• 24.01.2005 11:58

Interview: Martin Whitmarsh über die neuen Regeln

Im ausführlichen Interview erklärt McLarens Geschäftsführer, wie sich das neue 2005er-Reglement ausgewirkt hat und auswirken wird

(Motorsport-Total.com/McLaren.com) - Frage: "Martin, wie haben sich die Regeln bezüglich der Reifen für 2005 geändert?"
Martin Whitmarsh: "Bis jetzt war die einzige Bedingung in Bezug auf die Michelin-Reifen, die wir verwenden, dass wir das Rennen unter den Parc-Fermé-Regeln mit demselben Satz in Angriff nehmen mussten, mit dem das Qualifying bestritten worden ist. Folglich waren die Reifen ein wichtiges Element der Boxenstrategie, und bei den Stopps war es möglich, entweder auf brandneue Reifen zu wechseln oder auf angefahrene, die schon im Training oder im ersten Qualifying verwendet worden sind. Ab dem Saisonauftakt in Melbourne muss der Satz vom Qualifying die ganze Renndistanz über halten. Gegenüber bisher bedeutet das, dass die Laufzeit vervierfacht wird - abhängig von der Anzahl der Stopps, die früher auf einer bestimmten Strecke gemacht worden sind. Das erfordert eine gravierende Änderung der Philosophie in der Reifenentwicklung."

Titel-Bild zur News: McLaren-Mercedes MP4-20

Der neue MP4-20 muss wegen der neuen Regeln die Nase höher tragen...

Frage: "Welche Herausforderungen sind dadurch für Michelin und das Team entstanden?"
Whitmarsh: "Die Reifen sind traditionell auf verschiedene Arten optimiert. Verschleiß, Haltbarkeit und das Abbauen waren schon immer wichtige Themen, aber auch die Performance während der ersten Runde. Die Reifen mussten normalerweise nicht länger als ein Drittel einer Renndistanz aushalten. Natürlich ist Michelin dazu in der Lage, Reifen zu bauen, die weit länger als eine Renndistanz halten, aber das erfordert immer Abstriche in Sachen Performance für die Langlebigkeit. Sollten wir einmal zu konservativ sein, was die Reifenwahl angeht, würde sich das negativ auf die Performance auswirken. Die Herausforderung für Michelin liegt darin, die Eigenschaften einer jeden Strecke so optimal wie möglich zu berücksichtigen. Das variiert von Strecke zu Strecke und auch vom ersten Tag eines Rennwochenendes zum letzten. An den Freitagen haben wir nicht allzu viel Zeit, uns für eine der beiden zur Verfügung stehenden Reifenmischungen zu entscheiden."#w1#

Temperatur ein kritischer Faktor in der Reifenfrage

Frage: "Wie wird sich das auf die Arbeit des Teams mit den Reifen an den Rennwochenenden auswirken?"
Whitmarsh: "Da es keine einfache Aufgabe für einen Reifen ist, während einer gesamten Renndistanz ausreichend Haftung zu bieten, gibt es spezifische Herausforderungen, die sich im Verlauf der gesamten Lebensdauer des Reifens ändern können. Wir können die Reifen vorwärmen, weil sie darauf abgestimmt sind, bei hohen Temperaturen am besten zu funktionieren. Während sich das Auto auf der Strecke bewegt, wird diese Temperatur von den Vorgängen innerhalb der Gummimischung aufrechterhalten. Dieses Phänomen wird gemeinhin gut verstanden und es erfordert eine bestimmte Masse an Gummi in der Lauffläche. Ansonsten erreicht man nicht die Bewegung der Gummimasse, die die Hitze entstehen lässt, und dann ist es schwierig, die Reifen auf Temperatur zu halten, weil sie bei den hohen Geschwindigkeiten ja permanent gekühlt werden. Der Zeitpunkt, bei dem das am meisten zum Tragen kommt, ist der letzte Tankstopp. Die Reifen kühlen sich dabei ab und es ist schwierig, sie ohne ausreichend Gummi auf den Laufflächen wieder aufzuwärmen. Bekommt man das nicht hin, könnte man aufgrund der niedrigen Reifentemperaturen einen schlechten letzten Stint haben."

Frage: "Wirkt sich diese Regeländerung nur auf das Team von Michelin aus?"
Whitmarsh: "Es ist nicht nur eine Frage dessen, was uns Michelin liefert, sondern auch wir spielen in diesem Prozess eine große Rolle. Einstellungen wir der Radsturz und die Aufhängungsgeometrie haben einen Einfluss darauf, also können wir diese Herausforderung nicht einfach auf Michelin abschieben. Wir müssen alle Aspekte in Betracht ziehen und mit ihnen an einem Reifen arbeiten, der über eine Runde im Qualifying schnell ist, die Renndistanz überstehen kann und gleichzeitig in den letzten zwei oder drei Abschnitten des Rennens konkurrenzfähig ist. Bis vor kurzem waren die Radaufhängungen, die Arbeitsprozesse am Auto und die Optimierung der Reifen selbst noch nicht darauf abgestimmt."

Lebensdauer der Motoren wurde verdoppelt

Frage: "Welche Veränderungen ergeben sich durch das neue Motorenreglement?"
Whitmarsh: "Letzte Saison hatten die Motoren eine Lebensdauer von einem Rennen. Wenn aufgrund eines Defekts oder eines Unfalls ein Motorwechsel vorgenommen werden musste, musste der Fahrer in der Startaufstellung eine Strafe von zehn Plätzen hinnehmen. Jetzt muss unser Mercedes-Benz-FO-110R-Motor zwei Rennwochenenden halten, was 1.500 Kilometern entspricht und doppelt so viel ist wie bisher. Genau wie bei den Reifen könnte man auch einen Motor bauen, der die gesamte Saison übersteht, aber man muss den Kompromiss zwischen Langlebigkeit und Performance finden. Die Motoreningenieure könnten eine Matrix anbieten: 'Was ist euch lieber, x PS bei 1.500 Kilometern oder y PS bei 1.000 Kilometern?' Da muss man die Ideallösung finden."

Frage: "Was sind die genauen Auswirkungen dieser Veränderung?"
Whitmarsh: "Zumindest bei den ersten paar Rennen sind einige Teams weniger Trainingsrunden gefahren als früher. Je mehr Vertrauen man in die Zuverlässigkeit entwickelt hat, desto mehr durften die Fahrer auf die Strecke gehen. Naturgemäß werden die Teams, die mehr Vertrauen in ihre Zuverlässigkeit haben, auch dieses Jahr mehr trainieren als die anderen. Bei einer schmutzigen Strecke oder ungemütlichem Wetter werden sich die Teams zurückhalten, vermute ich, aber wenn sie selbstbewusst wären, würden sie fahren. Mercedes-Benz hat auf vollen Touren an allen Schlüsselbereichen in Zusammenhang mit der Zuverlässigkeit gearbeitet. Logischerweise schaut man sich dabei erst einmal die größten Gussstücke an und versucht, die Entstehung von Rissen zu verhindern. Man wirft ein Auge auf die Halterungen, auf die Lebensdauer der Kolben, der Pleuelstangen und anderen Teile, die unter starken Belastungen stehen. Im Zweifelsfall muss man bei der Drehzahl einen Kompromiss eingehen, um die Lebensdauer des Motors zu erhöhen. Ich glaube aber, dass alle Motoren in etwa dieselbe Leistung haben werden wie bisher, speziell im Qualifying."

Aerodynamik birgt die gravierendsten Änderungen

Frage: "Welche Regeländerungen haben sich am stärksten auf die Optik des MP4-20 ausgewirkt?"
Whitmarsh: "Die größten technischen Änderungen liegen im Bereich der Aerodynamik. Am offensichtlichsten ist die Anhebung des Frontflügels, obwohl auch der Heckflügel und der Diffuser beschnitten worden sind, um die Bodenhaftung zu verringern. Diese Änderungen sind relativ spät bekannt gegeben worden und die Teams haben natürlich versucht, in der limitierten Zeit so viel Abtrieb wie möglich zurück zu gewinnen. Kein Team hatte so viel Zeit wie gewünscht, um die Auswirkungen der Regeln so gering wie möglich zu halten. Zu Beginn wird der Verlust an Abtrieb bei 20 bis 25 Prozent liegen, aber alle arbeiten hart daran, das so schnell wie möglich auszugleichen. Die Teams, die den besten Job machen, werden einen Großteil wieder aufholen. Vor Saisonbeginn wird es diesbezüglich sicher alle möglichen Spekulationen geben. Ich bin skeptisch, wenn jemand sagt, dass er den verlorenen Abtrieb wieder gefunden hat, denn das würde bedeuten, dass die Autos davor nicht ausreichend optimiert waren. Wenn man ein effizientes 2004er-Auto hatte, ist diese Aufgabe relativ schwierig."

Frage: "Welche weiteren Veränderungen wurden am Chassis getätigt?"
Whitmarsh: "Die Aerodynamik ist natürlich das Hauptproblem, aber es gibt auch Veränderungen am Chassis durch die ständigen Verbesserungen der Crashtests. Wir haben beim MP4-20 die Leistung bei einem Seitencrash verbessert, das macht das Auto sicherer und robuster. Es ist viel Arbeit, aber sie ist sehr positiv. Man kann die technischen Regeln natürlich nicht losgelöst betrachten. Mit der Notwendigkeit, die Reifen langlebig zu machen, wird jeder Bereich am Auto beeinflusst. In Wahrheit ist es so, dass man durch die Änderungen der Reifen- und Aerodynamikregeln das gesamte Paket überdenken muss - die Gewichtsverteilung, die Aufhängungsgeometrie und so weiter. Formel-1-Autos sind so ganzheitlich und die Verbesserungen, die wir suchen, so gering, dass es Auswirkungen hat, wenn etwas geändert wird. Beispielsweise ändern Veränderungen am Frontflügel das Flussfeld und damit die Motoren- und Bremsenkühlung."

Neues Jahr, neues Qualifying-Format...

Frage: "Wie genau wird 2005 das Format der Rennwochenenden geändert?"
Whitmarsh: "Zum vierten Mal in vielen Jahren wird der Zeitplan der Grand-Prix-Wochenenden 2005 anders sein. Nach dem ungeplanten Experiment in Suzuka im vergangenen Jahr, das durch einen Taifun verursacht wurde, wird es nun am Sonntagvormittag eine Ein-Runden-Qualifikation geben, zuvor gibt es auch das bekannte Qualifying am Samstagnachmittag. Die Startaufstellung wird durch Addition der Zeiten aus beiden Durchgängen ermittelt. Am Sonntag werden die Autos mit dem Benzin für das Rennen fahren, denn es darf nicht aufgetankt werden, am Samstag hingegen ist die Benzinmenge frei. Daher werden alle mit nur so viel Sprit fahren, wie man für eine Runde braucht. Bisher kann man nur sagen, dass es für alle gleich ist. Aber nun sind es zwei Sessions, in denen die Leute aufmerksam sein müssen, und zwei Sessions, die mit unterschiedlichen Benzinmengen bestritten werden. 2004 hatte man die Wahl. Man konnte das erste Qualifying mit so viel Sprit beginnen, wie man auch im zweiten Durchlauf fahren wollte. Wir alle haben Autos erlebt, die mit mehr Benzin besser reagierten. Dies war zuletzt auch wichtiger, nun ist aber beides wichtig."

Frage: "Plant ihr dieses Jahr den Einsatz eines dritten Autos an den Freitagen?"
Whitmarsh: "Für das McLaren-Mercedes-Team gibt es 2005 eine weitere Änderung. Die Regeln erlauben allen Teams, die 2004 nicht in den Top 4 der Konstrukteurs-WM gelandet sind, den Einsatz eines dritten Fahrzeugs im Freitagstraining. Es gibt offensichtliche Vorteile, weil sich der dritte Fahrer mit Reifen- und Setup-Tests beschäftigen kann, ohne auf das Kilometerlimit des Motors Rücksicht nehmen zu müssen. In der Theorie bedeutet das, dass die Stammfahrer nicht so viele Kilometer absolvieren müssen wie jene der führenden Teams. Ein drittes Auto wird uns helfen, denn es gibt einen Konflikt, wenn man nur zwei Autos hat: Die Chassisleute werden viele Kilometer anpeilen, die Motorenleute werden die Standfestigkeit des Motors konservieren wollen und die Reifenleute wollen dann wahrscheinlich ihre Mischungen ausprobieren. Wenn man ein drittes Auto hat, mit dem man sich außerhalb der bekannten Limitierungen mit diesen Dingen befassen kann, ist das eine nützliche Sache. Wir werden einen erfahrenen Piloten am Steuer dieses Fahrzeugs haben. Man braucht jemanden, der ein integraler Teil des Entwicklungsprogramms ist."