USA und die 24 Stunden von Le Mans, und habe da das volle Vorbereitungsprogramm bei Peugeot zu absolvieren. Alleine da komme ich in den nächsten Monaten sicher auf über 4.000 Kilometer im Rennspeed."

"Testfahrer in einem Topteam ist die optimale Plattform, um mich zu präsentieren." Christian Klien

Frage: "Wie stehen die Chancen auf ein Comeback als Einsatzfahrer?"
Klien: "Ich bin recht zuversichtlich. Testfahrer in einem Topteam ist die optimale Plattform, um mich zu präsentieren. Das Umfeld ist optimal und dank der Extra-Kilometer im Langstreckensport bin ich jederzeit voll einsatzbereit. Näher dran ein einem fixen Cockpit kann man nicht sein, also ist der Rest eigentlich nur noch eine Frage von Geduld und wohl überlegten Schritten."