Hermann Tilke: Der "Schumi" des Rennstreckenbaus

'F1Total.com' sprach mit Hermann Tilke über Planung und Bau moderner Formel-1-Strecken sowie über das brandneue 'Istanbul Otodrom'

(Motorsport-Total.com) - In genau elf Tagen findet in Istanbul das erste Formel-1-Rennen auf türkischem Boden statt. Schon im Vorfeld der Veranstaltung prägt der Grand Prix das Geschehen in den Medien - einerseits wegen der schlagzeilenfeindlichen Sommerpause, andererseits aber auch, weil sich die Königsklasse des Motorsports damit schon wieder auf neues Terrain begibt.

Titel-Bild zur News: Hermann Tilke und Marc Surer

Hermann Tilke im angeregten Gespräch mit 'F1Total.com'-Experte Marc Surer

Im Zuge der Globalisierung der Formel 1 in den vergangenen Jahren ragen vor allem die Grands Prix von Malaysia, Bahrain und China heraus - und all diese Strecken haben eines gemeinsam: Sie wurden von Hermann Tilke geplant und gebaut. Der Aachener Architekt zeichnet sich nun auch für das 5,340 Kilometer lange 'Istanbul Otodrom' verantwortlich, welches Michael Schumacher und Co. nächste Woche erstmals befahren werden.#w1#

Vor der Streckenpremiere ist Tilke "ein bisschen nervös"

Obwohl der 50-Jährige vor der großen Premiere naturgemäß alle Hände voll zu tun hat, nahm er sich diese Woche Zeit, um den 'F1Total.com'-Lesern Einblicke in seine spannende Arbeit zu gewähren. Dass er momentan "ein bisschen nervös" ist, streitet er gar nicht erst ab - und auch den Vergleich zum ersten Test eines neuen Rennwagens vor Saisonbeginn findet er durchaus passend: "Da gibt es schon Parallelen, denn unsere Strecke ist ja irgendwie auch ein Prototyp."

Zittern muss Tilke zwar nicht wirklich, zumal auch die Premieren seiner bisherigen Projekte stets mehr oder weniger glatt gelaufen sind, doch Kleinigkeiten können immer mal wieder schief gehen. In Malaysia tauchten eine Woche vor dem Rennen plötzlich Bodenwellen auf und in China legten unerwartete Stromschübe ausgerechnet das Medienzentrum lahm. Die gebrochenen Kanaldeckel des Dreinagesystems in Bahrain waren bisher aber die prominenteste Tilke-Panne: "David Coulthard zog sich deshalb sogar einen Reifenschaden zu", erinnert sich der "Herr der Ringe".

Die ersten Schritte beim Bau einer neuen Rennstrecke sind denkbar banal: Zunächst wird ein passendes Gelände gesucht, auf dem ausreichend Platz zur Verfügung steht. Allerdings sind schon in diesem Stadium viele Punkte zu beachten, beispielsweise die Verkehrsanbindung oder die Erreichbarkeit für ein möglichst großes Publikum.

Vom 3D-Modell zur fertigen Rennstrecke

Bei der ersten Besichtigung des Geländes in Istanbul bekamen Tilke und sein Team eine äußerst hügelige Landschaft präsentiert. Um sich davon ein besseres Bild machen zu können, wurde ein etwa zwei mal zwei Meter großes 3D-Modell erstellt, auf dem anschließend mit Fäden mögliche Streckenverläufe angedeutet wurden. Dabei konnte das Architektenteam aus Aachen jedoch nicht kompromisslos eigene Ideen auspacken, "sondern wir passten uns den Gegebenheiten an", so Tilke.

Maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung vieler Tilke-Anlagen hat übrigens auch 'F1Total.com'-Experte Marc Surer, der in seiner aktiven Karriere 82 Grands Prix bestritten hat und die Sicht des Rennfahrers einbringen kann. Tilke hält die beratenden Gespräche mit dem Schweizer für "sehr aufschlussreich", obwohl er auch selbst den Motorsportvirus in sich trägt und immer wieder hobbymäßig an Rennen teilnimmt.

Auf den Input der Rennfahrer legt Tilke großen Wert

"Das hilft schon", erklärt der Deutsche. Zwar ist er durch seine Rennerfahrung nicht zu einem besseren Architekten geworden, "aber wenn ich mich mit den Piloten über dies und jenes unterhalte, kann ich besser verstehen, was sie mit ihren Aussagen meinen." Dies ist insofern von Bedeutung, als Tilke eben nicht nur mit Surer zusammenarbeitet, sondern sich nach Möglichkeit auch mit Michael Schumacher und Co. an einen Tisch setzt.

Das 'Istanbul Otodrom' trägt allerdings nicht die Handschrift von Surer oder Schumacher, "weil es sich terminlich nicht ergeben hat, die beiden zu konsultieren", so Tilke. Dennoch ist am Ende eine aufregende Rennstrecke dabei herausgekommen - mit Fahrtrichtung gegen den Uhrzeigersinn, was die Nackenmuskulatur der Fahrer extrem beanspruchen wird, und mit mehreren Steigungen und Gefällen. Die Veranstalter sprechen schon jetzt von einer verbesserten Version von Spa.

Trotzdem wird es "immer Fahrer geben, die an einer Strecke etwas auszusetzen haben", weiß Tilke, "aber wenn sich Fahrer beschweren, kann man oft davon ausgehen, dass es eine gute Strecke ist. In Istanbul werden sie sich nicht leicht tun, keine Frage, denn die Strecke ist eine echte Herausforderung, mit langen Geraden und engen Kurven. Dieser Wechsel bedeutet Schwerstarbeit für die Fahrer und jede Menge Action für die Zuschauer."

Ziel ist, Fahrern und Teams Stolpersteine in den Weg zu legen

"Es muss immer eines der Ziele sein, so viele potenzielle Fehlerquellen wie möglich einzubauen, denn die Technik ist in der Formel 1 heute auf einem so hohen Niveau, dass es kaum noch Ausfälle gibt. Das gilt natürlich auch für die Fahrer, die immer professioneller werden und immer weniger Fehler machen", erklärt der Aachener. Um dennoch kleinere Missgeschicke zu provozieren und damit Überholmanöver zu erleichtern, soll der Schwierigkeitsgrad möglichst hoch gehalten werden.

Eines der ganz großen Highlights im Formel-1-Kalender bleibt aber weiterhin die natürliche Senke Eau Rouge in Spa, die sich vor den Rennfahrern auftürmt wie eine Betonmauer. Journalisten sehen dort Parallelen zu einer Achterbahnfahrt oder gar zum Flug in einem Starfighter - ein Ereignis, wie es kein Architekt der Welt planen kann. Oder doch? Angesichts der heutigen Sicherheitsstandards sind solch faszinierende Passagen wohl kaum noch machbar.

Die Faszination von Eau Rouge besteht zum Teil in der Enge und Überschaubarkeit der Kurve, aber auch darin, wie die Senke auf bewegten und stehenden Bildern rüberkommt. Tilke weiß, dass das bei modernen Strecken "in der Form nur noch schwer möglich ist, weil aufgrund der Sicherheitsvorschriften die Auslaufzonen wesentlich größer sein müssen. Dadurch wirkt alles weitläufiger. Aber es gibt auch auf modernen Strecken ähnlich aufregende Kurven."

Besondere 180-Grad-Kurve in Istanbul

Eine davon ist in Istanbul zu finden: "Eine 180-Grad-Kurve, die aus geraden Segmenten zusammengesetzt wurde, also keinen flüssigen Radius hat. Für den Fahrer ist es eine besondere Herausforderung, da die Ideallinie zu treffen. Schafft er es, kann er mit Vollgas durchfahren, trifft er sie nicht, verliert er Zeit, weil er ein paar Mal korrigieren muss", schwärmt der Stararchitekt, der früher übrigens Mülldeponien geplant hat.

Dass es in Szenekreisen inzwischen manchmal heißt, dass sich all seine Strecken ähneln wie ein Ei dem anderen, will er gar nicht erst kommentieren - und muss er auch nicht: Sepang bietet mit zwei einzigartigen Geraden mit die beste Überholmöglichkeit der Formel 1, die Rennstrecke in der Sakhir-Wüste von Bahrain ist ein architektonisches Meisterstück arabischer Bauart und Shanghai ist angelegt wie das Schriftzeichen "Shang", das so viel bedeutet wie Erfolg und Aufstieg.

Tilke ist der Philosoph unter den Rennstreckenarchitekten

Wenn Tilke beginnt, von der Philosophie zu sprechen, die hinter seinen Projekten steckt, bekommt er leuchtende Augen. Folglich ist es ihm auch ein großes Anliegen, dass die Kultur des jeweiligen Landes in irgendeiner Form integriert wird. Stichwort: "Man soll ruhig wissen, dass man in der Türkei ist." Und: "Wir haben auf orientalische Elemente zurückgegriffen, die man in der Türkei, die auch von der Architektur her ein moderner Staat geworden ist, sonst nicht mehr so häufig sieht."

Begonnen hat der heutige "Herr der Ringe" 1984 mit seiner eigenen Firma. Irgendwann nahm er einen Auftrag für kleinere Umbauten am Nürburgring an, aus denen dann immer größere Aufträge und schließlich komplette Rennstrecken wurden. Heute ist er der heimliche Motor hinter der Globalisierung der Formel 1 - und dennoch ein unverändert sympathischer Kerl wie vor 20 Jahren. Ist der Chef am Handy mal nicht erreichbar, kann es durchaus passieren, dass er selbst zurückruft und nicht erst eine Sekretärin zwischenschaltet.

In einem Interview mit der 'Zeit' erklärte er vor zwei Jahren, dass er beim Einstellen von jungen Ingenieuren vor allem darauf achtet, dass jemand "kein Arschloch" ist: "Sonst macht das alles ja keinen Spaß!" Auch in Formel-1-Kreisen wird er wegen seiner Bodenständigkeit und wegen seiner "No-Bullshit-Mentalität" geschätzt. Soll heißen: Tilke verzichtet auf unnötige Bürokratie, redet Klartext und packt etwaige Probleme so an, wie man sie anpacken muss, ohne dabei Höflichkeit zu opfern.

Ein Großstadtprojekt würde Tilkes Lebenswerk krönen

Doch genau wie seinerzeit bei den Mülldeponien wird irgendwann auch bei den Rennstrecken einmal der Tag kommen, an dem der Markt gesättigt ist. Einen großen Traum hat der 50-Jährige jedoch noch: Einen Grand Prix in einer Weltstadt, am besten New York, London oder Wien - und da "natürlich in der Innenstadt, denn aus Machbarkeitsgründen kann es vielleicht notwendig sein, in andere Gebiete zu gehen, aber dann geht möglicherweise auch der Reiz des Ganzen verloren."

Vor vier Jahren schnupperte Tilke schon einmal an einem solchen Projekt, als er mit seinem Team eine Machbarkeitsstudie für einen Grand Prix im amerikanischen Spielerparadies Las Vegas anstellte. Die Idee wurde damals aber fallen gelassen, ehe sie dieses Jahr wieder ins Gespräch kam. Dennoch: Mit einem zweiten Monaco - nur größer, besser und spektakulärer als das Original - würde sich der "Herr der Ringe" wohl endgültig die Krone aufsetzen...