Ex-Ferrari-Renningenieur stellt Ferraris Strategie in Frage

Ex-Ferrari-Renningenieur Robert Smedley kann nicht verstehen, warum Sebastian Vettel bereits in der elften Runde zum Reifenwechsel gekommen ist

(Motorsport-Total.com) - Sebastian Vettel lag beim Grand Prix von Kanada in Montreal in Führung und konnte in den ersten elf Runden sogar stets einen Puffer von mindestens einer Sekunde auf Lewis Hamilton verteidigen. Das war wegen des sonst möglichen DRS-Einsatzes wichtig. Aber in der elften Runde rief Ferrari beide Autos an die Box, um von der virtuellen Safety-Car-Phase zu profitieren.

Titel-Bild zur News: Robert Smedley

Robert Smedley war früher Renningenieur von Felipe Massa bei Ferrari Zoom

Beim ehemaligen Ferrari-Renningenieur Robert Smedley, inzwischen Leiter Fahrwerk-Performance bei Williams, ruft diese Entscheidung Verwunderung hervor: "Ich hätte nicht damit gerechnet, dass Sebastian reinkommt. Im ersten Moment dachte ich, dass er sich für einen sehr frühen Stopp entschieden hatte, um bis zum Ende durchzufahren. Als ich dann sah, dass sie die Supersofts draufpackten, war ich ziemlich überrascht."

Denn damit war klar, dass Vettel noch einmal reinkommen muss, und letztendlich kostete ihn das die Chance auf den Sieg, weil Hamilton direkt von Ultrasoft auf Soft wechselte und sich den Zwischenstint auf Supersoft sparte. Für Williams kam ein Boxenstopp während der Gelbphase nicht in Frage: Bei den Longruns am Freitag hatte sich gezeigt, dass die Soft-Reifen "mindestens 50 Runden" schaffen können. Somit war ein Safety-Car-Boxenstopp vor Runde 20 zu riskant.

Ferrari hatte außerdem noch das Pech, dass das Rennen just in dem Moment wieder freigegeben wurde, in dem Vettel beim Reifenwechsel stand. Dabei funktionierte der Grundgedanke: Im Vergleich zu einem regulären Boxenstopp büßte Vettel um fünf Sekunden weniger ein, weil die anderen nur mit gedrosselter Geschwindigkeit fahren durften, während er stand. Aber weil Hamilton einmal weniger Reifen wechseln musste, war das nicht genug.


Nico Rosberg nach dem Grand Prix von Kanada

"Als Sebastian auf der Gegengeraden fuhr, sah ich, dass das virtuelle Safety-Car schon zu Ende ging", sagt Smedley und wundert sich über die Ferrari-Entscheidung: "Manchmal musst du halt ein bisschen Erfahrung und Wissen einsetzen. Solange sie den Zwischenfall im TV zeigen, kannst du ja ungefähr abschätzen, wie lange die Phase dauern wird und ob man von einem verringerten Boxenstopp-Verlust profitieren würde oder nicht."

Falsch eingeschätzt hat Ferrari auch die maximale Lebensdauer der Soft-Pirellis. Hamilton schaffte damit 46 Runden. Weil der Soft für hohe Temperaturen ausgelegt ist, der Asphalt gestern in Montreal aber nur gut 20 Grad Celsius warm war, war die thermische Belastung gering. "Und Montreal ist generell eine Niedrigenergiestrecke", erklärt Smedley. Da sind kleine Beschädigungen der Reifenoberfläche, die zu schnellerem Verschleiß führen, minimal.

Interessantes Detail am Rande: Williams-Pilot Valtteri Bottas setzte ebenfalls auf die Hamilton-Strategie, hatte am Ende sogar 47 Runden (Hamilton: 46) darauf zurückgelegt. "Und Valtteris Reifen waren nach dem Rennen immer noch in einem Zustand, mit dem sie mindestens zehn weitere Runden gehalten hätten", erklärt Smedley. Sprich: Vettels Poker hätte dann aufgehen können, wenn er gleich auf Soft gewechselt hätte und durchgefahren wäre. Rein theoretisch.