• 28.10.2014 18:41

  • von Gary Anderson (Haymarket)

"Eine Frage, Mister Anderson": Ein Experte erklärt die Technik

Gary Anderson beantwortet Fragen zur Finanzlage in der Formel 1, zur Rückkehr der Tankstopps und zum schlechtesten Fahrer, mit dem er arbeiten musste

(Motorsport-Total.com) - Caterham und Marussia werden am Wochenende beim Grand Prix der USA in Austin nicht mit von der Partie sein. In beiden Fällen sind finanzielle Probleme der Grund. Fährt die Formel 1 mit Vollgas in eine Krise? Gary Anderson - früher Chefmechaniker bei McLaren, Chefdesigner bei Jordan, Stewart sowie Jaguar und heute TV-Experte bei der 'BBC' - antwortet auf diese und andere Fragen, die den Formel-1-Fans gerade unter den Nägeln brennen. So zum Beispiel die Fragen, ob es bald wieder Tankstopps geben wird, ob Caterham in Sotschi fahrlässig gehandelt hat oder wer der schlechteste Fahrer war, mit dem er zusammenarbeiten musste.

Titel-Bild zur News: Gary Anderson

Gary Anderson würde sich von den Teams etwas mehr Weitsicht wünschen Zoom

James Negus (Facebook): "Wie viele Autos können wir in der Saison 2015 in der Startaufstellung erwarten?"
Gary Anderson: "James, seit der Weltwirtschaftskrise von 2008 will man in der Formel 1 nichts von finanziellen Problemen wissen. In all den Jahren, die ich im Umfeld der Formel 1 verbracht habe, beobachtete ich stets einen zeitlichen Versatz zwischen einer Finanzkrise und den Auswirkungen einer solchen auf die Formel 1. Das liegt zum einen daran, dass viele Sponsorenverträge langfristig ausgelegt sind. Zum anderen liegt es daran, dass viele der großen Unternehmen die Krise umschiffen wollen, indem sie weiter die Werbetrommel rühren. Früher oder später werden aber alle von der Realität der Wirtschaft eingeholt. Wenn dieser Punkt erreicht ist, dann werden die Budgets der Teams kleiner oder die Teams verschwinden komplett."

"Nehmen wir als Beispiel einmal McLaren - ein Team, das in der gesamten bisherigen Saison ohne Titelsponsor auskommen musste. Hätte man dort nicht in den vergangenen Jahren entsprechende Finanzen angesammelt, auf die man in diesem Jahr zurückgreifen konnte, dann dürfte McLaren jetzt in ähnlichen Schwierigkeiten stecken wie Caterham oder Marussia. Anhand dessen, was ich so höre, stehen drei weitere Teams nicht viel besser da als Caterham und Marussia. Das heißt, dass es bei fünf von elf Teams erhebliche Fragezeichen bezüglich der Finanzierung gibt. Im schlimmsten Fall hätten wir dann nur noch zehn Autos im Starterfeld. Das wiederum würde bedeuten, dass die Formel 1 in ihrer uns allen bekannten Form Geschichte wäre."

"Es muss etwas unternommen werden, damit die Teams zusammenarbeiten können. Das bedeutet, die Werksteams müssen den kleineren Teams Autos, Motoren und Sponsorengelder zur Verfügung stellen. Wenn es soweit kommt, müsste es zwei getrennte Wertungen innerhalb eines Rennens geben. Im Grunde beobachten wir dieses Szenario ja schon jetzt. Es müsste nur noch im Reglement festgehalten werden."

@LesRosbifs (Twitter): "Ist es realistisch, dass die Formel 1 zu Ein-Wagen-Teams, wie es sie in den 1970er- und 1980er-Jahren gab, zurückkehrt?"
Anderson: "Ich glaube nicht, dass sich ein Ein-Wagen-Team finanziell rechnet. Es ist ja nicht so, dass die Kosten dadurch halbiert würden. Unterm Strich ist es für ein Team hinsichtlich der Finanzen deutlich effizienter, zwei Autos einzusetzen. Man muss sich nur einmal die Kosten vor Augen führen, die anfallen, um ein Formel-1-Auto zu betreiben. Das sind enorme Summen. An einem Rennwochenende legt jedes Auto rund 750 Kilometer zurück. Ein Zwei-Wagen-Team kommt somit auf 1.500 Kilometer. Hochgerechnet auf 19 Rennen in einer Saison macht das 28.500 Kilometer. Nimmt man die Wintertestfahrten mit rund 7.000 Kilometern dazu, dann kommt man für ein Team auf eine Gesamtlaufleistung von 34.500 Kilometern im Jahr."

Nico Rosberg, Lewis Hamilton

Fährt die Formel 1 mit Vollgas auf eine ernsthafte Krise zu? Zoom

"Ein kleines Budget bewegt sich in der Formel 1 in der Größenordnung von knapp unter 80 Millionen Britischer Pfund (umgerechnet rund 100 Millionen Euro). Teilt man diese Summe durch die Kilometer, dann kommt man auf Kosten von 2.318 Britischer Pfund (knapp 3.000 Euro) pro Kilometer. Ein großes Budget ist im Bereich von 200 Millionen Britischer Pfund (gut 250 Millionen Euro) angesiedelt. Hier sprechen wir also schon von Kosten in Höhe von 5.797 Britischen Pfund (rund 7.350 Euro; Anm. d. Red.) pro Kilometer. Beide Zahlen sind absurd. Daher ist es notwendig, diese Zahlen sofort mit entsprechenden Maßnahmen nach unten zu korrigieren."

Rückkehr der Tankstopps unwahrscheinlich

Dave Fontana (Facebook): "Warum hat kein anderes Team versucht, Teile des in dieser Saison so erfolgreichen Mercedes zu kopieren? Ich denke da zum Beispiel an die Nase des Autos, die für einen besseren Luftstrom zwischen den Vorderrädern sorgt."
Anderson: "Dave, die Performance eines Autos ist nicht auf ein einzelnes Bauteil zurückzuführen. Es geht darum, das Konzept eines Autos als Ganzes funktionieren zu lassen. Ich bin mir sicher, dass sich viele Teams das Mercedes-Konzept genauer angesehen haben. Vermutlich kamen sie zum Schluss, dass es verglichen mit dem eigenen Konzept bezogen auf die aerodynamischen Werte sehr ähnlich, wenn nicht sogar von Nachteil ist."

"Fortschritte sind nur dann zu erzielen, wenn es gelingt, das auf dieser Nase basierende Gesamtkonzept zu verbessern. Dieses Vorhaben bräuchte aber sehr viel Zeit und wäre sehr teuer. Schließlich müsste die komplette Aerodynamik des Autos neu gestaltet werden. Jeder, der behauptet, dass die Nase eine weniger gewichtige Rolle spielt als andere aerodynamische Bauteile am Auto, der redet Blödsinn. Aber: Nur eine andere Nase allein hat lediglich zur Folge, dass der Rest des aerodynamischen Konzepts nicht auf die Nase zugeschnitten ist."

Aleksandar Bilbilov (Twitter): "Meiner Ansicht nach würde die Variable Fahrzeuggewicht für spannendere Rennen sorgen. Daher meine Frage: Ist eine Rückkehr des Nachtankens realistisch?"
Anderson: "Die Formel 1 scheint sich in Zyklen zu bewegen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in absehbarer Zeit wieder Tankstopps während der Rennen erleben werden. Es gibt viele Möglichkeiten, wie man die Spannung in der Formel 1 erhöhen kann. Das Problem ist, dass sich die höheren Mächte immer vor Schnellschüssen drücken."

Tankstopps während der Rennen sieht Anderson bis auf Weiters nicht kommen Zoom

"Eines kann ich versichern: So wie die Formel 1 im Moment aufgestellt ist, wird es niemals zur einer übers Knie gebrochenen Regeländerung kommen. Ich habe im Laufe der Jahre viele Veränderungen miterlebt und muss sagen, Bernie, die Formel 1 braucht dich. Das, was Bernie geschafft hat, hätte kein anderer geschafft. Wir befinden uns gegenwärtig an einem kritischen Punkt. Wenn die Teams nur ein bisschen Verstand haben, dann stellen sie sich hinter Bernie."

"Neue" Formel 1: Kritik in Richtung der Hersteller

@u_cyborg (Twitter): "Ist es den Motorenherstellern gemäß aktuellem Reglement erlaubt, jedes Teil des Antriebsstrangs auszutauschen?"
Anderson: "Ich gehe davon aus, dass du auf Veränderungen beim Design einzelner Bauteile ansprichst. Da lautet die klare Antwort: Nein. Von Saison zu Saison darf ein gewisser Prozentsatz neu gestaltet werden. Das Ganze ist recht kompliziert. Es gibt eine Liste der Teile, die verändert werden dürfen. Teile, die auf die Gesamtperformance einen größeren Einfluss haben, werden in dieser Liste höher gewichtet als andere."

"Das ganze finanzielle Dilemma, in dem sich die Formel 1 derzeit befindet, ist auf die Einführung der komplett neuen Antriebsstränge zur Saison 2014 zurückzuführen. Diese Regeländerung kam zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Mercedes und Renault wollten eine neue Herausforderung, Ferrari war es egal. Die Konsequenz des Ganzen ist, dass es die kleinen Teams sind, die darunter leiden. Für sie besteht die einzige Möglichkeit, einen Antriebsstrang zu bekommen darin, viel Geld auf den Tisch zu legen."

"Viele Leute, darunter auch Bernie, regten an, dass die Einführung der neuen Motoren verschoben werden solle. Doch die höheren Mächte wollten davon nichts wissen. Als Konsequenz dieser dummen Entscheidung stehen jetzt viele Leute kurz davor, ihren Job zu verlieren. Ich stelle immer wieder dieselbe Frage: Was wäre so falsch daran gewesen, einfach die 2013er-Motoren auf maximal 16.000 Umdrehungen pro Minute zu begrenzen, die KERS-Leistung zu verdoppeln und die Anzahl der pro Saison erlaubten Motoren auf sechs zu beschränken? Dann hätten wir noch immer den Sound, den wir alle so lieben und wir hätten gleichzeitig eine etwas 'grünere' Formel 1. Viel wichtiger aber: Wir hätten die Kosten reduziert, weil weniger Motoren pro Saison eingesetzt werden dürfen. Stattdessen hat man die Kosten dank der neuen Antriebsstränge auf das Drei- oder Vierfache angehoben."

@OscarFV21 (Twitter): "Toro Rossos nächstjähriger Stammfahrer Max Verstappen meint, dass die mentale Komponente in der Formel 1 überbewertet wird. Er sprach in diesem Zusammenhang von 'Blödsinn'. Was hältst du von dieser Aussage?"
Anderson: "Mentale Stärke soll Blödsinn sein? Das sehe ich nicht so. Meiner Meinung nach war Michael Schumacher der Erste, der gezeigt hat, wie wichtig der Aspekt der mentalen Stärke und der mentalen Fitness ist. Sicher, schon vor Michael gab es viele Fahrer, die im Kopf sehr stark waren. Michael aber nutzte den Kopf als ein Werkzeug, um Rennen zu gewinnen. Wenn es möglich war, dann versuchte er die Rennen auf eine Art und Weise zu gewinnen, dass sich andere Fahrer fragten, wie um alles in der Welt das nur möglich war."


Fotostrecke: So funktioniert ERS

"Mentale Stärke besteht darin, dass man die Dinge nicht an sich heran lässt. Es ist so einfach, aufzugeben und keine Lösung für ein Problem zu finden. Die Rennen sind lang und es wenn es eine Möglichkeit gibt, sich auf ein Problem einzustellen, dann müssen die anderen erst einmal zeigen, dass sie mit diesem Problem ebenso fertig werden. Ich habe immer gesagt, dass sich Michael besser als andere Fahrer auf das Auto einstellen konnte, das er am Sonntag um 14:00 Uhr vorfand. Auf diese Fähigkeit ist ein Großteil seiner Erfolge zurückzuführen. Als Beispiel möchte ich das Rennen in Barcelona nennen, in dem sein Benetton von einem Getriebeproblem heimgesucht wurde (1994; Anm. d. Red.). Das Getriebe steckte im fünften Gang fest. Doch schon nach wenigen Runden fuhr er ähnliche Rundenzeiten wie vorher und wurde schließlich Zweiter. Ich habe hinterher erfahren, wie sich Damon Hill so sehr den Kopf darüber zerbrach, dass er beim nächsten Williams-Test bewusst so gefahren ist, um herauszufinden, ob er das Gleiche vollbringen kann, was Michael vollbrachte."

Liam O'Rourke (Twitter): "Was sagst du dazu, dass man bei Caterham in Sotschi einen gebrochenen Querlenker notdürftig zusammengeflickt hat - kreuzgefährlich oder nachvollziehbar?"
Anderson: "Ich kenne nicht alle Einzelheiten dieser Reparatur, kann mir aber nicht vorstellen, dass man tatsächlich versucht hat, einen gebrochenen Querlenker zu reparieren anstatt auszutauschen. Wenn es tatsächlich so gewesen ist, weil man keine Ersatzteile hatte, dann wäre das schon sehr fragwürdig. Ich glaube nicht, dass es tragbar ist, das Leben des Fahrers in solche Gefahr zu bringen."

Kamui Kobayashi

Anderson kann sich nicht vorstellen, dass Caterham in Sotschi fahrlässig handelte Zoom

"Ich glaube vielmehr, dass es einen Bruch des Querlenkers gab. Daraufhin hat man den Fehler erkannt und bei den anderen Querlenkern nachgebessert, um das Risiko eines weiteren Schadens auszuschließen. Wenn es so war, dann wurde auf eine gegebene Situation reagiert. Genau darum geht es doch, wenn man eine Gruppe intelligenter Ingenieure um sich herum weiß."

"Ich war früher selbst in dieser Situation. Wenn es so spät in der Saison einen derartigen Defekt gibt, dann handelt sich normalerweise um einen Fehler beim Zusammenbau des Autos. Solange die Qualitätskontrolle stimmt und sichergestellt ist, dass der Fehler kein zweites Mal vorkommt, ist es nachvollziehbar und vollkommen akzeptabel."

Daniel Smith (E-Mail): "Du hast oft über die besten Fahrer gesprochen, mit denen du im Verlauf deiner Laufbahn zusammenarbeiten durftest. Wer aber war der schlechteste Fahrer, mit dem du arbeiten musstest und warum?"
Anderson: "Es tu mir leid, aber diese Frage kann ich nicht beantworten, weil die Fahrer, die ich nennen würde, noch immer bei einigen der Rennen vor Ort sind. Ich will es einmal so formulieren: Ich bin ein Fan der jungen, hungrigen Fahrer. Ich mag es, wenn ein Fahrer auf die Strecke geht und das Auto so richtig ausquetscht, um eine gute Rundenzeit zu erzielen. Die alteingesessenen Profis, die alles wissen, bringen mich nicht in Verzückung."

Folgen Sie uns!

Folge uns auf Facebook

Werde jetzt Teil der großen Community von Motorsport-Total.com auf Facebook, diskutiere mit tausenden Fans über den Motorsport und bleibe auf dem Laufenden!