Hembery: Von Testerwartungen und Topteam-Geheimnissen
Exklusiv-Interview mit Pirelli-Sportchef Paul Hembery: Wie die Testphase bisher verlief, was an Arbeit ansteht und warum die Topteams lieber tuscheln
(Motorsport-Total.com) - Rund 7.000 Kilometer hat Pirelli im aktuellen Testprogramm auf verschiedenen Strecken bislang absolviert. Nick Heidfeld, Pedro de la Rosa und Romain Grosjean absolvierten die Probefahrten für den neuen Formel-1-Reifenlieferanten in einem Vorjahres-Toyota. In der kommenden Woche geht es auf die künstlich bewässerte Strecke von Paul Ricard, anschließend werden die Teams nach dem Saisonfinale in Abu Dhabi erstmals Pirellis aufschnallen. Sportchef Paul Hembery berichtet im Interview von Fortschritten und Erwartungen.

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Pirelli-Sportchef Paul Hembery betrachtet den Einstieg als großes Abenteuer
Frage: "Paul, wie bist du mit den bisherigen Tests zufrieden?"
Paul Hembery: "Man mag den Eindruck haben, dass ich natürlich voreingenommen wäre und auch bei Problemen positiv reden würde, aber: Die Eindrücke waren wirklich sehr, sehr gut. Wir hatten keinerlei Probleme, hatten keine Ausfälle - nicht einen einzigen. Dabei haben wir jetzt schon 7.000 Kilometer abgespult."
"Wir hatten nun schon mehrere verschiedene Formel-1-Piloten im Einsatz und alle haben unisono gesagt, dass wir fahren könnten, wenn es morgen ein Rennen geben würde. Ich sage damit nicht, dass unsere Lernphase abgeschlossen ist, denn das wäre völlig falsch - wir werden noch viel mehr lernen. Aber wir haben die harte, die mittelweiche und die weiche Mischung schon aussortiert. Bezüglich der Reifenstruktur müssen wir bei unserem letzten Test noch an den hinteren Pneus arbeiten."
"Man muss zwischen vorne und hinten die passende Balance finden. Aus Sicht der Fahrer ist entweder immer die Front zu schwach, oder das Heck ist zu stark - oder umgekehrt. Das stimmt sicherlich auch. Wenn du den einen Reifen verbesserst, dann verschiebt es sich. Da muss man die passende Balance finden, obwohl man sich im Grunde im Kreis dreht. Wir sind mit der Arbeit an den Hinterreifen zufrieden. In zehn Tagen schauen wir weiter."
Frage: "Wie nah ist man jetzt schon am endgültigen Pneu für 2011?"
Hembery: "Wir werden den Reifen auch während der Saison noch weiter entwickeln. Das haben wir den Teams so vorgeschlagen, denn man muss davon ausgehen, dass wir auch nach unserer Testphase noch viel lernen werden. Es wird wohl so sein, dass wir irgendwann zur Mitte der Saison beispielsweise man im Freien Training am Freitag einen Test neuer Mischungen durchführen."
"Wir wollen nicht zu konservativ herangehen. Aber für uns ist es ein gewisser Schritt ins Ungewisse. Wir können nicht sofort zu Beginn die Maximalleistung erwarten, aber wir werden daran arbeiten, denn wir wollen vorankommen. Wir werden definitiv nicht mit einem Reifen in die Saison gehen, es dann komplett so durchziehen und es anschließend einfach abhaken."
"Wer werden parallel zur Saison - wahrscheinlich mit dem Toyota - ein Entwicklungsprogramm abspulen, wo wir uns neue Technologien und Materialien genauer anschauen. Einige dieser neuen Dinge wird man dann hoffentlich an Formel-1-Wochenenden auch mal auf der Strecke sehen, alles weitere nehmen wir als Hintergrundwissen mit."
Frage: "Wie nahe werden die Reifen für den Test in Abu Dhabi an den anfänglichen Reifen für die kommende Saison sein?"
Hembery: "Wir haben nach dem Abu-Dhabi-Test nur noch einmal weitere Probefahrten. Mitte Dezember gehen wir für vier Tage nach Bahrain. Das wird unser letzter Prüfstein sein. Wir werden dort mit einem Auto und zwei Fahrern - wahrscheinlich Pedro de la Rosa und Romain Grosjean - fahren. Es wird unsere letzte Entwicklungschance vor dem Start in die Wintertests, die am 3. Februar beginnen."
Frage: "Wie läuft die Zusammenarbeit mit Toyota?"
Hembery: "Brillant. Es ist toll organisiert, sehr professionell und sie versorgen uns mit allen Daten vom Auto, die wir brauchen. Diese Zusammenarbeit hat uns erst eine solch schnelle Entwicklung ermöglicht. Man muss bedenken, dass dieses Projekt erst vor drei Monaten gestartet ist. Ich glaube, es gibt nicht viele Firmen, die innerhalb von drei Monaten einen Formel-1-Reifen entwickeln können. Wir mussten uns dabei voll auf die Qualität von Fahrern und Fahrzeug verlassen. Wir hatten eine gute Basis."
Frage: "Wo steht ihr leistungsmäßig im Vergleich zu den aktuellen Bridgestone-Reifen?"
Hembery: "Das ist schwierig zu sagen, weil wir mit einem ein Jahr alten Auto fahren. Wir haben versucht, die Gewichtsverteilung den aktuellen Autos anzupassen. Aber wir wissen nicht genau, wo die aktuellen Autos bezüglich Aerodynamik im Vergleich stehen. Wir sind immer mit 80 Kilogramm Benzin unterwegs, also mit einem recht vollen Auto. Aber das ist nicht ganz so schwer, wie die aktuellen Autos bei einem Rennstart."
"Uns war klar, dass einige Teams mit den schmaleren Vorderreifen dieser Saison etwas Probleme hatten. Wir mussten den vorderen Pneu also etwas robuster gestalten. Die Frage ist allerdings immer noch, wie sich die nächstjährigen Fahrzeuge verhalten werden. Es gibt einige ungewisse Faktoren, aber wir probieren es in Abu Dhabi an den diesjährigen Autos mal aus."
"Bezüglich der Mischungen gab es Probleme mit Graining. Daher baten uns die Teams, genau darauf besonders zu achten. Vor allem beim Test in Paul Ricard stand das im Fokus. Bislang konnten wir noch nicht bei wirklicher Hitze testen. Daher werden die Probefahrten in Abu Dhabi und Bahrain für uns so wichtig. Dort wird es wohl recht warm sein. Leider waren auch nicht immer viele Strecken verfügbar. Irgendwie komisch: Alle reden von Rezession und alle Strecken sind immer ausgebucht."
Frage: "Habt ihr eigene Testmöglichkeiten?"
Hembery: "Wir haben eine kleine Teststrecke. Aber die ist eher für Straßenfahrzeuge geeignet, ein Formel-1-Auto kann man dort nicht fahren."
Frage: "Was konnten ihr bezüglich der Vorbereitung auf regnerische Wetterverhältnisse tun?"
Hembery: "Am Montag und Dienstag fahren wir wieder in Paul Ricard. Aber die Formel 1 ist einzigartig, es spielen so viele Faktoren hinein. Man kann den klassischen Regen bei 15 Grad in Silverstone oder Spa haben, oder es regnet bei 30 Grad in Malaysia. Das bedeutet, dass das Arbeitsfenster von Regenreifen enorm groß sein muss. So etwas kann man kaum simulieren, aber wir packen das. Wenn es einen Bereich gibt, an dem wir noch arbeiten müssen, dann ist es aber der."

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Nick Heidfeld fuhr die ersten Tests mit den neuen Pirelli-Reifen Zoom
Frage: "Habt ihr die Asphaltbeschaffenheit verschiedener Kurse chemisch analysiert?"
Hembery: "Wir haben Asphaltproben einiger Strecken, einige davon von Rennveranstaltungen, die wir selbst dort miterlebt haben. Das ist etwas, was wir im kommenden Jahr als Lernprozess fortführen müssen. Wir müssen Laseranalysen machen, um mehr Informationen zu bekommen. Was wir bisher nicht wissen ist, wie sich die Strecke im Verlauf des Rennwochenendes verändert."
"Man kennt das doch aus der Formel 1. Manchmal gibt es Situationen, wo einer am Freitag richtig schnell ist und am Samstag läuft es trotz des gleichen Setups überhaupt nicht mehr. Das sind die Geheimnisse des Motorsports. Was passiert dort über Nacht? Das hat mit Temperaturen, Luftfeuchtigkeit und den Mischungen zu tun, die dort als Gummiabrieb auf der Strecke sind. Es gibt da viele Variablen. Wir müssen diesbezüglich noch lernen."
Frage: "Wie viele Mischungen und Reifensätze bekommen die Piloten beim Test in Abu Dhabi?"
Hembery: "Es gibt vier Reifensätze pro Tag, bestehend aus der weichen und der mittleren Mischung. Vielleicht probieren wir auch die harten Reifen noch aus. Die Teams entscheiden selbst, wie und wann sie welchen Reifen einsetzen. Was wir erwarten? Unterschiedliche Reaktionen. Einige werden 'fantastisch' sagen, andere werden sagen, dass sie die Reifen nicht zum Arbeiten bringen. Andere wiederum werden noch kein konkretes Gefühl haben."
"Die Strecke wird zuvor mit den Reifen der Konkurrenz vier oder fünf Tage lang befahren. Es liegt dort also eine Schicht einer ganz anderen Gummimischung auf der Bahn. Aus Herstellersicht hätte man es in einem solchen Fall am liebsten, wenn die Strecke vorher komplett gründlich einen Tag lang gereinigt würde. Am zweiten Tag würde man dann zwischen einer und 1,5 Sekunden zulegen können. Allein nur dadurch, dass die eigene Reifenmischung auf der Strecke liegt."
Frage: "Werdet ihr die Reifen für die ersten Rennen per Seefracht transportieren? Wann müssten die dann verschifft werden?"
Hembery: "Nein. Die ersten fünf oder sechs Rennen der Saison werden die Lieferungen per Luftfracht erfolgen, damit wir möglichst viel Zeit für etwaige Entwicklungen bekommen. Wir haben vor dem Saisonstart eine intensive Testphase von vier Wochen, und ich kann mir einfach kaum vorstellen, dass wir nicht vor dem ersten Rennen noch wichtige Dinge hinzulernen, sodass wir womöglich keine Änderungen vornehmen müssen."
"Die Teams müssen damit klarkommen, was nicht ganz einfach ist. Denen wären konstante Mischungen lieber. Darüber müssen wir diskutieren, denn wir würden notwendige Anpassungen gern kurzfristig vornehmen. Die sich verändernden Reifen könnten auch interessant sein. Manch ein Teamchef könnte darauf hoffen, wobei die Technikchefs das stets anders sehen. Die hätten lieber einen Reifen, der immer konstant gleich reagiert."
Frage: "In Bahrain hatten wir in diesem Jahr eine vorsichtige Reifenwahl und ein langweiliges Rennen, in Montréal gab es ausgefallenere Reifenwahl und mehr Spannung. Wie werdet ihr es angehen?"
Hembery: "Wir wollen eine aggressive Herangehensweise an den Tag legen. Seit wir mit der Formel 1 und der GP2 zusammenarbeiten ist klar, dass man sich eine aggressive Herangehensweise von unserer Seite wünscht."
"Aus Herstellersicht würde man lieber konservativ agieren, damit niemand über den enormen Reifenverschleiß spricht und berichtet. Aus sportlicher Sicht und im Sinne der Show muss man allerdings dafür sorgen, dass diese Reifen regelrecht zerfallen. Im Moment ist es so, dass man einen aggressiven und einen konservativen Reifen bekommt. Das führt letztlich nur dazu, dass alle die gleiche Reifenstrategie wählen."
"Wenn du zwei Reifenmischungen bringst, die beide aggressiv sind, dann müssen sich Teams und Fahrer Gedanken darüber machen, wann und wie sie diese Mischungen einsetzen. Das haben wir in diesem Jahr in Kanada erlebt. Aber die Teams und Fahrer müssen das auch akzeptieren lernen. Wir wollen nicht, dass sich jemand später hinstellt und behauptet, die Reifen seien Mist. Dann würden wir eben wieder die andere Variante wählen und ihnen Pneus liefern, die 50 Runden halten. Das können wir auch."
Frage: "Ist diese Nachricht auch bei den Fahrern und Teams schon angekommen?"
Hembery: "Das werden wir im Februar klären. Dann sehen wir, wo wir stehen und alle können entscheiden, wie weit wir gehen wollen. Das liegt dann in deren Hand. Wir wollen den Show-Faktor in der Formel 1 gern unterstützen. Wir wissen, dass wir diesbezüglich eine Rolle spielen könnten."
Frage: "Ihr habt von Anfang an klargestellt, dass alle Teams gleich behandelt werden und ihr niemanden bevorzugt. Die Teamvereinigung FOTA hat dafür gesorgt, dass stets alle Daten ausgetauscht werden. Wie läuft das von eurer Seite?"
Hembery: "Wir haben die FOTA gefragt, wie wir das angehen sollen. Es lief darauf hinaus, dass die Topteams uns gern exklusiv um Informationen bitten wollten. Nicht, weil sie sich daraus einen Vorteil erhoffen - bei uns kann jedes Team jederzeit alle Informationen erfragen -, sondern weil sie verhindern wollen, dass die Anfragen öffentlich werden. Sie befürchten, dass sie durch ihre Fragen ein gewisses Know-how an kleinere Teams verlieren könnten."
"Letztlich haben wir zu den Teams gesagt, dass sie das entscheiden sollen, und wir uns anschließend danach richten. Also ob jemand nun eine Anfrage stellt und die Antwort geht an alle, oder ab es eine Arbeit auf exklusiver Basis gibt. Sie haben sich letztlich dafür entschieden, es offen für alle zu gestalten. Das macht es für uns einfacher. Die Topteams fragen nun ihre speziellen Fragen nicht, sondern testen vielleicht selbst einige Dinge aus. Sollen sie sich eigene Testmaschinen kaufen, wenn sie wollen. Ich finde das zwar in gewisser Weise dumm, aber wenn die Teams das so wollen, dann müssen sie es tun."
Frage: "Wie fühlst du dich persönlich vor dem Einstieg?"
Hembery: "Wünscht uns alle Glück (lacht). Das ist für uns ein großes Abenteuer. Wir wollen Hightech in der Formel 1 präsentieren, wollen dies aber mit einem Lächeln tun. Wir wollen uns jederzeit offen präsentieren, wollen zur guten Show in der Formel 1 beitragen. Außerdem wollen wir langfristig dabei sein. Das ist jetzt alles erst der Anfang..."

